Matthias Wittekind: Die Tankstelle von Courcelles

  • Matthias Wittekind: Die Tankstelle von Courcelles

    Verlag: Edition Nautilus 2018. 256 Seiten

    ISBN-10: 3960540701

    ISBN-13: 978-3960540700. 16,90€


    Verlagstext

    Ohayons erster Fall – Matthias Wittekindts neuer Kriminalroman ist das Prequel zu seinen hochgelobten Fleurville-Krimis. Die Vogesen in den 1970er Jahren: grün, friedlich, ein wenig am Rand von allem. Hier wächst abgeschieden eine Gruppe von Kindern zu Jugendlichen heran, die mehr oder weniger subtile Rangkämpfe ausfechten.

    Als Lou, die nachts an der Tankstelle jobbt, Zeugin eines Verbrechens wird, ändert sich alles: ein erschossener Fahrer neben seinem Auto, ein verwaister Lieferwagen, aus dem Spender gerissene Papiertücher, als hätte jemand dort etwas gesucht – was ist passiert?

    Der junge, schlanke und vollkommen unerfahrene Ohayon versucht, hinter die Selbstdarstellungen der Jugendlichen zu schauen. War Lou wirklich nur Zeugin? Oder hat sie die Gunst der Stunde zu einer Tat genutzt, deren Folgen sie nicht absehen konnte?

    In seiner unnachahmlichen Erzählweise umkreist Wittekindt seine Figuren, rückt immer näher an sie heran, zeigt sie von allen Seiten. Ob Freund, Lehrer oder Ermittler – allmählich scheint niemand mehr ohne Schuld zu sein.

    »Die Tankstelle von Courcelles« ist ein Kriminal- und Entwicklungsroman, in dem ein Verbrechen ein ganzes Leben, bis in die Kindheit zurück, in neuem Licht erscheinen lässt.


    Der Autor

    Matthias Wittekindt wurde 1958 in Bonn geboren. Nach dem Studium der Architektur und Religionsphilosophie arbeitete er in Berlin und London als Architekt. Es folgten einige Jahre als Theaterregisseur. Seit 2000 ist er als freier Autor tätig, schreibt u.a. Radio-Tatorte für den NDR. Für seine Hörspiele, Fernseh-Dokumentationen und Theaterstücke wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 2004 erschien sein Romandebut »Sog«, die Kriminalromane »Schneeschwestern« (2011), »Marmormänner« (2013), »Ein Licht im Zimmer« (2014), »Der Unfall in der Rue Bisson« (2016). Für »Marmormänner« wurde Wittekindt mit dem 3. Platz des Deutschen Krimipreises 2014 ausgezeichnet.


    Inhalt

    Ende der 70er des vorigen Jahrhunderts streift das Mädchen Lou in einem faulen Sommer mit dem Rad herum. Doch die Idylle wird bald ihr Ende finden. Lous Heimatort in den Vogesen hat einen wirtschaftlichen Abstieg hinter sich, seit die ehemals florierenden Kurkliniken nicht mehr belegt sind. Von Lou noch unbemerkt, baut sich im Ort eine Atmosphäre des Unbehagens auf. Auswärtige Autos parken mit unbekanntem Zweck und ab und zu werden dunkelhaarige Menschen mit lockigem Haar beobachtet. Lous Stiefvater sorgt sich um sie; sie soll bitte vorsichtiger im Straßenverkehr sein und sich vom Maisfeld fernhalten, wo sie offenbar gesehen worden ist. Lous Entwicklung vom unbeschwerten Kind zur kritischen Jugendlichen vollzieht sich in ihren wechselnden Freundschaften, die sie bemerkenswert eigennützig schließt. 1986, im Jahr vor dem Abitur, hängt Lou hauptsächlich mit Julien und Philippe herum. Die drei stellen existenzielle Überlegungen an in Richtung Armut und Befreiung von etwas, das sie vor dem Unterricht bei ihrem Lehrer M. Theron noch nicht spürten. Theron konfrontiert seine Schüler mit harscher Gesellschaftskritik, die allerdings in einem strukturschwachen Ort herablassend und seltsam weltfremd wirkt. Theron kann nur an das Gute – und die Revolution – glauben, solange er die Menschen im Ort und ihre Arbeitsbedingungen noch nicht kennt, stellen die Jugendlichen nüchtern fest. In ihr neues revolutionäres Weltbild passt nur schwer der profane Zwang zum Geldverdienen, um eigene Wünsche zu erfüllen. Auf Julien wirkt Therons Unterricht spürbar, er reflektiert seitdem seine Ziele und Wünsche.


    Das zunehmende Unbehagen im Ort verdichtet sich zu einer Szene mit Todesopfern an der Tankstelle des Ortes (die Lous Stiefvater gehört). Ein noch sehr junger Ermittler versucht im Rückblick die Ereignisse aufzulösen. Obwohl rein hierarchisch die Police National für den Fall zuständig ist, zeigt Ohayon sein besonderes Talent, die Leute einfach reden zu lassen, bis sie von selbst zum Kern der Sache kommen. Der junge Gendarm kann schließlich einen Verkehrstoten, mehrere Fahrzeuge und ein Beweismittel einander zuordnen. Damit ist allerdings die moralische Verantwortung für das Geschehen innerhalb der Dreierclique längst nicht geklärt.


    Fazit

    Der letzte Sommer, bevor sich alte Freunde trennen, und der letzte Abiturjahrgang, bevor das Gymnasium endgültig geschlossen wird, vermitteln hier eine ganz eigene Melancholie. Wittekind beobachtet Heranwachsende in der französischen Provinz in wechselnden Konstellationen, Auseinandersetzungen um Macht und Einfluss, aber auch gewachsene Kontakte im Ort. Er beschreibt Wahrnehmungen, die den jeweiligen Beobachtern erst rückblickend bewusst werden, und fragt nach Verantwortung. Hätten Erwachsene vorher aufmerksam werden müssen?


    9 von 10 Punkten