Beiträge von Bernard

    Für mich hat die Geschichte grob zwei Stränge: Clément und seine Familie einerseits und parallel dazu Ghislain und die Oberschicht inklusive Widersacher. Diese Handlungsstränge kreuzen sich innerhalb des Buches immer wieder, verflechten sich aber kaum.


    Der Ghislain-Strang setzt in diesem Leseabschnitt für mein Empfinden neu an. Ich frage mich, ob er vielleicht sogar komplett ohne das Vorwissen aus den anderen Leseabschnitten funktioniert hätte: Ein scheinbarer Landstreicher (Ghislain) wird von einem sadistischen Adligen (Donatien) in den Wald gebracht, um dort erhängt zu werden, dann für ihn selbst überraschend befreit und erfährt anschließend über seine Abstammung ... Aber dann wären uns die vielen interessanten Szenen zuvor entgangen.
    Mir gefällt das neue Personal gut. Das gilt sowohl für Donatiens Schergen mit dem Riesen und dem einäugigen Bogenschützen als auch für den treuen Kämpen Renaud aus Ghislains Lager. Bei letzterem mag ich, dass er wie ein "echter Krieger" handelt, nicht wie ein verklärter Märchenritter, als er den Feind seiner Herrin gnadenlos umbringt. Er scheint sogar Gefallen an der Furcht seines Feindes zu finden.
    Etwas schade finde ich, dass Donatien, Alissende und die anderen "üblen Typen" nur Randfiguren sind. Ich finde sie interessant und hätte gern mehr aus ihrer Sicht gelesen, zum Beispiel auch, wie Donatien und Alissende zueinander stehen. Da haben sich ja zwei Sadisten gefunden. Terrorisieren sie nun mit vereinten Kräften ihre Umgebung, oder machen sie sich lieber gegenseitig das Leben zur Hölle? :teufel


    Im anderen Strang fällt mir auf, dass die Kinder wieder "Clément" und "Edwige" denken statt "Mama" und "Papa". Schade.
    Auch hier gibt es viele starke Szenen. Die Eltern mit der kranken Margaux etwa - beide reagieren ganz unterschiedlich, dennoch sind beide Positionen verständlich. Hier zeigt die Autorin ihr Können, indem sie ein und die gleiche Szene aus zwei Blickwinkeln verdeutlicht.
    Wenn ich mich an Lises Geschichte erinnere, meine ich, dass es immer nur Frauen sind, die sie wegen ihrer Schwangerschaft schlecht behandeln. Die Männer scheinen das lockerer zu sehen. Überhaupt kommt für mein Empfinden Clément sehr gut weg - er ist der große Sympathieträger in dem Buch. Deswegen erzeugt es auch Spannung, dass ausgerechnet ihm das Ende seiner Karriere droht, als am Schluss des Leseabschnitts die Verwundung seiner Hand beschrieben wird.
    Lise hat mit der Geburt ihres Kindes und mit ihrem Selbstmord noch einmal ausgesprochen starke Szenen, danach wird der komplette Erzählfaden inklusive Kind gekappt. Okay, warum nicht? Die Figur wurde wohl ausgereizt und genug offene Fragen für die verbleibenden zwei Leseabschnitte gibt es allemal.


    Zitat

    Original von ottifanta
    Das Tempo der Erzählung zieht deutlich an.


    Eine interessante Wahrnehmung, für mich hat es sich umgekehrt angefühlt, als ein eher ruhiger Leseabschnitt. Das liegt wohl auch an dem Eindruck, dass hier in vielen Aspekten neu angesetzt wurde.

