Verschwunden – Silvia Bovenschen

  • Gebundene Ausgabe, Verlag: S.Fischer, 2008, 167 Seiten


    Das Buch erscheint auch als Hörbuch auf 3 CDs als ungekürzte Lesung mit Sophie Rois, Margarita Broich, Günter Barton u.a. (ISBN
    9783938781708


    Klappentext:
    Nichts ist unheimlicher als die Lücke, die jemand hinterlässt, der verschwindet:
    Ein Zug bleibt auf offener Strecke stehen, eine Frau steigt scheinbar ohne Motiv aus.
    Ihre Mitreisenden beobachten, wir sie in der fremden, unbewohnten Landschaft immer kleiner wird und schließlich ganz verschwindet.-
    Oder eine Erinnerung an einen Sommer auf einer Nordseeinsel: Ein paar große Kinder erfinden, um die kleineren zu ängstigen, eine Gruselgeschichte vom Wattriesen.
    Am nächsten Tag ist ein Junge verschwunden... Und wohin verschwanden der grüne Ring und das rote Herz?


    Nach ihrem Bestseller "Älter werden" erzählt die Autorin Geschichten vom Verschwinden:
    Dem Vergessen, dem Verlieren, dem böswilligen Verbergen, bis zur letzten Konsequenz, dem endgültigen Verschwinden aus dieser Welt.


    Zur Autorin:
    Silvia Bovenschen, Literaturwissenschaftlerin und Essayistin, geboren 1946 lebt in Berlin. 2000 wurde sie mit dem Roswitha Preis der Stadt Gandersheim und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet. 2007 erhielt sie den Ernst-Robert-Curtis-Preis. Zuletzt erschienen: Älter werden (2006), Über-Empfindlichkeit. Spielformen der Idiosynkrasie (2000) und schlimmer machen, schlimmer lachen (1990).



    Meine Meinung:
    Dieses Buch lebt von einer guten Idee, die stilistisch gut umgesetzt wurde.


    Die an den Rollstuhl gefesselte Autorin Daniela startet den Versuch, sich von ihren Freunden Geschichten schenken zu lassen, über die sie frei verfügen, verarbeiten sogar nach Belieben verändern will.
    Alle diese Geschichten sollen sich um das Thema „Verschwinden“ drehen.
    Dazu verlangt sie von ihren Freunden sogar die Unterschrift einer Verzichtserklärung.
    Das Buch beginnt sogar ironischerweise mit diesem Formular.


    Es handelt sich also nicht um ein Kurzgeschichtenband, sondern um zusammenhängende, kurze Abschnitte, die durch die Rahmenhandlung zusammengehalten werden.


    Silvia Bovenschen wendet in ihrem Stil Ironie und Witz an, um damit auch die Personen des Buches zu portraitieren. So offenbaren alle beim Erzählen ihren individuellen Charakter.
    Zum Beispiel der loyale Anton, die übernervöse Frederike, die bedächtige Celia, die ein Tagebuch dem Sterben entgegen schreibt und noch einige andere.
    Vor Neid platzt hingegen die giftige Bea, die um keine Geschichte gebeten wurde.


    Was folgt sind aber nicht nur die Geschichten, Aufzeichnungen der Gespräche und Tagebucheintragungen sondern immer wieder steckt darin der Bezug auf Danielas Idee.
    So sind manche verärgert, wenn sie beim Erzählen ihrer Geschichten unterbrochen werden, beschweren sich, dass sie keine Geschichten vom Verschwinden kennen und erzählen dann doch eine.


    Viel skurriles ist in den verschiedenen Geschichten dabei, z.B. der Rufer, ein verwirrter Mann, der jeden Tag auf den Straßen wüst rumschreit oder die mehrteilige Episode „Der Einbruch“, in der ein Laptop gestohlen wird und der USB-Stick mit allen gesicherten Daten fatalerweise am gestohlenen Objekt steckt.
    Nicht alle Geschichten haben mich überzeugt, das Gesamtergebnis ist aber stimmig.


    Natürlich kann man dieses Buch auf mehreren Ebenen lesen, z.B. auch als verschiedene Selbstreflexionen der Autorin, aber ich halte das Buch auch auf seiner Oberfläche für sehr lesenswert.

  • Verschwunden
    Silvia Bovenschen, 2008

    S. Fischer, ISBN: 978-3100035134


    Silvia Bovenschen hat mit "Verschwunden" ein ganz entzückendes Bändchen vorgelegt. Es ist eine Art Buch im Buch und ist zugleich Prozess und Ergebnis. Daniela, die ebenso wie die Autorin im Rollstuhl sitzt, lässt sich von ihren Freunden Geschichten über das Verschwinden erzählen. Banalitäten, Kindervorstellungen, Bizarres, alles findet sich darunter. Alleine gäben sie zwar manchmal Denkanreize, zum Beispiel das Verlieren eines Lebens, das auf einem Computer gespeichert war, oder lüden zum Schmunzeln ein, wären aber nichts Besonderes.


    Struktur und Reiz geben diesem Buch die Geschichten zweier Freunde, die sich durch das ganze Buch ziehen, die Monologe von Frederike, die von ihren Freunden ob ihrer Hysterie belächelt wird und in deren Tiraden sich interessante, scharfsinnige Betrachtungen befinden, und die Tagebucheinträge von Celia, kommentierend, nachdenkend, rührend und das eigene Verschwinden voraussagend. Zusammen mit Episoden zur Entstehung des Projektes und Verbindungen zwischen den Erzählern besticht das Buch nicht durch die vordergründigen Erzählungen, sondern das Projekt "Verschwinden" als solches. Eine Figur, Bea, die eingeschnappt ist, da sie selbst nicht nach einer Geschichte gefragt wurde, nennt es eine "Ballung" von "Schwund", ich finde es ist mehr. Durch die Geschichten und Kommentare wird eine - zwar einem Sammelsurium ähnelnde - aber dennoch eine Einheit erzeugt, die das Bild eines Freundeskreises und das Verschwinden zeichnet.


    Äußerst angenehm zu lesen sind Silvia Bovenschens Sprache, die sich zwar je nach Person ein wenig wandelt, aber dennoch immer ansprechend reich an Bildern und Formulierungen ist, niveauvoll und ein wenig ironisch, und die Gedankengänge, die abseits von den Geschichten über das Verschwinden den Figuren in den Mund gelegt worden sind. Gedankenansätze, die u.a. Gesellschaftskritik üben und die zum Weiterdenken anregen könnten.


    Fazit
    Es ist ein ungewöhnliches Büchlein, zusammengewürfelt aus Telefonaten, Monologen und den besagten Geschichten, das eine seltsame Einheit bildet. Bezaubernde Sprache verknüpft mir Originalität. Sehr schön.


    9/10 Punkten


    :wave bartimaeus