12 Einträge und fast keiner ausschließlich positiv – da will ich mal versuchen, eine Lanze für den „Kristus“ von Robert Schneider zu brechen...
„Die Welt ist aus den Fugen geraten“ steht im Klappentext, und zu welcher Zeit wäre das nicht für einen Teil der Welt so gewesen. Gehen wir heute mal in den Irak, nach Afghanistan oder setzen uns um Mitternacht in die U-Bahn einer westdeutschen Großstadt. Schauen uns die Gesichter vorbeihastender Fußgänger an; oder die Fernsehprogramme zu Wahlkampf- oder Karnevalszeiten: ein großes Thema von Robert Schneider ist die Suche der Menschheit nach Orientierung. Ich behaupte, dass das Buch hier viele gute Denkanstöße gibt.
Die staatlichen und kirchlichen Repräsentanten der Welt des Jan Beukels – verkörpert vor allem in der Figur des Grafen Waldeck – haben ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Ihre Macht gründet sich auf wenig mehr als eine hergebrachte, formale Ordnung, auf den sinnentleerten Vollzug hohler Glaubenszeremonien. Die Kirche nimmt teil am theatralischen Pomp jener Zeit, was nicht weiter schlimm wäre, wenn nicht Andersdenkende, Andersgläubige mit äußerster Schärfe verfolgt würden. Willkür, Chaos, Schrecken – wohin das Auge blickt. Und doch ist es ein gewaltiger Schritt von der bloßen Kritik am bestehenden System, vom bloßen (allein oder in Gemeinschaft Gleichgesinnter gepflegten) Traum von einer besseren Welt, hin zur offenen, das eigene Schicksal gering schätzenden Aufruhr, vom Wunsch zum Handeln, von der Hoffnung zur Tat.
Jan Beukels hat diesen Schritt furchtlos und unbeugsam bis an sein furchtbares Ende getan. Richtschnur war ihm allein die Heilige Schrift, und wer heute darin liest, findet vieles von dem, was die Täufer in jener Zeit zu errichten versucht haben, im Detail angelegt: die Unbeugsamkeit der Gläubigen gegenüber kirchlichen Autoritäten (vgl. den Auftritt der Apostel Petrus und Johannes vor dem „Hohen Rat“ in Apg. 4, 1-22); das Dogma der Besitzlosigkeit (Apg. 4, 32); die Deutung unerklärbarer Geisteszustände als prophetische Gabe (Apg. 2). Jan Beukels hat sich sehr genau an die Vorgaben des Alten und des Neuen Testamentes gehalten. Schließlich wird auch bei seinen biblischen Vorbildern deutlich, dass sie sich im ausschließlichen Besitz der allerhöchsten Wahrheit wähnten und – im Vertrauen auf ihr Auserwähltsein von Gott und die moralische „Verderbtheit“ ihrer Gegner – daran zu gehen hatten, die göttliche Mission weltweit in die Tat umzusetzen. Darin, in ihrem totalitären Anspruch, sowie dem unverbrüchlichen Glauben, Werkzeuge Gottes auf Erden zu sein, liegt wohl auch eine der fatalen Wurzeln jenes Übels, das Robert Schneider eindrucksvoll vor Augen führt.
Es ist aber nun leider eben jener „unverbrüchliche Glaube“, eben jenes Charisma von Menschen wie Beukels, das auf die Menschen aller Zeiten Anziehungskraft ausübt, ja, ihrem sinnlosen Dasein eine höhere und absolute Bedeutung verleiht. Die Täufer kämpfen mit ausgezehrten Leibern gegen eine waffenstarrende Übermacht, obschon ihre Brüder und Schwestern verhungern. Und selbst Waldeck schreibt Beukels das Format eines deutschen Kaisers zu (S. 593). Selbst er ist auf geheimnisvolle Art fasziniert vom Zauber, die von diesem seltsamen „König“ ausgeht. Im Roman nähern sich Beukels und Waldeck denn auch rein äußerlich immer weiter an: beide hausen in finsteren Gewölben, beide spielen mit Leben und Tod ihrer Frauen, beide traktieren ihre Untergebenen mit einem System aus Terror und Angst. Der eine wird zum Spiegel des anderen – Leben und Tod ihrer Untergebenen hängen (dessen sind sich diese Untergebenen nur allzu bewusst) von einer bloßen Laune, einem geringfügigen Ärgernis oder purer Langeweile des Herrn ab. In der Wahl ihrer Mittel sind beide nicht zimperlich und sowohl Beukels als auch Waldeck sind sich in ihrer Herrscherrolle keiner Schuld bewusst.
