Natsume Sōseki: Der Bergmann

  • Natsume Sōseki: Der Bergmann

    DuMont Buchverlag 2018. 240 Seiten

    ISBN-10: 3832164464

    ISBN-13: 978-3832164461. 11€

    Originaltitel: Kofu (1908)

    Übersetzer: Franz Hintereder-Emde


    Verlagstext

    Ein junger Mann, hin- und hergerissen zwischen zwei Frauen, flieht aus seinem wohlhabenden Elternhaus. Er ist verzweifelt und lebensmüde, es zieht ihn ins »Dunkel«. So sucht er nach einer Möglichkeit, aus der Welt zu verschwinden. Und findet sie, indem er sich zur Arbeit in einem Bergwerk verpflichtet. Das harte Leben unter Tage erweist sich als Wendepunkt – er, der sich nach der Dunkelheit gesehnt hat, erkennt in derselben, dass das Leben lebenswert ist. Noch vor James Joyce oder Marcel Proust beschreibt Natsume Sōseki hier minutiös die Wahrnehmungen und Gedanken eines jugendlichen Antihelden. ›Der Bergmann‹ zeichnet im Spiegel einer einzelnen Existenz das Bild einer japanischen Gesellschaft, die zur Jahrhundertwende mit sich und der Moderne ringt.


    Der Autor

    Natsume Soseki (1867–1916) gehört zu den wichtigsten Vertretern der klassischen Moderne Japans. Nach dem Studium der englischen Literatur lebte er von 1900 bis 1903 in London, später arbeitete er als Professor für Englisch an der Universität von Tokio. Nach literaturtheoretischen Schriften und Lyrik veröffentlicht er ab 1906 zahlreiche Romane, die im Geist des Fin de Siècle, oft melancholisch gestimmt, die Auseinandersetzung zwischen westlichen und traditionellen Werten reflektieren.


    Inhalt

    Ein junger Mann aus guter Familie hat sich vermutlich unglücklich verliebt und ist zum Selbstmord entschlossen. Da er es nicht fertigbringt, sich das Leben zu nehmen, flüchtet er aus Tokyo auf der Suche nach einem menschenleeren Ort, an dem er schließlich sterben wird. Unterwegs wird er von einem Anwerber für eine Kupfermine aufgelesen, der ihm Arbeit im Bergwerk verspricht. Der verwöhnte Städter hat noch niemals körperlich gearbeitet und nicht die mindeste Vorstellung, warum andere Menschen so handeln, wie sie es tun. Der Anwerber und der Neunzehnjährige machen sich zu Fuß auf den Weg zu dem Berg nördlich von Tokyo, auf dem der Zugang zur Mine Ashio liegt. Unterwegs liest der Werber, den der Icherzähler anfangs nur Dotera, „Winterkimono“, nennt, zwei weitere ebenso ahnungslose Männer auf.


    Der junge Erzähler beschreibt, was er sieht, begreift jedoch nichts. Als Bergmann arbeiten nur die Ausgestoßenen der Gesellschaft, die entlassenen oder geflohenen Straftäter. In einem System von Leibeigenschaft verschulden sie sich beim Besitzer der jeweiligen „Kantinen“ für Unterkunft und Verpflegung, ohne jede Chance, aus diesem Verhältnis je wieder frei zu kommen. Der ahnungslose Städter sieht zwar, dass der Kupferbergbau nur kahle Hügel zurücklässt und die hohlgesichtigen Arbeiter bald selbst die Farbe von Kupfererz annehmen, es fehlt ihm jedoch an jeglichem Mitgefühl für andere Menschen. Bis auf Yasu, den gebildeten Exhäftling, und Hara, den Leiter der Kantine, kann er sich sprachlich kaum verständigen mit Menschen, die anders reden, als er es gewohnt ist. Diese beiden Männer zweifeln, dass jemand wie er auch nur ein paar Arbeitstage unter Tage überleben wird und drängen darauf, dass er nach Tokyo zurückkehrt. Alle anderen Menschen nimmt der Erzähler als anonyme Masse wahr, als Bestien, für die sich eine Krankenstation nicht lohnt.


    Fazit

    Der Roman im Stil einer mündlichen Lebenserinnerung endet so überraschend wie abrupt. Der Erzähler entwickelt sich durch seine kurze Begegnung mit der Arbeitswelt nicht weiter, er wirkt am Ende der Handlung – trotz leiser Ansätze zur Selbstkritik - ebenso distanziert und unfähig zur Empathie wie zu Beginn. In einer streng hierarchischen Klassengesellschaft wie dem damaligen Japan kann man ihm das nicht zum Vorwurf machen, sein Tunnelblick ist allerdings für den Leser anstrengend.


    historischer Hintergrund

    Zum Verständnis des japanischen Klassikers trägt erheblich das 12-seitige Vorwort Haruki Murakamis bei, der die Geschichte der Ashio-Mine anschaulich zusammenfast. Die Umweltschäden durch den Kupferabbau in Ashio bewertet Murakami ähnlich verheerend wie die Verseuchung der Region um Minamata durch Quecksilber. Kupfer wurde in Japan für die Herstellung von Münzen und Waffen benötigt. Die Abwässer von Ashio vergifteten schon 1877 Luft und Wasser, Wälder wurden abgeholzt oder gingen ein, Reisanbau und der Anbau von Maulbeerbäumen für die Seidenraupenzucht wurden unmöglich. Die japanische Regierung leugnete lange Zeit die unübersehbaren Umweltschäden. Schließlich kam es zu einem Arbeiteraufstand, über den Sōseki sich jedoch ausschweigt. Er veröffentlichte seinen Roman als Fortsetzungsroman, verfasst vermutlich unter Zeitdruck und in Geldnot. Der Einblick in die Welt Ashios stammt von einem jungen Bergmann, Arai, der dem Autor seine Lebensgeschichte erzählte. Murakami vermutet, dass Sōseki sich der Brisanz der sozialen Verhältnisse bewusst war, er jedoch mit dem Thema nicht anecken wollte.


    8 von 10 Punkten