    Dieser Leseabschnitt hatte für mich Licht und Schatten, was mein Lesevergnügen betraf.
    Ich fange mit dem Schatten an: Die Szene, in der der Messerwerfer das Attentat auf Ghislain verübt, ist für mich unglaubwürdig. Ich versetze mich dabei in den Attentäter hinein. Warum, um alles in der Welt, sollte ich den Mord während einer Feier verüben, umgeben von 100 Zeugen, im Haus von jemandem, der meinem Vorhaben nicht wohl gesonnen ist und der auch noch über eine Menge Bewaffneter gebietet? So blöd kann man doch gar nicht sein, dass einem nicht klar ist, dass man da nicht entkommen kann. Wenn ich also der Attentäter wäre, würde ich so ziemlich alles machen, nur nicht das. Zum Beispiel dem guten Ghislain folgen, wenn ihn mal ein menschliches Bedürfnis drängt, und die Sache im Schatten durchziehen. Oder ihm erzählen, dass wir doch beide hervorragende Gaukler sind und mal zusammen eine Nummer einstudieren sollten (dabei könnte ich dann einen "Unfall" provozieren). Falls der Attentäter samt seiner zwei Komplizen nicht auf so etwas kämen, dann hätte ich Ghislain zumindest mit dem ersten Wurf direkt angegriffen und ihn nicht durch Vorführung meiner Kunststückchen gewarnt. Zudem gefällt mir die Szene auch sprachlich nicht. Ich mag keine lautmalerischen Darstellungen wie "Tschack", ich finde die Erzählung wirr (musste ein paar Passagen doppelt lesen um zu verstehen, wer wann was macht) und zudem die Kunstfertigkeit des Messerwerfers übertrieben, wenn er selbst mit geschlossenen Augen so zielgenau werfen kann, als hätten seine Werkzeuge einen Leitstrahl.
    Man merkt: Diese ganze Szene ist für mich der Tiefpunkt des Romans.


    Weniger schlimm, aber auch zu einem Stirnrunzeln Anlass gebend ist für mich die Verführung von Lise. Sie erscheint mir für eine junge Frau des Mittelalters etwas naiv. Die schamhafte Vermeidung sexueller Themen ordne ich deutlich später ein - vielleicht im Biedermeier. Immerhin schläft Lise oft mit Vater und Mutter in einem Zimmer, da sollte sie Einiges mitbekommen. Auch die den Sinnenfreuden eher abgeneigte Grundhaltung würde ich nicht mit der katholischen Religion in Verbindung bringen, sondern mit protestantischer Sittenstrenge, und dazu spielt der Roman zu früh. Aber okay, in der Welt des Romanes ist das so - meinetwegen.


    Jetzt habe ich viel im Negativen gewühlt, Zeit, zu dem zu kommen, was den Roman auch in diesem Leseabschnitt noch überdurchschnittlich macht:
    Die Ankunft des Werbers war für mich schön erzählt. Es begann ähnlich wie die Adoptivgeschichte im ersten Leseabschnitt - mir war sofort klar, dass der junge Adonis wohl nicht der Bräutigam ist. Ich gebe zu: ich rollte die Augen. :rolleyes Aber: Im Gegensatz zum ersten Leseabschnitt führt mich die Autorin hier gekonnt in die Irre und überrascht mich damit, dass auch der ältere Knabe nicht der Bräutigam ist, wovon ich seit seinem ersten Auftreten ein paar Seiten früher fest ausgegangen bin. Dieser "Twist" hat mir gut gefallen.


    Foulques' Tod war für mein Empfinden ebenfalls eine ausgesprochen starke Szene. Nicht, weil ich einen Anschlag Thomas' vermutet hätte, sondern, weil er als etwas so Alltägliches geschildert wird. Sicher, zunächst sind alle bestürzt, aber noch bevor sich die Augen endgültig schließen, wird bereits weitergearbeitet. Hier wird die Einstellung der damaligen Menschen zum Tod für mich greifbar. Das ist eine reife Leistung der Autorin, denn diese Akzeptanz unterscheidet sich ja deutlich von der heute üblichen Verdrängung. Statt: "Das kann doch gar nicht sein!" ist es hier: "Traurig - aber solche Dinge passieren." Wirklich sehr, sehr gut geschrieben, auch in der einfühlsamen Passage der Sterbebegleitung durch Clement, bei der die religiöse Verwurzelung der Figuren nochmals besonders in den Vordergrund tritt. Dieser religiöse Resonanzboden ist ohnehin etwas, was den Roman als Untergrundströmung durchzieht und das Geflecht der erdachten Welt zusammenhält.


