Hanns-Josef Ortheil: Der Stift und das Papier

  • Hanns-Josef Ortheil: Der Stift und das Papier
    btb Verlag 2017 384 Seiten
    ISBN-10: 3442715296
    ISBN-13: 978-3442715299, 12€


    Verlagstext
    Seit dem achten Lebensjahr erhielt Hanns-Josef Ortheil von seinen Eltern Schreib- und Sprachunterricht. Sie hatten Angst, dass er Sprechen und Schreiben – nach Jahren des Stummseins – nicht mehr richtig lernen würde. Die »Schreibschule« der Eltern folgte keinen Lehrbüchern oder sonstigen Vorlagen. Sie entstand Tag für Tag spontan aus dem Bild- und Sprachmaterial, das die nahen Umgebungen anboten. Mit den Jahren übernahm der Junge selbst die Regie. Schon bald erschienen seine ersten Kindertexte dann auch in Zeitungen und Zeitschriften. Ein sehr ungewöhnlicher Autor war geboren: „Das Kind, das schreibt.“


    Der Autor
    Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden, darunter dem Thomas-Mann-Preis der Hansestadt Lübeck und zuletzt dem Stefan-Andres-Preis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.


    Inhalt
    In Die Erfindung des Lebens erzählt Hanns-Josef Ortheil von seiner ungewöhnlichen Kindheit. Weil seine Mutter nach dem Tod von vier Söhnen aufhört zu sprechen, spricht auch der kleine Romanheld „Johannes“ nicht. In der Schule wird er für zurückgeblieben gehalten, weil sich Lehrer damals kaum um einzelne Schüler kümmerten. Als Johannes die Versetzung in die Sonderschule droht, beschließt sein Vater ein sehr persönliches Förderprogramm. Er fährt mit dem Jungen in sein Elternhaus im Westerwald, das noch immer von seiner vielköpfigen Familie bewirtschaftet und bewohnt wird. Mit dem Mittel des Zeichnens lehrt er in dem quirligen Alltag des Bauern- und Gasthofs seinen Sohn das Sprechen und bald auch das Schreiben.


    An diesem Punkt setzt „Der Stift und das Papier“ ein und beschreibt aus der Perspektive des Kindes minutiös, wie der Vater als Lehrmethode sein vermutlich vom Beruf des Vermessungsingenieurs geprägtes System anwendet, Informationen niederzuschreiben und zu ordnen. Auch dieser Band hat mich wieder damit verblüfft, wie Vater Ortheil als pädagogisches Naturtalent phantasievoll und entschieden sein Förderprogramm umsetzte. Verknüpft mit der väterlichen Wochenendhütte als besonderem Schreib-Ort leitet er seinen Sohn an, auf Architektenpapier zu zeichnen, aus dem Bildwörterbuch abzupausen, Bilder zu beschriften, Texte zu beurteilen und alles zu archivieren. Auf die innige Vater-Sohn-Schreibwerkstatt wird die Mutter beinahe eifersüchtig und entwickelt selbst vergleichbare Einheiten, in denen sie nach dessen Rückkehr ihren Sohn zum Schreiben über Musik anleitet.


    Köstlich habe ich mich darüber amüsiert, dass beide Eltern Vorbehalte gegenüber dem „mageren“ Niveau der Schulbücher ausdrücken und entschieden darauf dringen, eigene Themen und Methoden zu verwenden. Lernen soll Freude machen und wenn Kindern Fußball, Musik, Zeichnen und Schreiben Freude macht, muss man sie sich eben in diesen Disziplinen entwickeln lassen. Ohne die Verbindung aus Beharrlichkeit und Erfindungsreichtum in der Persönlichkeit seiner Eltern hätte Hanns-Josef Ortheil seinen Weg als Autor und Dozent nicht einschlagen können. Besonders anrührend fand ich den Moment, als der Vater einige Zeit später die außergewöhnliche Begabung seines Sohnes realisiert. Er kann ihn nicht weiter fördern und überlegt sich andere Anregungen. So entsteht der Plan der Moselreise (zur Förderung des Selbstbewusstseins), der Berlinreise (um dem Sohn die Familiengeschichte zu öffnen) und zu einer Parisreise auf den Spuren Hemingways, den der Vater als literarisches Vorbild passend zum Erzählstil seines Sohnes auswählte.


    Die beiden ersten Reisen, die Ortheil für seine Eltern niedergeschrieben hat, lassen sich nach der Lektüre dieses Romans exakter, sorgfältiger einordnen, als falle das letzte Puzzlestück an seinen Platz und gäbe den Blick auf das ganze Bild frei. Diese Sorgfalt lehrte der Vater und sie prägt bis heute Ortheils Schaffen als Schriftsteller.


    8 von 10 Punkten