Hallo, Emi
Hier dann auch ein paar Cents von mir zu Deinem Text.
Ich hoffe, Du kannst etwas damit anfangen.
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Der Titel ist klasse. Aber er ist auch riskant. Wedekind als literarische Assoziation wirkt bei denen, die das Stück kennen, automatisch wie ein "Lattehöherlegen". Willst Du Dich mit Wedekind messen? Die Absicht ist ja legitim, aber dann musst Du Dir den Vergleich gefallen lassen. Auch wenn das für Dich okay ist: Meiner Meinung nach legst Du damit gleich Deinem Text ein gewichtiges Maß an Vorbehalten auf den Packsattel. Bevor ich nur eine Zeile von ihm gelesen habe, frage ich mich schon, ob Dein Text dem Vergleich standhält. Das ist meiner Meinung nach zu früh.
Aber schauen wir mal weiter.
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Wind zerzauste sein Haar und ließ ihn leicht schwanken, als er die Augen schloss um den Geruch der frischen, lauwarmen Luft einzuatmen.
Hier passiert schon eine ganze Menge. Alles in einem Satz: Der Wind muss doch schon recht kräftig sein, dass Dein Protagonist ins Schwanken gerät. Gleichzeitig hast Du aber ein friedliches Bild (Augenschließen, frische, lauwarme Luft). Wie passt das zusammen? Meiner Meinung nach nur mit einem Kraftakt. Und der ist am leichtesten durch einen Punkt erreichbar: Hack den Satz in zwei. ("... ließ ihn leicht schwanken. Er (das wäre dann allerdings der Wind, grammatisch gesehen) schloss die Augen und atmete den Geruch ..."). Wenn Dein Protagonist einen Namen hat, entgehst Du nicht nur dem grammatischen Problem, sondern sorgst auch dafür, dass ich mich schneller mit ihm identifizieren kann (mit dem Protagonisten, nicht mit dem grammatischen Problem).
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Es roch nach Frühling und Freiheit und die Sonne schien ihm warm auf das Gesicht, doch als er die Augen einen Spalt weit öffnete, erstreckte sich vor ihm ein Meer aus kaltem, grauem Beton.
Okay, Mammutsätze mit Aufzählungen, die "die Richtung ändern", das scheint Dein Personalstil zu sein. Meiner ist es nicht. Ich glaube zudem, die Wucht, dessen, was Du als Emotion vorstellen willst, braucht auch eine gewisse Vorbereitung im Stil - mit anderen Worten
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Flache Dächer von hohen Bürogebäuden mit schmutzigen Fenstern lagen vor ihm.
Vor ihm oder unter ihm? Oder erstreckt sich vor ihm das Dächermeer? Oder wäre das zu poetisch?
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Er blickte an sich hinunter und sah seine ausgetretenen Schuhe ein Stück über den Rand des Daches ragen.
Gut, das mag bei Männern anders sein als bei mir, aber wenn ich an mir hinunterblicke, dann sehe ich eine ganze Menge mehr als ausgetretene Schuhe.
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Zwischen seinen Schuhspitzen hindurch konnte er die Menschen sehen, wie sie von einem Ort zum anderen hasteten, scheinbar ohne die Welt um sich herum wahrzunehmen.
Da muss Dein Protagonist aber recht breitbeinig stehen, um das alles sehen zu können. Vor allen Dingen aber bietest Du hier zwei Perspektiven zum Preis von einer an: Entweder sehe ich das Gewusel, oder ich schaue so genau hin, dass ich mir Gedanken machen kann, ob jemand von all diesen überhaupt seine Umwelt wahrnimmt. Für so etwas müsste ich ganz nah dran - das aber schließt das Wahrnehmen des Gewusels aus. Also, was nun, nah dran oder Draufsicht von ganz weit oben?
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Hupende Autos bahnten sich ihren Weg durch die enge Straße während ihre Abgase in grauen Wolken vom Wind weggetragen wurden.
