Zitat
Original von Oblomov
Schön, daß dieses Forum nicht vor dieser Diskussion zurückschreckt.
Unabhängig davon, wie man zu der von Grass geäußerten Meinung steht, ist aus meiner Sicht bemerkenswert, wie durch dieses Gedicht die Schicht offizieller Solidaritätsbekundungen der deutschen Politik und der Massenmedien mit Israel durchstoßen, und die massiven Meinungsunterschiede in der Bevölkerung freigelegt wurden.
Als Frau Merkel 2009 in Israel faktisch Beistandsgarantien für Israel aussprach, wie weiland Wilhelm II gegenüber Österreich-Ungarn, hat sich mir durchaus die Frage gestellt, wie viele deutsche Wähler dies eigentlich mit unterzeichnen würden. Es gibt in Deutschland einige Politikbereiche, in denen durchaus weitgefächerten Überzeugungen der Öffentlichkeit eine geradezu blockparteienhafte Einheitsmeinung der Traditionsparteien CDUCSUFDPSPDGRÜNE sowie der Massenmedien gegenübersteht. In diesen Politikbereichen gibt es in Politik und Medien allenfalls einmal Kritik an Detailfragen, grundsätzliche Kritik ist jedoch offensichtlich weder erwünscht noch zulässig. ...
Hier offenbart sich eine im Grunde antidemokratische Grundhaltung unserer Politik- und Medieneliten, die den Bürgern misstrauisch gegenüberstehen, als sei der Aufstieg Hitlers nicht wesentlich ein Versagen gerade dieser Eliten gewesen.
Was Israel betrifft, wird z.B. nicht einmal die Frage gestellt, warum Merkel gemeinsame Kabinettssitzungen mit Leuten hat, mit denen man diese nie hätte, wenn sie z.B. aus Österreich oder Dänemark kämen. Israels Außenminister Lieberman ist nach europäischen Maßstäben ein Neofaschist, gegen den ein Haider geradezu liberal wirkte. Israels Innenminister ist Mitglied der politischen Partei eines Rabbis, der sich von den Mullahs in Teheran nur in der Religion, aber nicht in der Geisteshaltung unterscheidet.
Diese Truppe hat es geschafft, selbst die Beziehungen zu freundlichen Staaten wie der Türkei und Jordanien nachhaltig zu ruinieren.
In dieses selbstgemachte Bett mag sich Israel gerne legen. Verantwortung gegenüber den Opfern des Holocausts bedeutet nämlich durchaus nicht, daß wir Deutschen in Nibelungentreue zu jeder noch so aggressiven und fehlgeleiteten israelischen Politik zu stehen haben.
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Dieser bemerkenswerte Beitrag motiviert mich, das Thema ebenfalls noch einmal - vor dem Hintergund der bisher hier leidenschaftlich vorgetragenen Positionen - aufzunehmen.
Zunächst: Immer wenn der Künstler Grass sich politisch äußert, leidet seine Kunst. Mit Verlaub: Das konnte Walther von der Vogelweide, in dessen Tradition er sich vermeint, besser. Seine „Gedicht“-Zeilen hätte er ohne Wertverlust so lang ausdehnen können, wie die Druckseite es erlaubt. Er nennt es „Kunstprosa“, ich nenne es gestelzte Pseudopoesie. Warum kann ein Künstler nicht einfach seine Meinung sagen, wie jeder andere auch, etwa in Form eines Essays? (Es sei denn, seine Kunst reichte aus, um die Überzeugungskraft der Gedanken zu befördern.)
Also, wenn es um die Auseinandersetzung mit der Grass’schen Meinung geht: Nur keine Scheu! Man begeht, wenn man ihn kritisieren will, kein Sakrileg, nur weil er seine Druckzeilen nicht vollständig genutzt hat.
Nun zur Sache: Gedanklich bewegt sich Grass hier in der Nachfolge von Martin Walser, der bereits vor einigen Jahren sich darüber beklagte, dass man in Deutschland nicht mehr seine Meinung sagen dürfe, wenn sie nicht im Einklang mit der political correctness stehe. Recht haben sie beide. Diese von Politik und Presse verordnete Gedankengängelung ist zum Kotzen, auch wenn sie die Folge furchtbarer Verbrechen ist!
Man muss also die Politik des Staates Israel verurteilen dürfen, ebenso wie die Larmoyanz jüdischer Verbandsfunktionäre, die immer an der Klagemauer stehen, wenn auch der leiseste Hauch von Äußerungen ihnen ins Gesicht bläst, die ihnen ihre schmerzlich erworbene Meinungsführerschaft streitig machen. In die Reihe der Leidtragenden solchen verordneten Denkens gehört auch – bei aller berechtigten Kritik an einzelnen unerträglichen Thesen, in die er sich versteigt – Thilo Sarrazin. Ganz nach dem Motto von Presse, Funk und Fernsehen: Schreit ihn tot, damit er uns nicht unsere mühsam aufrecht erhaltenen Gedankenpfründe nimmt. In der Sache, dass man Israel auch die unbequeme Wahrheit sagen dürfen muss, hat Grass völlig recht. Dazu gehört zweifellos auch die Kritik an dem Besorgnis erregenden Säbelrasseln dieser mittelöstlichen Atommacht.
Allerdings hätte ich mir – was die gedankliche Gegenüberstellung des Staates Israel mit dem Iran anbetrifft – etwas mehr Differenzierung gewünscht. Der iranische Wortführer ist mitnichten nur ein Maulheld. Er ist gefährlich, noch (!) nicht einmal wegen der bislang unbewiesenen atomaren Aufrüstung, sondern allein – und das macht den Unterschied aus – wegen der Tatsache, dass aus Sicht der iranischen Machhaber nicht nur ein Regime beseitigt, sondern ein ganzer Staat (Israel) ausgelöscht werden soll. Das darf man keinesfalls unter den Teppich kehren, ist es doch eine fürchterliche Bedrohung eines ganzen Staates und seines geschundenen Volkes, das seit seinem Bestehen um seine nackte Existenz kämpfen muss.
Ich fasse zusammen: Es ist durchaus zulässig, dass Grass seine Ängste äußert, trotz mancher gedanklicher Undifferenziertheit. Es wäre allerdings wünschenswert, wenn den Nobelpreisträger nicht mehr die Selbstverliebtheit dazu verleitete, politische Äußerungen auf das Podest erhabener Kunst sublimieren zu wollen.