Der weiße Affe - Kerstin Ehmer

  • Kerstin Ehmer: Der weiße Affe. Kriminalroman, Bielefeld 2017, Pendragon-Verlag, ISBN 978-3-86532-584-6, Klappenbroschur, 279 Seiten, Format: 13,4 x 2,7 x 20,8 cm, Buch: EUR 17,00, Kindle Edition: EUR 12,99.


    „Die dünnen Scheiben beschlagen. Tropfen ziehen Rinnsale, dahinter die Brandmauer gegenüber. Die Augen der Kinder so grau und so blass. Fahl ihre Haut mit grindigen Flecken. (...) Das Tuch ohne Farbe über den dünnen Haaren der Mutter, eine Bluse aus Nebel, ein Kittel aus Regen, ihr schwarzer Leinenrock, der durch den Dreck auf dem Fußboden schleift. In Spiros Kopf ein ferner, aber unerbittlicher Viervierteltakt. Ist die schwarze Köchin da? Nein, nein, nein.“ (Seite 213/214)


    Berlin, 1920er-Jahre: Naiv ist er nicht, der junge Kriminalkommissar Ariel Spiro aus Wittenberge in Brandenburg. Klug ist er, kultiviert und ehrgeizig, aber spontan überwältigt vom wilden Großstadtleben, als er nach Berlin versetzt wird. Er ist eben ein biederer Kaufmannssohn aus der Provinz.


    In Berlin angekommen, hat nicht einmal Zeit, sein möbliertes Zimmer zu beziehen. Es gibt einen Mordfall. Der jüdische Bankier Eduard Fromm liegt erschlagen vor der Wohnungstür seiner Geliebten, der Tänzerin Hildegard Müller und Spiro muss gleich zum Tatort und zeigen, was er kann.


    Wer hat Bankier Fromm erschlagen?

    War es eine Beziehungstat? Fräulein Müller hatte neben dem Bankier auch noch einen Verlobten, den Ganoven Gustav Mrozek. Oder ist Fromms Gattin hinter das Verhältnis gekommen? War der Ermordete vielleicht irgendwie in Mrozeks kriminelle Aktivitäten involviert? Die Mordwaffe könnte auch auf ein politisches Motiv hindeuten. Andererseits ... dass es zwischen Fromm und seinem Stellvertreter bei der Bank, Moses Silberstein, Unstimmigkeiten gegeben hat, ist ein offenes Geheimnis, und so gerät auch der junge Bankier ins Visier der Kommissare. Doch jede dieser Spuren endet in einer Sackgasse.


    Um im Umfeld der jüdischen Bankiersfamilie ermitteln zu können, nutzt Ariel Spiro ein gängiges Missverständnis, das ihm im Leben schon eine Menge Ärger und Hänseleien eingebracht hat: Als die Fromms ihn aufgrund seines Namens für einen Juden halten, widerspricht er nicht. Dabei hatte seine Mutter, als sie ihn Ariel nannte, gar nicht den „Löwen Gottes“ im Sinn sondern den Luftgeist aus Shakespeares Theaterstück „Der Sturm“. Sagt sie.


    Der Kommissar erschleicht sich Vertrauen

    Die Fromms jedenfalls zweifeln keine Sekunde daran, dass er einer ihrer der Ihren ist. Sie machen das aber nicht nur an seinem Vornamen fest. Der kundige Leser auch nicht. Der fragt sich nun allerdings, ob der Kommissar ein Lügner ist oder nur ahnungslos.


    Spiro befragt die Witwe des Ermordeten, die etwas entrückte Pianistin Charlotte Fromm. Dafür, dass sie aus so konservativen Verhältnissen stammt, hat sie mit ihrem Eduard eine erstaunlich offene Ehe geführt. Dass ihre mondäne Tochter Nike in einer Damenkapelle spielt, allenfalls halbherzig Medizin studiert und nebenher im Institut für S e x u a l wissenschaft arbeitet, scheint für die Fromms auch kein großes Problem (gewesen) zu sein. Dass Sohn Ambros Männer bevorzugt, ein zynischer Atheist ist, Drogen nimmt und alles in allem ein nutzloses hedonistisches Leben führt, ist Papa Fromm hingegen so sauer aufgestoßen, dass er seinem Sohn die Enterbung in Aussicht gestellt hat.


    Spiro, der bei den Fromms bald ein und aus geht und sich tatsächlich dazu hinreißen lässt, mit der charismatischen Tochter des Hauses eine Affäre anzufangen, gewinnt Ambros’ Vertrauen und ist überzeugt davon, dass er der Täter ist: Um eine Testamentsänderung zu verhindern, hat der Bankierssohn seinen Vater erschlagen. Noch auf Fromms Beerdigung lässt er ihn verhaften – und rennt ins offene Messer. Ambros hat ein Alibi. Es gibt einen Skandal, Spiros Chef schäumt und seine neuen Kollegen, die seinen Posten selber gern gehabt hätten, feiern.