Grammatik: Die Abgase der Straße? Hier ist sowieso wieder das gleiche Stilprinzip angewandt, das mich schon weiter oben störte.
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Er hasste jedes einzelne von ihnen, jeden Menschen, der sich dort unten in seinem eigenen Bewusstsein gefangen für den Mittelpunkt der Welt hielt.
Er hasste jedes? Wer ist jetzt jedes? Grammatisch sind es wohl die Autos. Und wieder springst Du, gleich geht es weiter mit den Menschen. Und woher weiß Dein Protagonist so genau Bescheid, was in den Köpfen der Wuselnden vorgeht? Klar, er denkt es sich, aber da fehlt jeder Hinweis. Hier müsste ich meiner Meinung nach wenigstens andeutungsweise erfahren, ob Dein Protagonist weltmüde ist von seiner langen Erfahrung oder ob er schlicht einen an der Klatsche hat.
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Jeden grauen Stein der Gebäude, die wie Gefängnisse den Blick in den blauen Himmel versperrten. Er drehte sich um und blickte hinauf zu den weißen Quellwolken, die sich strahlend vom blauen Himmel abhoben.
Warum betonst Du zweimal, dass der Himmel blau ist? Und wenn ich ihn mir so vorstelle, wie er sich dreht, denke ich gleich: "Wenn er dabei mal nicht vom Dach fällt, er stand doch schon sehr nahe an der Kante". Und, mit Verlaub, weiße Wölkchen und blauer Himmel, das ist Klischee. Und Du brichst das nicht einfach dadurch, dass nicht der Himmel strahlt sondern es ausnahmsweise einmal die Quellwolken tun. Wie sieht eigentlich eine Quellwolke aus? Will sagen: Warum benutzt Du hier diese genaue Bezeichnung?
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Die Sonne wärmte seinen Rücken als er die Arme ausbreitete und sich langsam nach hinten fallen ließ.
Das bedeutet, dass er eben in Richtung der Sonne geschaut hat, als er über die Dächer blickte. Warum musste er nicht blinzeln?
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Als sich seine Füße vom Dachrand lösten, schloss er die Augen und lauschte dem Wind in seinen Ohren.
Okay, nun fällt er. Das macht sein Umdrehen von eben aber nicht weniger gefährlich.
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Vor seinem inneren Auge sah er sich selbst vollkommen frei in einen Wolkenhimmel fallen.
Tut mir leid, aber das ist mir zu kompliziert. Ich muss mir gleichzeitig vorstellen, wie er fällt, und das, was er vor seinem inneren Auge sieht. Die grauen Dächer und der Wolkenhimmel, die schieben sich für mich aber nicht zu einem Bild zusammen. Geht ja auch nicht. Aber es ist anstrengend für mich als Leserin, die Bilder parallel zu sehen. Belohnst Du mich für meine Mühe in irgendeiner Form? Nö. Nicht mit diesem Schlusssatz:
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Glück durchströmte ihn, er war frei.
Das ist Klischee. Was heißt "Glück durchströmte ihn", wie fühlt es sich für ihn an? Spätestens hier ist es wirklich ein Problem, dass Du mir außer dem Geschlecht und den Zustand seines Schuhwerks jede Information über Deinen Protagonisten vorenthalten hast: Ein alter, lebenssatter Mann mag es für ein Glücksströmen halten, wenn ihm endlich die Füße nicht mehr wehtun, ein junger mag den Reiz des freien Flugs genießen. Oder es ist umgekehrt oder ganz ganz anders.
Du siehst, Emi, ich habe zu jedem Satz etwas anzumerken. Das macht Deinen Text nicht schlecht, ganz sicher nicht. Aber er wäre noch besser, wenn er mich so gefangen nehmen könnte, dass es mir schnurz wäre, wie beispielsweise Quellwolken nun tatsächlich aussehen. Du verstehst? Gut. Und ich weiß, dass das nicht einfach ist. Mut!
Grüssli, blaustrumpf