Ich habe das Werk nun zu Ende gelesen und gehe, mit einigen Abstrichen, doch von einem großen geistigen Gewinn aus. Hier meine abschließende Stellungnahme:
Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht
Beauvoirs grundlegendes Werk des Feminismus erschien 1949 und umfasst in
meiner Ausgabe 1130 Seiten ohne Anmerkungen.
Das Werk ist als Sozialgeschichte der Frau zu betrachten und gleichzeitig als
philosophisches Werk existenzialistischer Prägung.
Im ersten Teil „Fakten und Mythen“ stellt die Autorin zunächst mal die biologischen
Unterschiede zwischen Frau und Mann fest und auch die Unterschiede der Sexualität
der Frau gegenüber anderen Säugetieren höherer Ordnung. Während von diesen die
Weibchen meist eine Brunftzeit haben und den Rest des Jahres nicht trächtig
werden können, daher gleichen Tätigkeiten wie die Männchen nachgehen, können
Frauen bis auf wenige Tage im Zyklus fast immer schwanger werden und müssen
sich monatlich der Menstruation unterziehen, die sie einschränkt und oft auch
körperlich schwächt und schmerzt. Diese biologische Konstellation engt die Frau
ein und führte neben der deutlich größeren körperlichen Stärke des Mannes während
der Evolution des Menschen und der Steinzeit dazu, dass die Männer die Arbeiten
verrichteten, die die Außenorientierung und Momente heftiger körperlicher
Anstrengung zur Grundlage hatten wie die Jagd oder den Kampf gegen
rivalisierende Familienverbände, während der Frau die Nahrungszubereitung und die
Sorge um die Familie oblag. In der Zeit der Sesshaftigkeit setzte sich das so fort,
dass die Frau zusätzlich die Arbeiten nah am Haus verrichtete, Gemüsegarten und
Stall, während dem Mann die Feldarbeit und handwerkliche Tätigkeiten, die mit
widerstandsfähigen Werkstoffen zu tun hatten, oblagen. Dadurch wurde der Mann
zum Entwickler der Technologien und bildete durch seine Außentätigkeiten ein
Netzwerk mit anderen Männern, während die Frau zu Hause blieb und in ihren
Kontakten im Wesentlichen auf ihren Mann und ihre Familie beschränkt blieb.
Diese Konstellation blieb so im Wesentlichen bis weit ins
Ende des 20. Jahrhunderts in den europäischen Staaten und Nordamerika erhalten,
diese Regionen, insbesondere Frankreich, legt die Autorin ihren Untersuchungen
zugrunde. Beauvoir verfolgt die Entwicklung bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts
und sieht bis dahin nur kleine Veränderungen, die der Frau keine wesentlichen
Vorteile bieten, sondern sie eher noch mehr versklaven in den Traditionen der
Vergangenheit und den Ansprüchen der modernen Welt.
Neben diese biologische und sozialgeschichtliche Erörterung tritt nun auch das
philosophische Element. Beauvoir als Existenzphilosophin stellt - einfach ausgedrückt
- dar, dass der Mensch im Gegensatz zum Tier den in seiner Natur liegenden Wunsch
hat, sich zu transzendieren, d.h. ein Ziel außerhalb seiner selbst zu suchen
und zu verfolgen. Nur so findet er seine innere Freiheit und wird zum Subjekt. Dies gelingt nun dem Mann aufgrund seiner Außenorientierung
in der Regel mehr oder weniger, je nachdem, welche Ansprüche er an sich selbst
stellt und welche gesellschaftlichen Möglichkeiten er in seiner sozialen Gruppe
hat. Die Frau dagegen wird auf sich selbst zurückgeworfen, weil sie vom Mann
als das Andere (deshalb der deutsche Titel „Das andere Geschlecht“)
gesehen wird, in das er sich transzendieren kann, weil er sich die Frau
unterwirft, die ihm dient und ihn zu bewundern hat. Sie dagegen sieht sich nur
in ihm, weil sie über die Jahrtausende hinweg nur in seltenen Fällen die
Möglichkeit hatte, für ihren eigenen Unterhalt zu sorgen und dadurch wirtschaftlich
unabhängig zu werden. Ihr Schicksal ist daher die Immanenz im Gegensatz zur
Transzendenz des Mannes. So wird sie zur Drohne des Mannes, und in den
wohlhabenden Schichten erkauft er sich ihre Abhängigkeit, indem er ihre Lage
mit Bequemlichkeit und Konsumgütern ausstattet. Sie wird dadurch antriebslos,
ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, bildet sich nur ungenügend und
entwickelt ihren Intellekt nicht genug, um selbst zu großen geistigen
Leistungen zu kommen.