Gibt es ein Handeln ohne Schuld? Gibt es Nichthandeln ohne Schuld? Ist, beispielsweise, jener Gerrit tom Kloister, der sagt, es komme darauf an, „die Wirklichkeit in ihrer unbegreiflichen Ungerechtigkeit auszuhalten“ (S. 557) frei von Schuld? Jener Gerrit – immerhin Mitglied des engsten Führungskreises um Jan Beukels – der erst nach so vielen Greueltaten zu einem Zeitpunkt die Stimme erhebt, wo selbst die Oberhäupter der Täufer ihr Scheitern und die Ausweglosigkeit ihrer Lage nicht mehr leugnen können. Warum hat Gerrit die Hinrichtung von Else Wantschers nicht verhindert? Warum ist er selbst Täufer geworden? Es bleibt das schale Gefühl, dass die Menschen nicht sein können, ohne Schuld auf sich zu laden. Schuldig ist jener Knipperdolling, wenn er den furchtbaren Zweihänder wieder und wieder auf die Hälse der Verurteilten sausen lässt. Schuldig sind aber auch wir, die ihm dabei zusehen.
Jan Beukels, der von Kindertagen an den Wunsch hegt, wie „Kristus“ zu sein, erblickt am Ende seine größte Schuld darin, das von Gott gegebene Talent nicht gefunden zu haben, sinnlos und von Gott verstoßen auf Erden herumgeirrt zu sein. Er bereut allein, wofür er im Grunde nicht verantwortlich ist, nämlich „geboren zu sein“. Beim Lesen dieser Worte und mehr noch beim Betrachten seines Todes ahnen wir: dieser Jan Beukels würde, bekäme er nur die Gelegenheit dazu, weitermorden. Da ist keine Reue und Mitleid mit den Opfern war niemals da. Und so richtet sich Beukels Anklage letztlich gegen den Schöpfer selbst, von dem er glaubt, er habe ihn in diese Welt gesandt.
Vielleicht liegt die Wahrheit aber auch irgendwo in der Mitte zwischen den Positionen eines Gerrit und eines Beukels. Einer Mitte, die die christliche Botschaft anders begreift, die jedoch letztlich keiner von beiden gefunden hat. Die Menschen müssen handeln, um die Welt ein Stück gerechter, ein Stück besser zu machen. Sie dürfen vor dem Unrecht, das geschieht, nicht die Augen verschließen (wie es ebenjener blinde Gerrit letztlich unfreiwillig tut). Aber der Handelnde begeht Unrecht, wo er die Grenzen und die Begrenztheit seines Tuns ignoriert. Die Begrenztheit: dass Menschen immer unvollkommen handeln, immer anfällig für Fehler, Irrtum und Zufall sind. Die Grenzen: dass der Zweck – er möge noch so einleuchtend, wohlbegründet oder „gut“ sein – eben nicht jedes Mittel heiligt. Will sagen: kein „Himmlisches Jerusalem“ rechtfertigt das Sterben und die Tötung Unschuldiger; keine noch so große „Verderbtheit“ des politischen Gegners rechtfertigt Willkür und Mord. Und schließlich: kein menschliches Wesen maße sich an, ein wiedergekehrter Christus zu sein (da möchte man dem Schulmeister Joest auf Seite 51 im nachhinein Recht geben). Nicht an ihren Zielen sollen die Menschen gemessen werden – jedenfalls nicht allein. Sie werden auch und gerade bei der Wahl ihrer Mittel auf die Probe gestellt. Und hier – darin ist nun wieder Gerrit tom Kloister beizupflichten – kann der Handelnde an einen Punkt geraten, wo sich Menschlichkeit letztlich nur im Ertragen, im Erdulden, im Geschehenlassen des Unerträglichen erweist.