Mit Urlaubsverspätung gepostet, aber vor dem Urlaub geschrieben
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Es gab diesmal nicht weniger gute Texte im Wettbewerb als in den anderen Monaten. Nur mehr schlechte.
Leider ist es ein fataler Irrtum ist, dass jeder, der schreiben kann, meint, auch schreiben zu können. Nicht jeder, der auf einer Geige herumkratzt, ist ein Musiker. Aber wer sich dem Wettbewerb stellt, stellt sich auch der Kritik...

Ich kommentiere diesmal in der Reihenfolge meiner persönlichen Rangliste:
Texte, die Punkte verdient hätten:
Krokodile
Wieder mal eine Eulen- und Schreibgeschichte. Phantasievoll, szenisch gut gestaltet. Ich weiß zwar nicht, ob der Autor mit den Ohren wackeln kann, aber Dialoge schreiben, das kann er! (3 Punkte) 
Das Los der Lady Liberty
Ich liebe innovative Metaphern, die funktionieren! Und die zum bloßen Symbol erstarrte Freiheit im Post-9-11-New-York ist ein wunderschönes Bild für die Paradoxie der Bushschen Politik zur "Verteidigung der freien Welt" durch Einschränkung der Menschen- und Freiheitsrechte.
Ich bin begeistert. Werde für die Freiheit kämpfen! Umgehend! Gleich morgen fang ich damit an...
(2 Punkte)
Wolkenfängerin
Wow. Sehr einfühlsam erzählte Geschichte einer Selbstauflösung.
"Ich bin ganz ruhig, als man ihren Körper leer vorfindet" – ein toller Satz! Mir sind ein Tick zu viel Wolken im Text.
(1 Punkt)
Marthaler
Hinterhältig erzählt, das mit dem "Unfall" in den Bergen, das gefällt mir. Marthaler bringt also erst Susanne um die Ecke, dann seinen Sohn, damit sein Schwanz verpflichtungsfrei den Vergnügungen mit Olga nachgehen kann.
Kann ein Mensch wirklich so herzlos sein? 
(Wieso heißt Marthaler eigentlich Marthaler und die anderen Figuren werden alle beim Vornamen genannt?) (Platz 4)
Pitbull und Pinguin
Die Beleidigung des Rollstuhlfahrers finde ich geistig unter Bauchnabelhöhe. Damit verspielt der Prüfling bei mir gleich alle Sympathiepunkte.
Gehe ich recth in der ANnahme, dass der Autor versucht, die letzten Monat in Toms Text so schnöde übergangenen Eulenautoren ein bisschen zu rehabilitieren?
Literarisch sind die Assoziationen allerdings leider weder aus der Psychologie der Figur noch aus der Geschichte einleuchtend motiviert.
Deshalb leider durchgefallen.
(Platz 5)
Texte mit guten Ansätzen:
Plagiat
Die Idee gefällt mir. Ich möchte nicht wissen, wie viele Autoren vor Lesungen schon ähnliche Alpträume hatten... 
Allerdings:
"Nicht nur sein schriftstellerisches Werk, nein, auch sein ganzes Leben, seine Person war plötzlich infrage gestellt.", " Das war das endgültige Ende, der absolute finale Todesstoß!"
Ein bisschen arg dick aufgetragen, oder? Da müsste ja der Großteil der Unterhaltungsliteratur voller weißer Seiten sein... 
Und wieso sind beide Bücher leer, wenn nur das eine ein Plagiat ist, das andere aber anscheinend selbst geschrieben? Wieso ist niemandem der Unterschied im Stil der beiden Bücher aufgefallen? Wieso muss es überhaupt 2 Bücher geben? Mir gefiele es besser, wenn das Plagiat ein Erstlingswerk wäre, mit dem Frei über Nacht zum Bestsellerautor avanciert.
(Und bitte bitte nicht die Überraschung der Geschichte, den Wendepunkt, schon im Titel verraten!)
Über den Wolken
Das fängt gut an, da wird eine Riesenspannung aufgebaut, man erwartet eine tolle Auflösung --- und dann kommt die Diagnose "Aviophobie". Da stürzt der Leser wie der Protagonist ins enttäuschend Banale. Schade.
Einblicke
Niedliche Geschichte. Aber dass Jungs, die alt genug sind, um allein in den Urlaub zu fahren und Kleinanzeigen zu studieren (und zudem mit großen Schwestern aufwachsen), noch nie ein nacktes weibliches Wesen gesehen haben, kommt mir in der heutigen Zeit ziemlich unwahrscheinlich vor... 
Das Cryo-System
Hm. Eine Welt in 90 Jahren muss eine sehr fremde sein, die Einsamkeit des Zeitreisenden eine totale. Das will ich konkret erfahren. Die dargestellte Welt scheint mir aber leider eine sehr banal heutige: Flughäfen, Schaufenster, Speicherchips, Gummibänder und Hosentaschen. Gibsons "Neuromancer" und der Film "Demolition Man" (eine wunderbar ironische Version von Huxleys "Brave New World") sind da wesentlich phantasievoller!
Genauso unkonkret bleiben die "schwerwiegenden" Taten. Alles bleibt zu abstrakt, als dass der Leser sich identifizieren kann mit dem Protagonisten. Deshalb können mich auch die Tochter und das Ende nicht rühren.
Zuviel gewagt
Dass es sich um ein Tier handelt, habe ich beim ersten Satz gemerkt. Ich hätte zuerst auf eine Maus getippt.
Leider funktioniert die Geschichte weder als Fabel noch als psychologisch glaubwürdige Betrachtung aus Fliegensicht: "Verzweiflung" kommt im fliegischen Seelenrepertoire höchstwahrscheinlich nicht vor, das würde die Fähigkeit zu komplizierter Selbstreflexion voraussetzen. Die Kalender, Atlas, Thermometer und Vergleichsmöglichkeiten für andere Klimazonen dürften ihr kaum zugänglich sein. Außerdem frieren Fliegen nicht. Fliegen legen Eier und verschwinden und reden folglich nicht mit ihren Müttern. Fliegen besitzen keinen Magen. Wenn eine Fliege wüsste, was ein Fenster ist, würde sie nicht dagegenfliegen...
Der Tiger und der Zauberer
Eine Kindergeschichte. Nuja. Da tauscht ein Tiger seine Gitterstäbe gegen die Abhängigkeit von einem Menschen ein. Diese Deutung der Parabel ist wohl nicht beabsichtigt, aber erscheint mir die interessantere... 
Der Tod des Marat 2093
Ehrlichgesagt: Ich versteh den Text nicht. Man erfährt nur Bruchstücke von Informationen, eher eine Skizze als eine Geschichte, das ist zu wenig für mich, um in den Text hineinzufinden, damit die Figuren mich berühren.
Endlich
"Dort steht er, der teure protzige Sarg aus Eiche mit den goldenen Beschlägen. In ihm liegt mein Mann. Alt, krank, ungeliebt und schon fast vergessen." – Wie gemein, einen kranken Mann in einen Sarg zu sperren und darin zu vergessen. Man sollte ihn doch wenigstens gelegentlich füttern... 
Ich wünsche mir in dieser Geschichte mehr Raffinesse und Bosheit, ich will mehr über die Schandtaten des Typen erfahren, auch die Dame ist mir einfach zu harmlos und brav.
"In mich hineingrinsend frage ich mich, ob er wohl je geahnt hat was seine Krankheit ausgelöst hat?" – die Pointe wird schon in der Mitte des Textes verraten. Schade. Diesen Satz würde ich an den Schluss setzen statt des " Endlich haben meine Bemühungen den gewünschten Erfolg gehabt."