Joyce Carol Oates: Der Mann ohne Schatten
Verlag: S. FISCHER 2018. 384 Seiten
ISBN-10: 3103972768
ISBN-13: 978-3103972764. 24€
Übersetzerin: Silvia Morawetz
Verlagstext
Für ihn ist immer alles Gegenwart: 1965 lernt die junge Neurowissenschaftlerin Margot an der Universität von Darven Park den charismatischen Patienten Eli kennen. Er leidet an Gedächtnisverlust und kann sich nur an Dinge erinnern, die nicht länger als siebzig Sekunden zurückliegen. Margot beginnt, Elis Erinnerungsvermögen mit einer Reihe von Tests zu untersuchen, und kommt dem ungewöhnlichen Patienten im Laufe der Zeit erstaunlich nahe. Eine unmögliche Beziehung, denn er vergisst immer wieder, wer sie ist. Joyce Carol Oates hat einen Roman über Liebe und Erinnerung, über Einsamkeit und imaginierte Nähe geschrieben – luzide, feinsinnig, funkelnd.
Die Autorin
Joyce Carol Oates wurde 1938 in Lockport (New York) geboren. Sie zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Autorinnen der Gegenwart. Für ihre zahlreichen Romane und Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem National Book Award. Joyce Carol Oates lebt in Princeton (New Jersey), wo sie Literatur unterrichtet.
Inhalt
Elihu Hoopes war allein an den Lake George in den Adirondacks gefahren. Eine Herpesinfektion am Auge führt zu einer verschleppten Enzephalitis. Eli erleidet eine Gedächtnisstörung (partielle retrogade und totale anterograde Amnesie) und kann mit 37 Jahren seinen Beruf nicht mehr ausüben. Eli konnte zwar viele Fähigkeiten aus der Zeit vor seiner Erkrankung erhalten, seine auf rund eine Minute eingeschränkte Merkfähigkeit macht jedoch normale Beziehungen unmöglich, weil er selbst vertraute Personen am folgenden Tag nicht mehr erkennt. Für ihn bedeutet seine Schädigung, dass er Situationen selbst nicht beurteilen kann und auf die Fürsorge seiner Bezugspersonen angewiesen ist. Freunde und Familie ziehen sich bis auf eine ältere verwitwete Tante von dem Mann zurück, der einmal aktiv Sport trieb und bekannter Aktivist für die Rechte der Schwarzen war. Eli stammt aus einer wohlhabenden Quäkerfamilie, die zur Zeit des Bürgerkriegs eine wichtige Rolle in der „Underground Railroad“ spielte. Im Gedächtnis-Labor der Uni Darven Park untersucht die Neurowissenschaftlerin Margot Sharpe den charmanten Patienten für ihre Dissertation. Patienten wie Eli bleiben in ihrer Vorstellung lebenslang so alt wie zur Zeit der Erkrankung; eine Zukunft können sie sich nicht vorstellen. Dieser Zustand wird sich nicht bessern.
Joyce Carol Oates schildert anrührend und sorgfältig recherchiert die Strategien, mit denen Eli seine Vergesslichkeit kaschiert, weil er in beinahe kindlichem Eifer sein Bemühen zur Kooperation demonstrieren will. Unter Führung von Professor Milton Ferris wird Eli fortan als willige Versuchsperson im Namen der Wissenschaft und für die Karriere zahlreicher Doktoranden ausgebeutet. Wehren kann er sich selbst dagegen nicht; Margot wäre die allerletzte, die gegen den herrschenden Potentaten Ferris aufbegehren und das unethische Verhalten der gesamten Abteilung kritisieren würde. Eine unabhängige Kontrolle der Versuche hat Margot mit der Begründung ausgehebelt, dass die Identität ihres Probanden unbedingt geschützt werden müsse. Dass Ferris ihre eigene Promotion unziemlich in die Länge zieht, um selbst international mit den Forschungsergebnissen seiner Mitarbeiter zu brillieren, will Margot lange nicht wahrhaben. Ein paralleler Handlungsstrang erzählt vom Verschwinden von Elis Cousine Gretchen in seiner Kindheit. Dem Jungen war damals eingeschärft worden, seine Erinnerung zu verleugnen. Elis heutige Vergesslichkeit kommt den Wünschen seiner Familie nach Verdrängung der Ereignisse in geradezu idealer Weise entgegen. Als Leser fragt man sich, ob eine weniger problematische Forscherpersönlichkeit als Margot Elis Erinnerungsverbot eher durchschaut hätte.
Während der Patient sich selbst noch immer für einen Mann in den besten Jahren hält, verstrickt sich die alternde Margot in einer ethisch fragwürdigen Beziehung zum ersten Probanden ihrer Laufbahn. Der Zeitpunkt ist längst überschritten, zu dem eine neutrale Betreuungsperson für die Interessen des ewigen Versuchskaninchens hätte eintreten müssen.
Fazit
„Der Mann ohne Schatten“ ist vordergründig eine erzählende anteilnehmende Patientengeschichte ähnlich „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ von Oliver Sacks. Oates, deren Ehemann Neurowissenschaftler ist, verknüpft ihre beeindruckende Patientenbiografie mit dem Psychogramm einer jungen Doktorandin, die ihrem Doktorvater hörig ist und in den 60ern des vorigen Jahrhunderts vermutlich keinen anderen Weg zur Promotion sah. Das ungeklärte Schicksal der Cousine Gretchen hat beinahe Thrillerqualität und könnte aus einem der Psychothriller von Oates stammen, die sie als Rosamond Smith schrieb. Neben sorgfältig verborgenen Familiengeheimnissen und tragikomischen Momenten hat mich die Innenwelt des Patienten berührt und beeindruckt, den man bis in sein hohes Alter glauben lässt, Kooperation mit den ihm fremden Weißkitteln würde ihm nützen. Ein erstickendes Netz aus Manipulation und Besitzanspruch verknüpft diverse Handlungsebenen. Garniert wird der etwas ausschweifende Text mit bissiger Kritik an einem Wissenschaftsbetrieb, der sich weniger der Forschung verpflichtet fühlt als der Absicherung der eigenen Planstellen. Ein grandioser, bewegender Roman.
9 von 10 Punkten