Zitat
Original von Rosha
Kann man eine derart starke Ideologie so ohne weiteres um 180 Grad drehen, dass sie jetzt ohne Probleme für die Gegenseite arbeitet? Oder ging es Carmen hauptsächlich um den Lebensstil an sich? 
Ich habe mich in diese ganze Szene ein bisschen reingelesen (und zu meinen Studienzeiten in den frühen Neunzigern war zumindest noch die romantisch-verklärte kollektive Erinnerung in Form von Che Guevara-Postern da):
Politische Überzeugung scheint für viele junge Linksintellektuelle - vor allem in der Studentenszene - eher ein Lebensstil gewesen zu sein, ein Trend. Ein großer Spaß, ein Abenteuer. Es war cool, Revoluzzer zu sein. Ich habe ein Interview mit einer Top-Terroristin (nicht Ulrike Meinhof - ich finde es nur gerade nicht mehr, verflixt) aus der Zeit gelesen, als das gerade mit den Flugzeugentführungen usw. losging. Sie sagt, dass sie damals wie Kinder gewesen wären, dass sie das Gefühl hatten, die ganze Welt verändern zu können und nie darüber nachdachten, dass sie zu Schaden kommen könnten oder jemand anderer.
Ich sehe Carmen als so eine Figur, die in diese Szene hineingeraten ist, sie cool fand - die Parties, die War Stories, und die wie viele andere Idealisten dann loszog, um selbst dabei zu sein. Wenn man aber aus einem eigentlich behüteten und gewaltfreien Leben kommt, ist es leicht, kämpfende Revolutionäre romantisch zu verklären und - naiv wie viele waren - mitspielen zu wollen. Das ist, glaube ich, nicht sehr viel anders als der glühende Patriotismus, mit dem junge amerikanische Soldaten in den Irak gezogen sind. Wenn sie zurückkommen, sind sie ganz anders, weil sie es sich so nicht vorgestellt haben und es etwas mit ihrer Psyche macht. Carmen geht also in den Libanon und dann ist sie im Sog der Ereignisse, der sie mitzieht. Am Anfang ist das Abenteuer nur ein wenig schmutziger und anstrengender als gedacht, aber immer noch aufregend. Sie glaubt an das, was sie tut, und ihr Idealismus wird unter keine schwere Belastungsprobe gestellt.
Dann sieht sie mit an, wie Rafiq beinahe stirbt, wie andere in Stücke gerissen werden, sie gerät selbst in Gefangenschaft: Sie ist hilflos allen Schrecken ausgeliefert, die das mit sich bringt - Demütigung, Folter, Verletzung ihrer körperlichen Integrität oder schlicht der Gefahr, einfach getötet zu werden. Unter diesen Umständen muss Idealismus schon einer sehr starken Quelle erwachsen, um weiter zu bestehen. Carmen, im Grunde eine Freizeit-Revoluzzerin, ist dafür nicht stark genug, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt. Das hat sie nicht erwartet, damit kann sie nicht umgehen. Dafür steht ihr diese fremde Kultur und diese Menschen, deren Sprache sie nicht einmal spricht, nicht nahe genug.
Will sie nicht innerlich brechen, muss sie sich einen Panzer zulegen. Dieser Panzer ist ein zynischer Pragmatismus. Die 'Wenn mir keiner hilft, muss ich mir selbst helfen' - Einstellung. Ihre Überzeugung ist nicht so tief verwurzelt, dass sie dafür sterben oder endlos leiden würde, nicht zuletzt, weil sie nicht weiß, ob das überhaupt jemanden da draußen interessiert.
Die Israelis reichen ihr eine rettende Hand, sie greift danach. Am Anfang hat sie vielleicht Skrupel, dann stellt sie fest, dass es so schlimm nicht ist. Und schließlich wird es Routine - denn was soll sie sonst tun? Der Weg zurück in ein normales Leben ist nach diesen traumatischen Jahren nicht leicht. Wo sollte sie anfangen? Die wenigsten schaffen das. Die Menschen ihrer früheren Umgebung, die von all den Grausamkeiten nichts ahnen, müssen ihr jetzt wie Aliens vorkommen. Aber sie hat Rafiq, mit dem sie vor allem das gemeinsam Erlebte verbindet. Er kümmert sich um sie, er trägt sie auf Händen, er würde alles für sie tun.
Sie stützen sich gegenseitig auf dem Weg in diese neue Existenz, die ihren alten Überzeugungen diametral gegenüber steht. Denn auf einer pragmatischen Ebene ist es gut für sie beide. Für Rafiq bedeutet es, dass er die Frau haben kann, die er liebt (es gibt nur wenige Triebkräfte, die stärker sind), für Carmen bedeutet es Sicherheit und jemanden, der sie versteht, der ihr Trauma teilt, mit dem sie reden kann.