So sind nach Beauvoirs Meinung auch die besten künstlerischen Leistungen der
Frauen nur vergleichbar mit den Anfangsversuchen der besten männlichen Künstler.
Und in den Wissenschaften strengt sie sich nicht genügend an, weil sie von Kindheit
an nicht dazu angehalten wird, sich ihre Umwelt zu erobern.
Diese Ungleichheit der Geschlechter wird insbesondere durch
das System des Kapitalismus unterstützt, da hier die Produzenten immer auch
genügend Konsumenten brauchen und in der Konstellation der Geschlechter diese
Aufteilung unterstützt wird, dem Mann als Produzenten und Erfinder außerdem der
Rücken freigehalten wird und die Ehe und Familie als Rückzugsort und
Entspannungsressort dient. Nur der Sozialismus kann nach Beauvoirs Meinung die
Gleichstellung der Geschlechter herstellen.
Meine Meinung:
Beauvoir hat für ihre Darstellung ein immenses Wissen angesammelt und ihre
Meinungen immer sehr gut belegt und mit Zitaten aus Werken der Psychoanalyse,
Philosophie und europäisch/amerikanischen Literatur untermauert. Gerade im letzteren
Falle ist sie aber der Stofffülle etwas aufgesessen. Man könnte dieses Werk gut
um die Hälfte und mehr kürzen, ohne dass dabei Wesentliches ungesagt bliebe.
Die Autorin verliert sich im zweiten Teil häufig in bizarren Zitaten aus psychopathologischen
Falldarstellungen und frauenfeindlichen Werken ihrer männlichen Zeitgenossen bzw.
der nur wenige Jahrzehnte zurückliegenden Veröffentlichungen.
Das zieht einen eher runter, als dass es einen weiterbringt. Gut finde ich,
dass Beauvoir nicht ein Geschlecht verteufelt, den Mann ausschließlich als
Unterdrücker ansieht, sondern auch darstellt, dass die Frau an ihrem Schicksal
auch selbst mit Schuld trägt, wenn sie sich aus Bequemlichkeit nicht um ihre
materielle und geistige Unabhängigkeit kümmert.
Als Nachteil dagegen ist herauszustellen, dass dieses Buch sich hauptsächlich
mit der Rolle der Frau in den wohlhabenden Schichten der westlichen Kulturen
auseinandersetzt, die viel größere Anzahl der Frauen, die dazu gezwungen waren und
sind, selbst zu arbeiten, erwähnt sie nur am Rande. Die Frauen anderer Kulturen
berücksichtigt sie fast gar nicht, weil diesen ihrer Darstellung nach z.B. in der islamischen Kultur noch nicht
einmal eine Seele zugesprochen werde.
Grundsätzlich ist es legitim, eine solche Untersuchung und
daraus folgendes Plädoyer auf einen Kulturkreis, in dem man selber lebt, zu
beschränken, aber da sie immer von der Frau an sich spricht, kommt es einem
doch komisch vor, dass 90 % der Frauen von den Ausführungen im zweiten, deutlich
umfangreicheren Teil des Werkes gar nicht erfasst werden.
Ich fand das Buch nicht schwierig zu verstehen, aber den zweiten Teil nur schwer
zu ertragen. Dennoch hat er mich sehr viel weiter gebracht in dem Verständnis
der Rolle von Frau und Mann und welche Voraussetzungen es gesellschaftlich und
auch von seiten der Geschlechter selbst braucht, um zu einer echten Gleichberechtigung
zu kommen, von der wir ja auch heute noch und auch in den westlichen Gesellschaften
sehr weit entfernt sind, wenn auch lange nicht so weit wie die Frauen in Simone
de Beauvoirs Zeiten.