Ach herrje, das ist so eine Frage, auf die es keine allgemeingültige Antwort geben kann, sondern nur individuelle Meinungen.
Ja, vor einem Wertekanon, der Ehrlichkeit mit einschließt und annimmt, dass Kritik zulässig sein muss (denn wie sonst könnte der Kritisierte seine Schwächen erkennen), sollte der Verriss eines Buches unter Kollegen kein Problem sein.
Sollte, wohlgemerkt.
Dieser Wertekanon geht aber auch nicht davon aus, dass niedere Beweggründe wie etwas Niedertracht, Bosheit und eigenes Gewinnstreben auf Kosten anderer etwa im Spiel sein könnten. Die Ehrlichkeit und die ehrliche Kritik sind ein Ideal, das zusammen mit anderen Idealen in einem Garten wächst und mit Unkräutern nur bedingt klar kommt.
Deshalb tut sich zwischen Ideal und Praxis mitunter eine tiefe Kluft auf.
Da es durchaus (nicht wenige) Autoren und sogar Marketingagenturen im Auftrag von Verlagen gibt, die Verrisse auch unabhängig vom Gefallen schreiben, und zwar aus Beweggründen, die von persönlicher Abneigung gegen die Person bis hin zur (erhofften) Erhöhung des eigenen Produkts in der Wahrnehmung der Kunden reichen, hat die hehre Reinheit der Kollegenkritik ein G'schmäckle bekommen.
Das schlägt nun natürlich auch auf alle unschuldigen Kritiker durch, die nur ihrem persönlichen Eindruck ein öffentliches Ventil schaffen wollten. Natürlich bleibt ihnen unbenommen, das trotzdem zu tun - dies ist ein freies Land.
Jenseits dessen, die Frage sollte eigentlich lauten, was will der Kritiker denn mit seiner Kritik erreichen?
Sich Erleichterung verschaffen, indem er seine Meinung der Öffentlichkeit kund tut? Einen Missstand bekämpfen (indem er darauf hinweist)? Das macht die Öffentlichkeit dann zwingend erforderlich. Dem Kritisierten eine Schwäche vor Augen führen in der Hoffnung, dieser würde sie daraufhin erkennen und sich verbessern? In diesem Fall ist Öffentlichkeit eher kontraproduktiv. Sich einen Ruf als ernst zu nehmender Kritiker aufbauen, der schonungslos seine Meinung kundtut und keine Gefälligkeitsaussagen trifft?
Ich ganz persönlich halte es so, dass ich mittlerweile komplett auf öffentlich geäußerte Buchkritik verzichte, und zwar weder positiv noch negativ. Außer man fragt mich nach Empfehlungen, dann gebe ich meine Favoriten gern weiter.
Das liegt nicht daran, dass ich Angst vor Retourkutschen habe (aus der Phase, wo mich jede Negativ-Rezi um den Schlaf gebracht hat, bin ich zum Glück raus - ich versuche die inzwischen sachlich einzuordnen), sondern weil mich das besagte G'schmäckle davon abhält. Ich mag mich nicht dafür rechtfertigen müssen, Kollegen hochzujubeln oder umgekehrt in den Boden zu stampfen, weil ich dafür weder Zeit noch Nerven habe. Vor allem, da ich nicht das Gefühl habe, dadurch signifikant etwas zu bewirken. Weder habe ich einen Vorteil davon, noch kann ich anderen Menschen einen Vorteil verschaffen (let's face it - jedes Buch findet seine Leser, und mag man es selbst noch so unterirdisch schlecht finden), also ist es für mich verschwendete Energie, die auch noch ein Risiko birgt (nämlich dumm angemacht zu werden).
An anderen Stellen liegt die Sache anders. Wenn ich das Gefühl habe, mit Kritik etwas Sinnvolles erreichen zu können, setze ich sie ein.
Es schadet jedoch nicht, sich vorher zu überlegen, was man damit bewirken möchte, denn dann kann man sie auch so anbringen (öffentlich oder nicht öffentlich oder halböffentlich, mit mehr oder weniger Fingerspitzengefühl), dass sie den angedachten Zweck erfüllt.
Wird allerdings aus dem Affekt kritisiert, also das, was die Amerikaner als 'I had to vent' bezeichnen - Dampf ablassen, der augenblicklichen emotionalen Stimmung ein Ventil geben, spielt das alles natürlich keine Rolle.
Dann rutscht man schnell ins Niveau des 'Der hat mich mit dem Förmchen gehauen' --> 'Jetzt hab dich nicht so mädchenhaft'. Und dann ist eh Hopfen und Malz verloren