    In diesem Leseabschnitt tritt auch Alissende ins Rampenlicht. Sie ist im Moment die Figur, die mich am meisten interessiert. Eine lupenreine Sadistin, so schätze ich sie ein mit ihrem Vergnügen an sterbenden Tieren und Menschen. Damit könnte sie mit Donatien ein schönes Paar abgeben. Der taucht ja auch wieder auf. Das ist doch eine vielversprechende Besetzung - also auf in den nächsten Leseabschnitt.

    Sicher braucht eine Geschichte stringenz.
    Nur: Der Autor hat alle Freiheiten - bezogen auf seinen Roman ist er Regisseur, Kameramann, macht das Casting, sitzt im Schneideraum ...
    Deswegen akzeptiere ich das Argument "die Figur ist eben so angelegt, dass sie so handeln muss" nicht. Wenn das "so handeln müssen" zu einer langweiligen Handlung führt, dann soll der Autor bitte die Figur feuern und durch eine ersetzen, die interessanter handelt.
    Mir gefällt "Die Kapelle der Glasmaler" bislang sehr gut, aber in Bezug auf diese Adoptionsgeschichte erlaube ich mir den Luxus einer eigenen Meinung und die lautet in diesem Fall: keine Gnade! :schlaeger

    Zitat

    Original von ottifanta
    Ich glaube, dass Ghislain bei Alix Freundschaft und auch körperliche Nähe sucht. Diese Nähe hatte er seit frühster Kindheit nicht mehr und außer Alix und der Glasmalerfamilie kennt er in Paris niemanden.


    Ich meine mich zu erinnern, dass geschildert wurde, dass er inzwischen einige Gaukler getroffen hat, die er schon seit seiner Kindheit trifft, zum Beispiel den kleinen Messerwerfer.

    Im vorigen Leseabschnitt merkte ich an, dass Jehanne von ihren Eltern mit dem Vornamen denkt anstatt, wie mir passender erscheint, als "Papa" und "Mama". In diesem Leseabschnitt ist das anders (S. 196ff). Kirsten hat bereits angemerkt, dass sie beim Schreiben eine gewisse Zeit benötigt, um sich in die Figuren hineinzufinden - wäre es übertrieben, hier einen Zusammenhang zu vermuten? Jedenfalls werden die Figuren für mich immer greifbarer.
    Dieser Leseabschnitt hatte viele schöne Szenen, zum Beispiel das Wiedersehen von Jehanne und Ghislain, bei dem sie ihn "durch die gespreizten Finger" beobachtet. Ein interessantes Detail ist hier, dass sie die Entstellungen in seinem Gesicht nicht zu bemerken scheint, die ihm durch die Gerte de Luzys beigebracht wurden. Vielleicht ist die Narbe doch nicht so schlimm, wie er selbst sie einige Seiten später wahrzunehmen scheint?
    Auch schön ist das Entfernen des pieksenden Strohhalmes aus der Matratze des Bettes - eine Feinheit, die die Alltagswelt der damaligen Zeit für mich greifbarer macht.
    Mit Thomas betritt ein rechter Schurke die Bühne. Er schlägt seinen Sohn, nutzt seine Haushälterin aus, ist ein prototypischer Egoist, Selbstmitleid eingeschlossen. Da hilft es auch nichts, dass er Lise durchfüttert - man unterstellt ihm direkt ein niederes Motiv dazu, irgend eine Art von Rache an den Eltern.
    Die Sexszene im Badezuber sowie Ghislains Affäre überhaupt erscheint mir etwas unmotiviert, aber ganz nett.
    Ich habe das Gefühl, dass in diesem Leseabschnitt das Lektorat nicht ganz so gründlich war wie zuvor. Es gibt ein paar fragwürdige grammatikalische Konstruktionen (S. 220 "wendete" statt "wandte", S. 178 "ergreifen hätte können" statt "hätte ergreifen können", S. 275 Genitivbildung "Mersandas de Luzy" statt "Marsanda de Luzys", S. 295 fehlendes Wort bei "Ihre Finger ... verschwanden in seiner.", sowie ein paar weitere, die mir aufgefallen sind).
    Das Sprachniveau als solches empfinde ich nach wie vor als erfrischend. So wird etwa eine Zeitspanne mit "ein Zögern lang" bezeichnet. Solange eine Autorin die von mir geschätzte Vorvergangenheit so ausgiebig anwendet wie auf Seite 180f verzeihe ich ohnehin alles.


