Reiche sterben auch nicht anders - Ross Macdonald

  • OT: The Moving Target 1949


    Süd-Kalifornien, Los Angeles und Umgebung. Karge Canyons, üppig grüne Küstenlandschaften, die Villa eines Ölmillionärs. Heruntergekommene Kneipen, Sektenprediger, abgehalfterte Filmstars, Kokain, philippinische Hausangestellte, frustrierte Ehefrauen, schöne Töchter. Privatpiloten, Alkohol, Jazz, schmierige Gangster und geschickte Anwälte. Dazwischen ein Privatdetektiv.
    Klingt nach Standardware. Das ist es aber nicht, denn der Privatermittler heißt Archer, Lew Archer, und in diesem Roman hat er seinen allerersten Auftritt.


    Der Ölmillionär Ralph Sampson ist verschwunden. Der letzte, der ihn gesehen hat, war sein Privatpilot, Alan Taggert, als er ihn auftragsgemäß in einer Stadt in der Nähe, dem von Macdonald erdachten Santa Teresa, absetzte. Sampsons Tochter Miranda macht sich Sorgen um ihren Vater, seine (zweite) Ehefrau macht sich Sorgen ums Geld. Sampson ist nämlich Alkoholiker und hat im betrunkenen Zustand die Angewohnheit, seine Besitztümer zu verschenken. Vor kurzem erst hat er einem zweifelhaften Sektenprediger ein Grundstück in einem der umliegenden Canyons überlassen. Nähere Auskünfte über Sampson erhält Archer auch vom Anwalt der Familie, der ein alter Freund Archers ist. Die Auskünfte klingen nicht günstig, Sampson scheint sich mit Leuten eingelassen zu haben, die ihm nichts Gutes wollen.
    Vom Sampson selbst fehlt weiterhin jede Spur.
    Im Lauf von Archers Ermittlungen werden nicht nur kriminelle Taten aufgedeckt, sondern auch die verwickelten Beziehungen aller Beteiligten untereinander. Tatsächlich geht es um den großen Traum vom Reichtum und den noch größeren von der wahren Liebe. Was davon ist bloßer Traum, was davon erfüllbar, wann schlägt die Sehnsucht in die Bereitschaft um, ein Verbrechen zu begehen? Stück für Stück widmet sich Macdonald diesen Fragen, zeigt Antworten und ihre Konsequenzen. Die Versuchung wächst im Lauf der Geschichte, auch für Archer.


    Das Ganze ist ein gut gebauter, stimmiger und äußerst spannender Krimi, über nicht nur ein Verbrechen. Die Handlung schlägt überraschende Haken.
    Darüber hinaus ist es eine Studie einer Gruppe von Menschen, die unter dem Einfluß der goldenen Strahlen, die vom Geld auszugehen scheinen, von etwas infiziert werden, das sie langsam verrotten läßt. Alle sind angesteckt, die wenigsten überleben. Die, die es tun, behalten Narben zurück, keine und keiner bleibt von den Strahlen unberührt. Das gilt für die ‚Guten’ ebenso wie für die ‚Bösen', ihre Taten, ob diesseits oder jenseits der Grenze, die die herrschende Moral und das Strafgesetzbuch setzen, sind gleichermaßen mies, klein, schmutzig. Robin Hood ist tot wie seine Legende, Verbrechen ist nicht romantisch.


    Eingehüllt ist das Ganze in eine eigene Atmosphäre zwischen Träumen und Wachen, die Landschaftsschilderungen spiegeln zugleich die jeweils herrschende Stimmung wider, an einigen wenigen Stellen gerät das auch mal gefährlich in die Nähe der Platitüde. Aber der Faden reißt nie und führt zuletzt in den angstvoll erwarteten Albtraum, der sich nach dem Aufwachen nahezu als Realität erweist.


    Tatsächlich entpuppt sich Macdonalds Geschichte als eine Geschichte gegen die Illusionen, an die sich eine Nachkriegsgesellschaft klammerte. Eine der Illusionen ist, daß die Welt der Reichen und die der Ärmeren bis Armen nichts miteinander zu tun hätten. Macdonald zeigt sehr deutlich, daß sie nicht einmal die beiden Seiten einer Medaille sind, sondern daß es nur eine einzige Welt gibt, für alle.
    Sein Archer ist ein trauriger Held, sanftmütig und durchaus friedfertig, wenn sein persönlicher Ehrenkodex nicht betroffen ist. Er ist kein perfekter Mann, er hat nur ein waches Auge für seine eigenen Fehler. Was nicht verhindert, das er welche begeht.


    Was Macdonalds Roman darüber hinaus auszeichnet, ist seine Fähigkeit zum Mitleiden. Er verurteilt nicht. Er zeigt beeindruckendes Maß an Verständnis für seine Figuren. Sie treten dementsprechend lebensecht auf. Das Buch enthält auch eine beträchtliche Dosis Sozialkritik. Dennoch bleibt Verbrechen Verbrechen, Archer ist nicht sentimental.
    I took my chance, sagt eine der unglücklichsten Personen am Ende. It didn’t work out.


    Für den Autor läßt sich exakt das Gegenteil sagen. Auch er hat die Chance ergriffen und ihm ist es gelungen. Rundum, ganz prächtig.


    Herzlichen Glückwunsch, Lew Archer, zum 60. Geburtstag. May your shadow never grow less!

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von magali ()

  • Meine Meinung:


    Der Auftrag einen verschwundenen Millionär zu suchen, erscheint Privatdetektiv Lew Archer als nicht besonders schwierig. Doch er merkt schnell, dass er mit seinen Ermittlungen in ein Wespennest von Beziehungsgeflechten sticht, in dem jeder sein eigenes, mehr oder weniger egoistisches Ziel verfolgt. Ross Macdonald macht keine überflüssigen Worte, mit einigen präzisen Sätzen beschreibt er Landschaft und Wetter und schafft so eine erstaunlich authentische Atmosphäre - die ideale Grundlage für die trostlosen Ereignisse, die mit den Nachforschungen Archers ihren (unaufhaltsamen?) Lauf nehmen. Gleiches gilt im Übrigen auch für die Nebenfiguren, die allesamt sehr lebendig vor dem geistigen Auge des Lesers auftauchen. Trotz der Verwicklungen, die sich im Laufe der Zeit offenbaren, und der ein oder anderen überraschenden Wendung, bleibt der Fall und die Auflösung in sich schlüssig. Leider erfährt man über Lew Archer selbst sehr wenig, aber das, was sich aus seinem Verhalten ableiten lässt, macht ihn sympathisch. Grund genug, sich noch mehr seiner Fälle anzusehen.


    Ich vergebe gute 7 Punkte und habe den nächsten Band schon auf die Wunschliste gesetzt.