Ich habe ein wenig das Problem, dass ich hier eine Gesellschaftsform erläutere, die ich zwar für möglich halte, aber nicht für wünschenswert. Bitte beachten: wenn ich schreibe: "es wäre soundso", meine ich damit definitiv nicht: "ich hielte es für erstrebenswert, wenn wir soundso leben würden".
Zitat
Original von Waldlaeufer
..., der sehr wohl einzelnen Gruppen(mitgliedern) Herrschaftsrechte ermöglicht.
Und auf die verzichten sie aus... reiner Menschenliebe?
Nein, aus reinem Selbsterhaltungstrieb. Am Ende des Tages kommt Macht aus Gewehrläufen. Deswegen ist das staatliche Gewaltmonopol ja auch so wichtig. Ein Militär hat als Aufgabe, die Handlungsfähigkeit der Regierung jederzeit zu gewährleisten, eine Polizei, den Beschlüssen der Regierung Geltung zu verschaffen. Das können diese Institutionen, weil sie stärkere Gewalt ausüben können als ihre Opponenten. Anders ausgedrückt: Wenn der Schwarze Block regelmäßig die Straßenschlachten gegen die Polizei gewinnen könnte, hätten wir ein Problem, ebenso, wenn die Bundeswehr weniger Schlagkraft hätte als die Straßenpolizei von Teheran.
Im Gegensatz zu früheren Zeiten wäre es in einer modernen Anarchie so, dass ein kleines Kind vermittels allgemein verfügbarer moderner Feuerwaffen die gleiche Macht ausüben könnte wie jeder andere auch. Man braucht nicht groß und stark sein und jahrelang Schwertkampf üben, um jemanden töten zu können.
Entsprechend riskant lebt jemand als Diktator, zumal es ihm kaum gelingen wird, große Gefolgschaften zu sammeln, die ihn unterstützen (mangels der Existenz von Geld zum Beispiel).
Dazu kommt die relative Problemlosigkeit des Gruppenwechsels, die ein bedeutender Faktor ist: "Mir gefällt eure Art des Zusammenlebens nicht - ich ziehe drei Straßen weiter." Abstimmung zwischen Gesellschaften/ Gruppen mit den Füßen. Ich habe mal ein Buch über die Geschichte Afrikas gelesen, wo diese aus geografischen Gegebenheiten resultierende Möglichkeit als einer der Gründe angeführt wurde dafür, dass südlich der Sahara keine größeren Staatswesen entstanden sind.
Eine Analogie für diese Gesellschaftsform ist der Wilde Westen, allerdings mit Abstrichen (keine Währung, keine englische/ französische Kolonialmacht, ...). Eine raue Zeit, in die sich aber einige gern zurückträumen.
Wenn man sich also den umfassenden Staat "wegdenkt", gäbe es eine unüberschaubare Vielzahl von Kleingruppen. Einige von diesen hätten vermutlich durchaus etablierte Herrschaftssysteme, insbesondere, weil es in ihrem Gebiet, wie von waldlaeufer richtig angemerkt, eine knappe Ressource gäbe, die alle bräuchten. Oder weil es irgendwo einen besonders charismatischen Menschen gäbe, den die anderen als Anführer akzeptierten.
Dennoch vermute ich, dass das im Großen und Ganzen funktionieren würde. "Im Großen und Ganzen" meine ich dabei so, wie auch unsere parlamentarische Demokratie "im Großen und Ganzen" funktioniert. Auch hier gibt es Sachentscheidungen, die das Parlament recht eindeutig gegen den Willen der großen Bevölkerungsmehrheit trifft. Auch hier gibt es Bedürftige, die die Leistungen, die ihnen eigentlich zugedacht sind, nicht erhalten, und Schmarotzer, die sie stattdessen bekommen. Zudem ist spieltheoretisch erwiesen, dass Abstimmungsprozeduren eben nicht, wie man intuitiv annimmt, garantieren, dass im Ergebnis derjenige Beschluss gefasst wird, der den größten Bedürfnisbefriedigungsgrad für die Abstimmenden darstellt. Auch Pressefreiheit ist zwar schön, wird aber bei unfähigen Redakteuren zum Theoretikum. Wie oben ausgeführt: Der Mangel, dass ich selbst noch nicht einmal zu den fundamentalsten Festlegungen, wie etwa dem Grundgesetz, befragt wurde, sondern für meine Großeltern in Sippenhaft genommen wurde, ist kaum als demokratisch zu verkaufen. Polemisch gesagt ist das eine Herrschaft der (inzwischen) Toten über die (jetzt) Lebenden.
Die Liste der Mängel ist also auch bei unserem gegenwärtigen System lang. Dennoch sage ich, es funktioniert. Und ebenso vermute ich, dass ein extrem-liberaler Anarchismus funktionieren würde. Unter anderem deswegen, weil er im Gegensatz zum Sozialismus keine Gutmenschen-Population voraussetzt.
Er wäre allerdings keineswegs das Paradies. Aus meiner Sicht wäre er schlechter als das, was wir im Moment haben.