    Zitat

    Original von Nomadenseelchen
    Das mit dem Klauen habe ich jetzt nicht in Erinnerung ...


    Sein Adoptivvater denkt glaube ich mal daran, dass Ghislain auch im Beutelschneiden gut ist.


    Zitat

    Original von Herr Palomar
    Beispiel für Alix auf Seite 286: Ghislain zu Alix: "Es heißt, Frauen deines Schlages wissen viel."
    Ohje, was hat sich Ghislain da für einen Fauxpaux erlaubt, aber Alix ist schlagfertig und schießt zurück: Ansonsten verkehre ich nur mit feinen Herren."


    Hm, bei mir steht: "Ansonsten verkehre ich selten ... mit feinen Herren."

    Wie läuft eigentlich die Recherche zu so einem historischen Roman ab?
    Die historisch relevanten Tatsachen kann man ja sicher an vielerlei Stellen nachschauen, aber was die "Kapelle der Glasmaler" so interessant macht, ist für mich die Glaubwürdigkeit des Alltags. Wie recherchiert man die Frage, wie eine ganz normale Straße im 13. Jahrhundert aussieht? Oder wie ein Mensch der damaligen Zeit die Welt wahrnimmt?

    Zitat

    Original von Liesbett
    Ich finde es keineswegs grenzwertig, es gibt ja nur zwei Möglichkeiten: mitnehmen (Buch geht weiter) oder zurück lassen (Junge stirbt, Buch ist zu Ende).


    Erstens erzwingt die Story ja keine Adoptionsgeschichte, zweitens hätte auch diese noch unzählige Varianten gehabt und drittens ist es Aufgabe der Autorin, originelle Plots zu ersinnen, das ist ihr Job. Ich persönlich mag vorhersehbare Plotstränge eben nicht so sehr und bin daher froh, dass das Buch viele überraschende Passagen enthält - nur leider gehört diese nicht dazu.

    Was ich im letzten Leseabschnitt noch als stilistische Besonderheit bemerkt hatte, erscheint mir in diesem als Schwäche des Romanes, nämlich die Eigenheit, beim Erzählen nicht an einer Perspektivfigur haften zu bleiben. Die Perspektivwechsel im Erzählfluss stören mich nicht, sie machen mir eher noch Spaß. Allerdings führt nach meinem Eindruck dieses "Nicht-Verhaftetsein" leider manchmal dazu, dass die Sichtweise einer Figur nicht konsequent dargestellt wird, man nicht vollständig in die Figur eintaucht, vielleicht auch die Autorin sich beim Schreiben nicht ganz auf ihre jeweilige Perspektive eingelassen hat. Wenn man beispielsweise aus Jehannes Sicht eine Szene beobachtet, hätte ich erwartet, dass sie "Vater" oder "Papa" denkt, nicht Clement, Gleiches bei der Mutter. Solche Feinheiten hätten mich noch mehr in die Geschichte mit hineingenommen.
    Es gibt noch weitere kleine Schwächen; dass ein "Bleinetz" aus "Blei" gemacht wird, wird jedem klar sein, und auch der "Schweiß auf der Oberlippe" bildet sich bei verschiedenen Figuren immer wieder. Auf S. 141 "umringen" zwei Personen ein Bett (zwei Leute sind zum "Umringen" dann doch etwas wenige ...), eine Seite später "drehen sie sich zu ihr um", damit ihr dann im nächsten Satz "ihre Blicke zufliegen" - das hätte man in einem Satz zusammengezogen dichter erzählen können. Was mir persönlich auch nicht klar ist, ist das Verfahren der Herstellung von Glasbildern - werden die nun gemalt (wie auf S. 140 angedeutet) oder aus buntem Glas zusammengestückelt (wie man nach den Einschüben mit der Glaserin meinen könnte)? Ich bin sicher, dass kluge Leute die Antwort kennen, aber mir erschließt sie sich aus dem Text bisher nicht.
    Was mir im formalen Bereich positiv auffällt, sind Rechtschreibung und Grammatik. Hier sind mir keine Fehler ins Auge gesprungen, was sich angenehm mit dem allgemein hohen sprachlichen Niveau ergänzt.


    All das sind Nebenbemerkungen. In der Hauptsache bleibt mir von diesem Abschnitt ein großes Lesevergnügen im Gedächtnis. Der Überfall durch den Gesetzlosen, das Schlitzohr, ist meisterhaft erzählt. Zu Beginn spekulierte ich noch, ob vielleicht Ghislain durch die harte Zeit zum Strauchdieb geworden sein könnte, war dann aber doch froh, ihm stattdessen als heldenhaftem Retter wiederzubegegnen. Die Welt des Buches ist greifbar, nicht zuletzt durch die schönen Details mit Käfern, Ameisen und Spinnen (S. 118), vor allem aber, weil sie sich echt anfühlt. Nichts passiert einfach, weil es dem Leser ein wohliges Gefühl gäbe. Ein Räuber ist kein Robin Hood, sondern ein verzweifelter Mann, der versucht, durch seine Brutalität zu überleben. Das Gepäck wird geklaut und bleibt verschwunden. Trotzdem ist nicht einfach alles Brot, Not, Tod: Das Kind überlebt, obwohl es zunächst für tot gehalten wird. Die Figuren sind nicht allwissend, können sich auch einmal irren. Durch solche Wendungen hat mich die Autorin inzwischen soweit, dass echte Spannung aufkommt, weil ich ihr sowohl das "bad end" als auch das "happy end" zutraue.



    Zitat

    Original von Bouquineur
    In Jehanne vermute ich auch die Frau, die in den Zwischenkapiteln an der Entstehung des Glasfensters arbeitet.


    Auf den Gedanken bin ich bislang nicht gekommen, aber jetzt, wo Du es schreibst, erscheint es mir plausibel ...


    Zitat

    Original von Liesbett
    Die Einführungen über andere Personen finde ich auch wunderbar


    Da schließe ich mich an.

    Ich beginne mit der Aufmachung des Buches. Mir gefällt das Titelbild, ich mag es, wenn mich auf einem Buch jemand anguckt, Granatäpfel sind etwas Feines und das Fensterbild im Hintergrund passt zum Titel mit den Glasmalern. Von der Dicke her kann ich das Buch noch gut in der Hand halten, es ist aber an der Grenze, viel dicker dürfte es nicht sein. Ich finde die Schrift nicht zu klein, allenfalls die gewählte Type wirkt auf mich ein wenig spröde.


    Der Einstieg in die Geschichte hat mich überzeugt, sowohl insgesamt als auch en detail. Es beginnt mit Wind und Geruch, die Autorin nutzt also eine Stärke des Mediums: Sinneseindrücke jenseits von Tönen und Optik vermitteln zu können, mit denen man ohnehin in Fernsehen und Kino zugeschüttet wird. So, wie das Buch gewissermaßen "an die Hintertür" der menschlichen Sinneswahrnehmungen klopft, poltert auch die Welt der Geschichte nicht lärmend herein, sondern ganz sacht, beinahe behutsam. Eine Szene hier - eine Szene dort, und ehe man sich versieht, hat man einen Eindruck von der Romanwelt gewonnen. Diese Orientierung ist wichtig, schließlich will ich als Leser in der Gegenwart abgeholt und dann 750 Jahre zurückgeführt werden, ohne das Gefühl zu bekommen, in einer Filmkulisse zu stehen. Es soll sich echt anfühlen und bei der "Kapelle der Glasmaler" tut es das.


    Mir gefallen vor allem die kurzen Szenen mit der Glaserin. "Hohe Wände aus buntem Licht" - sehr schön beobachtet, das konnte ich direkt wiedererkennen. Für mein Empfinden sind viele Kirchen tatsächlich aus Licht gebaut (ich saß heute noch vor dem neuen Südfenster im Kölner Dom, da wird der Eindruck besonders deutlich, dass man das Licht als Bauelement eingesetzt hat).


    Auch gut gefallen hat mir der Sadist Donarien. Nicht, dass ich ihn gern kennen lernen würde, aber er wirkt plastisch, "echt". Zudem manchmal überraschend, wenn er beispielsweise eine Zeitspanne in der "Länge von zwei Ave Maria" misst.


    Eine stilistische Besonderheit scheinen mir die Perspektivwechsel zu sein; eine Szene beginnt aus der Perspektive einer Figur und dreht dann während der Beschreibung zu einer anderen, etwa auf S. 50. Das erfordert Aufmerksamkeit beim Lesen, damit man nicht die Orientierung verliert.


    Die Adoption durch Loup finde ich grenzwertig. Einerseits absolut vorhersehbar - sobald der Jongleur am Ort des Geschehens auftauchte, rechnete ich damit, dass er sich des Jungen annähme. Andererseits dadurch gerettet, dass die Szene frei bleibt von Kitsch. Loup denkt pragmatisch, muss sich erst zur guten Tat durchringen, hat einige wenig sympathische Gedankengänge ...
    Leider ebenso vorhersehbar fand ich, dass die Kette mit dem Medaillon so etwas ist wie die Brotkrumen bei Hänsel und Gretel, also die Spur zur Herkunft. So interessant der Grundplot auch ist, auch ich möchte gern erfahren, was denn hinter dem Bruderzwist stand, ist diese Art des Spurenlegens spätestens seit "Conan, der Barbar" nicht mehr aktuell. Andererseits lese ich immer wieder gern einen Conan-Roman, also wird mich das nicht abschrecken.


    Was noch? Manchmal ist die Sprache nicht exakt, etwa auf Seite 30, wenn mit "unverminderter" Kraft zugeschlagen wird. Das würde aber voraussetzen, dass bereits zuvor geschlagen wurde (mit einem gewissen Kraftniveau) und dieses dann beibehalten würde. Hier beginnt man aber gerade erst mit dem Schlagen, also wäre wohl "brutale" oder "ungebremste" Kraft glücklicher gewesen. Auch gibt es ein paar ermüdende Wortwiederholungen, bspw. auf S. 58 (Ohrringe in den Ohren) oder S. 76 (Kräuter und Kräutern), aber das fällt überhaupt nur auf, weil das allgemeine Sprachniveau deutlich über dem liegt (ich bin versucht zu schreiben: "schwebt"), was uns der Einheitsbrei sonst so zumutet.


    In Summe: Ich bin in der Romanwelt angekommen, habe bei der Handlung Witterung aufgenommen und, wenn auch mit etwas säuerlichem Gesichtsausdruck, sogar den Köder mit dem Medaillon geschluckt - jetzt möchte ich wissen, wie es weitergeht.

    Zitat

    Gibt es heute überhaupt noch Gegenden, wo alle Kinder einer Schule katholisch sind? :gruebel


    Vielleicht keine Gegenden, aber Institute/ Einrichtungen ganz sicher - konfessionsgebundene Schulen und Internate. Aber da wäre es ja auch von vornherein abwegig, jemanden hinzuschicken, der nicht der Konfession angehört - ungefähr so, wie jemanden auf eine Musikschule zu schicken, der mit Instrumenten nichts anfangen kann.

    Die Frage von Ausgrenzung oder nicht scheint mir eine Frage von "Wir-Gruppen" zu sein. Identität durch Abgrenzung etc.
    Es gibt Gemeinden, da wird von einem katholischen Paar erwartet, dass die Hochzeit in einer katholischen Gaststätte gefeiert wird oder dass ein Katholik, der ein Haus baut, damit einen katholischen Bauunternehmer beauftragt. Übrignes beachtenswerterweise ohne Überlegenheitsdünkel, denn "den Evangelen" wird die spiegelbildliche Verhaltensweise als selbstverständlich angenommen. In einem solchen Umfeld kann ich mir schon vorstellen, dass es zur Ausgrenzung führt, wenn das Kind nicht mitgeht zur Erstkommunion.
    Nur denke ich, dass das weniger mit der Religion an sich zu tun hat als mit einem allgemeinen Zusammengehörigkeitsgefühl und eine Familie, die dort nicht mitzieht, zeigt damit eben, dass sie die Wertebasis der Gemeinschaft nicht teilt. Daher ist sie nicht mehr "Wir", sondern "Ihr".
    Gleiches passiert in Köln, wenn man in der falschen (oder in gar keiner) Karnevalsgesellschaft Mitglied ist. Man munkelt, dass ein mittelständischer Unternehmer ohne Mitgliedschaft in einem Karnevalsverein hier Schwierigkeiten hätte, an genügend Aufträge zu kommen. Gleiches gilt für Politiker.
    In ländlichen Gebieten sind es oft die Sportvereine. Man ist im Fußballverein. Basta. Ob man jemals ein Trikot anhatte oder nicht ist völlig irrelevant. Der Mitgliedsausweis bescheinigt ein Interesse für das Dorf (die Dorfgemeinschaft) an sich. Mit dem Sport hat das nur periphär etwas zu tun.


    Ich persönlich bin immer beeindruckt von Leuten, die die Kraft haben, gegen den Strom zu schwimmen, solange es nicht aus purem Trotz geschieht. Das gilt sowohl für Leute, die sich in einem areligiösen Umfeld entschließen, zur Erstkommunion zu gehen, als auch für solche, die sich in einem religiösen Umfeld entschließen, es nicht zu tun.

    Mir hat das Buch recht gut gefallen. Ich mag die Konstruktion, dass nicht alles monokausal ist, sondern viele Leute ihre kleinen eigenen Ziele verfolgen, was letztlich zu einem großen Gesamteffekt führt.


    Von mir gibt's 8 Punkte.

    Ich halte 1.200 Exemplare für ein Buch ohne etablierten (Buchhandels-)Vertriebsweg ebenfalls für mehr als beachtlich.
    Es gibt eine Menge Liebhaber/Nischenverlage, die sogar in kleines Netz von Buchhandlungen haben, die sie beliefern, aber aus gutem Grund Auflagen unter 500 Stück drucken lassen ...

    Das hier ist zwar nicht wirklich Horror, hat aber einige Horrorelemente (wandelnde Mumien, Dämonen, ...). Zudem ist es ein Jugendbuch und daher zum Leseeinstieg geeignet. Und wenn es einen packt, kann man gleich weiterlesen, weil es der erste Band einer Trilogie ist.

    Whoops, sorry für die späte Antwort, Doc, ich habe Dein Edit erst jetzt gesehen.


    Kurzfassung:
    Exposé eingeschickt - Vertrag gemacht - Buch geschrieben - fertig.


    Langfassung:
    Zunächst sollte man erwähnen, was in der Zeit passiert ist, die seit Deinem Eingangsposting vergangen ist:
    ===
    Die BattleTech-Romanreihe wurde weitergeführt bis auf gut 60 Bände, die einen Zeitraum von etwa 50 Handlungsjahren abdecken. Diese sind in Deutschland alle beim Heyne-Verlag erschienen und werden rückblickend "Classic BattleTech" genannt.
    Die Autorenriege aus den USA hat sich dann entschlossen, in ihrem Universum einen Zeitsprung zu machen und einige (Handlungs-)jahrzehnte später neu anzusetzen. Gewaltige Veränderungen haben den von Menschen besiedelten Weltraum ergriffen, alle Karten sind neu gemischt. Der neue Romanzyklus nennt sich "MechWarrior: Dark Age", wird aktuell von amerikanischen Autoren fortgeschrieben und die Übersetzungen erscheinen bei Heyne.


    Bis zum Ende der alten Zeitschiene, also für "Classic BattleTech", hat in Deutschland die Firma Fanpro die Lizenzrechte. Sie darf den Hintergrund des Universums verwerten, hat das früher auch für Rollen- und Brettspielmaterial getan und tut das heute immer noch für Romane. Die amerikanischen Autoren schreiben "MechWarrior: Dark Age" weiter, während Fanpro in Deutschland mit deutschen Autoren die "Classic BattleTech"-Schiene bedient. In einem viele tausend Planeten umfassenden Universum und bei einem Handlungszeitraum von mehreren Jahrzehnten (den Fanpro zusätzlich noch in die "Vorgeschichte" ausdehnt) bietet sich Platz für unzählig viele unerzählte Geschichten.
    ===


    Diese Situation habe ich sozusagen "vorgefunden". Ich ging damals mit einem Fantasymanuskript hausieren, und da Fanpro auf seiner Homepage nach Autoren fragte, schickte ich es auch dort ein. Darauf folgten mehrere anregende Telefonate mit dem Verlagsleiter, der auch das vollständige Manuskript anforderte. Leider passte es letztlich nicht ins Verlagsprogramm, aber mein Schreibstil fand Gefallen. Wir verblieben so, dass ich mir übrlegen sollte, ob ich etwas zu den bestehenden Romanreihen des Verlages beitragen könne.
    Ich hatte bereits einige BattleTech-Bücher gelesen und reichte ein entsprechendes Exposé ein.
    Dann ging alles schief, was schiefgehen konnte. Mitarbeiterwechsel im Verlag, falsch eingestellte Spamfilter in meinem Mailprogramm, die Antwortmails direkt entsorgten, dies und das. Ich glaubte an meine Chance und arbeitete trotz aller Widrigkeiten weiter an meinem Manuskript. Die Fanpro-Leute haben mich dabei gut unterstützt, beispielsweise mit einem Fachlektorat, das tapfer um 22:30 verschickte SMS mit Fragen zu verschiedenen technischen Details des BattleTech-Universums beantwortete. Obwohl ich diverse Quellenbücher "inhaltiert" hatte, war diese Hilfe sehr wertvoll. Alles war sehr partnerschaftlich, ich hatte große Freiheiten, sogar das Titelbild wurde nach meinen Vorstellungen gezeichnet.


    ===


    Wegen des Rezensionsexemplares schicke ich Dir eine Nachricht.

    Fantasy ist ja nun ein weites Feld.
    In dem Bereich, wo Du Dich bisher tummelst, kann ich Dir Kai Meyer empfehlen, insbesondere "Frostfeuer".
    Falls Du eine Geschichte mit dunklerem Einschlag lesen möchtest, bei der Real- und Fantasiewelt sich im Wortsinne vermischen, schau einmal "Das blaue Portal" von Peter Lancester an.
    Wenn Du Dich auf eine umfangreichere Saga einlassen möchtest, epische Fantasy mit Rittern, Magiern, aber auch durchdachten Intrigen und vielen Überraschungen, kann ich Dir "Das Lied von Eis und Feuer" von George R. R. Martin ans Herz legen. Der erste Band heißt "Die Herren von Winterfell" und scheint derzeit in der "Bild am Sonntag"-Bibliotheksausgabe auf einen Spottpreis heruntergesetzt zu sein.