Die ersten Szenen aus der Kindheit der Protagonisten mag ich sehr. Ich glaube, dass Kinderszenen nicht so beliebt sind bei vielen Lesern, liegt daran, dass nicht viele Autoren sie gut schreiben können. Viele lassen die Kinder sehr altklug rüberkommen. Hier begleitet der Leser Tom, Cathie und Jane und hat das Gefühl, wirklich von Kindern zu lesen, nicht von kleinen Erwachsenen.
Wulf Hall wird von der Autorin in einer Weise eingeführt, die den Leser sinnlich daran teilhaben lässt, indem er die schwere Sommerluft riecht und fühlt, die Speisen schmeckt und all die Geräusche und Farben, die ein solcher Sommertag mit sich bringt, hört und sieht.
Schwer von Früchten neigten sich die Zweige, und die Luft schleppte sich in einem Duft, der süßer und sämiger als Honig war. (s. 21)
Catherine liebte die Mahlzeiten auf Wulf Hall. Die süße Butter, das würzige Brot, das Lamm in seiner Thymiankruste, die Taubenpastete, die gekräuterten Suppen. (S. 23)
Der Gedanke daran, dass von Wulf Hall nichts mehr übrig ist und daran, wie das Leben der Menschen, von denen erzählt wird, verläuft, hat mich beim Lesen ein wenig traurig gemacht.
Ein ganz wunderbarer Einstieg in das erste Kapitel.
Hier treffen wir auf Tom, der schon als Kind zunächst einfach nur ungestüm wirkt aber beim näheren Hinsehen so viele feine Nuancen in seinem Charakter aufweist, und Edward, der in seiner Ruhe und Besonnenheit und seiner Liebe zu Büchern zunächst das genaue Gegenteil zu sein scheint. Die Unzertrennlichen.
Sir John denkt auf dem Weg nach London an seinen Sohn Tom:
Wie immer, wenn John an seinen Sohn Thomas dachte, beschlich ihn ein Schwarm dunkler Ahnungen, obgleich der Knabe kerngesund und mehr als wohlgestalt war. Wüste Alpträume zeigten ihm seinen Sohn auf den hölzernen Stufen zum Schafott. Der Unfügsame bedurfte zu seinem Schutz einer strengen Hand, die derb den Stock schnalzen ließ und ihm den Starrsinn ausklopfte. (S. 28)
Dieser Wunsch, das eigene Kind zu beschützen und gleichzeitig zu wissen, dass dieser Schutz irgendwann vielleicht nicht mehr ausreichen wird, weil das Kind seinen eigenen Charakter und seine eigene Persönlichkeit hat, ist nur zu gut nachzuvollziehen.
Catherines Zuneigung zu Tom zeichnet sich schon in ihrer Kindheit ab. Auch hier finden sich Formulierungen, die wunderschöne Bilder schaffen.
Es war ein prächtiger Frühling, in dem sich Sonne und Regen die Hand reichten, so dass das wartende Grün die Erde platzen ließ. [...] Dass all die Kraft eines Tages wieder verblassen, graugelb und schließlich welk werden würde, war unvorstellbar. [...] Tom hörte zu balzen auf. "Cathie", sagte er. "Ich bin bald zwölf, schon so gut wie ein Mann. Vater schickt Edward und mich nach Ostern an den französischen Hof." Catherine sah es mit einem Schlag: Die Verwesungsfarbe, die sich als Schimmel auf das frische Grün setzen würde, die Wolken, die schon bald die Sonne schluckten. (S. 42).
Drei Sätze, die ich in einer Unterhaltung zwischen Catherine und Tom sehr schön finde: "Eben drum. Hübsche kannst du viele bekommen. Aber mich nur einmal."
Augenmerk liegt auf Catherine, die eine ganz besondere Persönlichkeit ist. Sie tat mir furchtbar leid, weil ihre Mutter sie gegen ihren Willen aus Wulf Hall wegbringt und obwohl Sir John die Vormundschaft für sie übernehmen wollte. Andererseits ist das Handeln der Mutter vor dem Hintergrund ihrer Zeit durchaus verständlich. Mit an den Hof nimmt sie Will und die liebreizende Nan, die in ihren Augen unscheinbare Catherine hingegen soll bei ihrem Onkel leben. Aus Sicht der Mutter die bessere Alternative als bei den Seymours, die Catherines Onkel als "Ein Haufen Parvenüs aus Wiltshire, die bei Hof nichts zu suchen haben." (S. 87) bezeichnet.
Zitat
Original von beowulf
Die Szene in der Kneipe in Cambridge hat mich schwer gegruselt. Ich war da ja schon mal- etwas später - mit einem deutschen Händler - ohne die Gebrüder Seymour aber auch mit Tynsdale. In der Besetzung ist aber das Bild, dass sich alle verabschieden und allein Miles Coverdale bleibt sitzen und zurück (S.57) sehr heftig- der einzige von den Gesprächspartnern der im Bett stirbt- alle anderen brennen oder werden geköpft.
Das finde ich auch heftig und sehr tragisch.
Zitat
Original von Liesbett
Ich reagierte eher betroffen, weil ich mich in Anne hineinversetzt hatte. Und Mitleid, weil es abzusehen war.
So geht es mir auch ... Sie handelt in ihrer Verliebtheit halt sehr naiv, weil es ihr gar nicht in den Sinn kommt, dass seine Absichten alles andere als ehrenhaft sind. Zudem darf man auch nicht unterschätzen, was zu diesen Zeiten für eine unverheiratete Frau der Verlust ihrer Jungfräulichkeit bedeutete.
"Du hättest es mir sagen sollen." [...] "Dass es das erste Mal ist, Schätzlein. Ich sehe ja aus, als hätte ich ein Schwein geschlachtet." (S. 64)
Ich mag Tom, aber das fand ich schon echt hart.
Catherines Leben bei ihrem Onkel verläuft einsam, die einzige Abwechslung sind Schriften, die Edward ihr zukommen lässt, und von denen niemand etwas wissen darf. Und immer wieder verleiht sie in Gedanken ihrem Wunsch Ausdruck, Latein zu können, um beten zu können und die Dinge zu erbitten, an denen ihr liegt. Der Wunsch, den sie an ihre Mutter äußert, ihr ein Lateinbuch zu schenken, stößt auf taube Ohren. Auch hier wiederum ist die Haltung der Mutter nachvollziehbar, denn die Tochter, die so unauffällig ist, soll sich nicht den Kopf mit Wissen vollstopfen, das sie nicht braucht (Obgleich Klugheit und Bildung an ein Mädchen vergeudet waren, da ein Staat wie dieser Frauen an seiner Lenkung keinen Anteil zubilligte.), sondern schön sein, um einen Ehemann zu bekommen. Daher ist es verständlich, dass sie ihr ein Kleid schickt anstelle des gewünschten Buches.
Dieser Satz gefällt mir auch gut: Was, wenn das Pult unter der Last des Tantenhinterns einbrach und seine Geheimnisse preisgab? 