    Ein zweiter Mord – ein neuer Verdacht

    Als die Theaterschneiderin Magdalena Gavorni erstochen in ihrer Wohnung aufgefunden wird und man ihren abgeschnittenen Kopf unweit der Stelle auffindet, an der Eduard Fromm erschlagen wurde, erkennt Ariel Spiro einen Zusammenhang. Und er präsentiert einen neuen Verdächtigen, doch davon will sein Chef nichts mehr wissen. Für ihn hat Spiro an Glaubwürdigkeit verloren. Dass er sich bei einer seiner Touren durchs rauschende Berliner Nachtleben sein Portemonnaie samt Dienstausweis hat klauen lassen, macht die Sache nicht besser.


    Der Kriminalkommissar hat nur noch eine Chance: Er muss den verschwundenen Sohn der ermordeten Schneiderin finden, sonst ist seine Karriere in Berlin beendet, noch ehe sie recht begonnen hat, und es geht mit Schimpf und Schande wieder zurück in die Provinz ...


    Was für ein Debüt! Als Fotografin und Gastronomin muss man gut beobachten können. Kerstin Ehmer, die in beiden Berufen Erfahrung hat, kann das, was sie sieht, auch noch wunderbar in Worte fassen. Der Provinzkommissar, den das Hauptstadtleben ein bisschen überfordert. Der sich einmal die Vorurteile, mit denen er immer zu kämpfen hat, zunutze machen will und krachend damit scheitert.


    Identitätswechsel

    Hier sucht jeder sein Glück, doch je mehr er sich verbiegt und etwas vortäuscht oder sein möchte, was er nicht ist, desto unglücklicher wird er. Natürlich kann man sich neu erfinden. Namen, Glaubensbekenntnisse oder auch Nationalitäten sind keine festen Größen. Aber es gibt Grenzen. Sich selbst und seine Geschichte nimmt man immer mit. Und dann ist da noch die Frage, ob einen die anderen auch so sehen, wie man gerne gesehen werden möchte.


    Ob der Identitätswechsel drei Generationen davor für Aharon Singer funktioniert hat? War er glücklich damit? Wir wissen es nicht. Ich würde aber gerne Nike Fromm lachen hören, wenn sie von dieser Geschichte erfährt.


    Eingewoben in den Kriminalfall Fromm sind kursiv gesetzte Kapitel, die wie Wahnvorstellungen oder Fieberträume wirken. Oder ist da jemand auf einem Drogentrip? Wer der junge Mann ist, der diese wirren Gedanken hat und was er mit der Geschichte zu tun hat, klärt sich erst sehr spät.


    Ohne den zweiten Mord hätten die Polizisten nicht den Hauch einer Chance gehabt, den ersten Fall aufzuklären. So gesehen ist es nicht Ariel Spiros persönliches Versagen, dass er erst einmal in die falsche Richtung galoppiert ist. Es lag einfach nahe.


    Ich bin mir nicht sicher, ob der Krimi auf eine Fortsetzung hin angelegt ist. Einerseits ist alles gesagt, andererseits ist alles möglich. Sollte Ariel Spiro weiter in Berlin ermitteln, wäre ich als Leserin gerne wieder mit dabei.


    Der weiße Affe – ein Symbol?

    Ach ja: Wer oder was ist denn nun der titelgebende weiße Affe? Eigentlich nur eine Porzellanfigur, der angeblich einmal dem Philosophen Moses Mendelssohn gehört haben soll („Judenporzellan“ ist das Stichwort). Wenn man will, kann man diese Figur als ein Symbol für die Diskriminierung sehen ... dafür, dass man als Jude oftmals einen höheren Preis für etwas zahlen musste, das für andere Menschen selbstverständlich war. Aber ich will das jetzt nicht überinterpretieren. Manchmal ist ein Affe einfach nur ein Affe.


    Die Autorin

    Kerstin Ehmer arbeitete viele Jahre als Mode- und Porträtfotografin. Seit sechzehn Jahren betreibt sie mit ihrem Mann die legendäre Victoria Bar in Berlin. Sie verfasste das Buch »Die Schule der Trunkenheit«, das sich zu einem Longseller entwickelte und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. »Der weiße Affe« ist ihr erster Kriminalroman.


    https://www.amazon.de/weiße-Affe-Kerstin-Ehmer/dp/386532584X/ref



    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner