Beiträge von finsbury

    Seltsam finde ich, dass sie die Psychoanalyse einer Religion gleichsetzt (wie dem Christentum und dem Marxismus) - das mutet genauso willkürlich an, wie ihres Vergleiches der Gruppe der Frauen mit Dunkelhäutigen und Juden in der Einleitung, was ich schon befremdlich rassistisch fand.

    Das sehe ich gar nicht so! Sie nennt diese Gruppen ja nicht aus rassistischen Gründen, sondern im Gegenteil, um das chauvinistische imperiale Verhalten der Europäer und europäisch-stämmigen Amerikaner gegenüber den genannten Gruppen (wobei die Juden natürlich auch Europäer sind) zu kritisieren. Und sie setzt die Haltung der Männer gegenüber den Frauen ja von diesen ab, weil, wie oben auch schon beschrieben ( #1), die Frauen in allen Gruppen als das Andere gegenüber dem Einen vom Mann gesetzt werden.


    Mit dem Begriff "Religion" meint sie meinem Verständnis nach die Apriori- und Absolut-Setzung der Grundlage eines Gedankengebäudes, bei den echten Religionen Gott, in der freudschen Psychoanalyse den Sexus, beim Marxismus die ökonomische Rolle des Menschen. Das ist natürlich gerade gegenüber dem Marxismus ganz schön frech und hat ihr wohl auch viel Kritik von dem Existenzialismus nahestehenden Sozialisten eingebracht, da Marx doch von der Religion als "Opium des Volkes" spricht.

    Vielen Dank, Tante Li , für deine aufwändige Zusammenstellung eurer Äußerungen zum Queer-Komplex. Ich denke, dass Beauvoir, nach dem, was sie schreibt, mit keiner dieser Formen größere Schwierigkeiten gehabt hätte und wahrscheinlich auch hatte. Schließlich lebte sie in der Weltstadt Paris mit intensivem Bezug zu Künstlerkreisen, da wird ihr wohl nichts Menschliches fremd geblieben sein, denn das wurde in solch einem geschützten Bereich wohl auch damals schon recht offen gelebt.

    Worüber man hier nicht alles nachdenken kann!!


    Ernsthaft geht mir gerade viel mehr durch den Kopf, wie sehr wir - auch als moderne Menschen - von unserer Körperlichkeit geprägt sind. Auch wenn sich vieles durch medizinischen und hygienischen Fortschritt geändert hat. Oft zum Guten, aber ob das weiter so sein wird, da bin ich nicht sicher.

    Ja, das habe ich mir beides auch schon gedacht. Erstens stößt Beauvoir viele Türen auf, hinter denen Bedenkenswertes lauert und man kann auf einigen neuen oder lange nicht besuchten Pfaden gehen. Evolution, Anatomie der Frau, im Vorwort und zwischendurch immer wieder die philosophischen Ansätze, insbesondere der Existenzialismus, Sozialgeschichte ... .


    Und die Ausführungen zur Abhängigkeit der Frau von ihrer Physiologie haben mich richtig aufgewühlt, so habe ich das noch nie gesehen. Es ist natürlich auch extra massiv dargestellt, damit Beauvoir ihre These vom Subjekt, das sich selbst setzt und damit seine körperlichen Voraussetzungen überwindet, umso kontrastiver setzen kann. Ich glaube eigentlich nicht, dass die Physis der Frau als Kränkung gesehen werden kann, Rumpelstilzchen , denn sie kommt ja von der Natur und ist nicht vom Mann oder der Gesellschaft gesetzt. Nur das, was beide daraus machten und teilweise immer noch machen, kann als Kränkung gesehen werden, und da muss neben den Männern auch bei vielen Frauen ein Umdenken und Umorganisieren stattfinden.


    Tante Li , wie du finde ich auch die Ableitungen Freuds reichlich überzogen bzw. ganz einfach falsch. Freud war eben auch ein Kind seiner Zeit und deren rigider Sexualmoral. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass kleine Mädchen auf das Zipfelchen ihrer Brüder neidisch sind sowie die Schlussfolgerungen, dass Frauen danach entweder nur die Chance haben zu vermännlichen, dann auch nur zum klitoralen Orgasmus fähig sind oder sich selbst in der Liebe zum Mann unterwerfen und zur Belohnung dann auch den vaginalen Orgasmus genießen können. Hä?? Hier spricht doch eher die Angst des Mannes davor, dass die Frau auch allein zur Befriedigung kommt und ihn nicht dazu braucht. Und das wird dann natürlich als Vermännlichung und Entwicklungshemmung gesehen.

    Es ist schon interessant, zu welchen Themen man hier in die Diskussion kommt.

    An meinem Beitrag #10 kann man sehen, wie bescheuert es doch ist, rumzuschwafeln, wenn man die Textstelle nicht kennt, auf die man sich bezieht :schaem. Entschuldigt daher meine unpassenden Ausführungen. Beauvoir nennt ja die Krankheiten, an denen die Mädchen und jungen Frauen in ihrer Generation noch vermehrt starben. Das ist aber wohl heute nicht mehr der Fall, jedenfalls hört man nichts von ungewöhnlich schweren Krankheiten bei jungen Mädchen und Frauen.
    Wenn man die zweite Hälfte des Biologie-Kapitels liest, kann man sich sowieso fragen, wieso die Evolution der Frau das antut. Beauvoir schildert extrem drastisch die Abhängigkeit der Frau von ihren körperlichen Vorgängen, insbesondere vom "Fluch" des Menstruationszyklus. Danach muss man fast den Eindruck haben, dass es der Frau unmöglich sei, auf die gleiche Entwicklungsstufe wie der Mann zu gelangen, da sie ein Opfer ihrer "Bestimmung" ist. Wenn man sich die Frau im Alltag ansieht, wundert man sich, wie ihr die ganzen Tätigkeiten und Verantwortlichkeiten überhaupt gelingen können.

    Ich sehe das ähnlich wie du, Rumpelstilzchen (#6), dass auch das Männchen ein Opfer seiner Drüsen ist.I nteressanterweise führt Beauvoir in dem Biologie-Kapitel gar nichts über die Abhängigkeit des Mannes von seinen Hormonen aus. Dass das natürlich erzeugte Aggressionspotential des Mannes die Menschheit in die meisten oder alle ihrer menschenverschlingenden Kriege gestürzt hat und wir gerade heute wieder in vielen Staaten von drüsengesteuerten Flachdenkern regiert werden, sollte einem zu denken geben. Aber ich denke, dass sie auf Kriege und Aggressionen in anderem Zusammenhang sicher noch zu sprechen kommt.

    Am Ende des Biologie-Kapitels betont die Autorin noch einmal deutlich ihren existentialistisch geprägten Ansatz, dass der Mensch nicht ein Opfer seiner biologischen Prägung ist, sondern, dass er sich selbst als Person setzt, mit seinen Voraussetzungen rational umgehen und sie überwinden kann. Achtung und Respekt vor jedem Menschen führen eine Gesellschaft dazu, dass sich alle entwickeln und selbst überwinden können.

    Ich stehe jetzt am Beginn des psychoanalytischen Kapitels, das deutlich leichter zu lesen ist (wie auch schon der zweite Teil des biologischen Kapitels). Die Ausführungen zu Freud und Adler sind interessant, besonders über Adlers Ansatz wusste ich bisher sehr wenig. Freuds Einstellung zur Psyche der Frau zieht einem immer wieder die Schuhe aus, aber auch der Rest seines rein auf sexuellen Annahmen ruhenden Gebäudes ist heute doch recht abstrus. Ich denke, man muss Freud auch als Gegenreaktion auf die Prüderie seiner Zeit sehen. Diese unterdrückte die Kommunikation über Sexualität derartig, dass diese schon für viele zum Trauma werden konnte und daher Freud in seinen Annahmen bestärkte.

    Ich weiß aber immer noch nicht, auf welche Ausführungen Beauvoirs ihr eure Anmerkungen zur Trans- und Homosexualität stützt. Meint ihr vielleicht die Stelle, auf die ich oben auch einging (#3), dass das Geschlecht keineswegs so eindeutig im Menschen angelegt ist, wie früher immer betont wurde?

    So weit bin ich leider noch nicht. Aber ich könnte mir vorstellen, dass zu Zeiten des Schreibens von Beauvoirs Buch die Sterblichkeit der Mütter höher war als heute und vielleicht auch die Selbstmordrate junger Mädchen und Frauen, die wegen nicht-ehelichen Geschlechtsverkehrs und seiner möglichen Verfolgung sich gesellschaftlicher und auch familiärer Ächtung ausgeliefert sahen.

    Heute dagegen ist die Selbstmordrate junger Männer sehr viel höher - warum auch immer - und die Risikobereitschaft ist bei Männern ja bekannterweise auch höher und heute sind aufgrund der vielen Möglichkeiten, sich umzubringen, absichtlich und unabsichtlich, die Todesraten in diesem Bereich wohl höher als früher. Auch weil die Adoleszenzphase länger dauert als früher. Da musste Mann in jüngeren Jahren Verantwortung übernehmen.


    Was ihr noch aus dem Vorschlags-Thread übernehmen wollt, bleibt euch überlassen. Es wird sich mit der Reihenfolge von allein einerseits normalisieren, andererseits aber immer ein bisschen durcheinander bleiben, weil wir ja jetzt schon merken, dass wir ein unterschiedliches Lesetempo haben.

    Inzwischen habe ich einen Teil des ersten Kapitels über die biologischen Voraussetzungen gelesen. Wenn man nicht Biologie studiert hat, ist ein begleitendes Fremdwörterbuch, falls man nicht sowieso elektronisch liest, sehr hilfreich. So sehr veraltet, wie ich zuerst dachte, sind die Ausführungen aus der Mitte des letzten Jahrhunderts gar nicht. Die Genetik steckte noch in ihren Kinderschuhen, aber Beauvoir kannte schon die Chromosomen und kommt mithilfe der Mendelschen Gesetze zu ähnlichen Aussagen, wie man sie wohl heute mithilfe der Genetik träfe, nachdem Watson/Crick 1953 die Doppelhelix entdeckt hatten.

    Beauvoir führt zunächst aus, dass die zweigeschlechtliche Fortpflanzung nur ein Modell unter mehreren Fortpflanzungsarten in der lebenden Natur ist. Sodann erklärt sie, dass - entgegengesetzt zur männlichen Ideologie - das Ei zwar der empfangende, statische und das Spermium der mobile Teil in der Entstehung des Lebens von Säugetieren ist, dass aber beide Teile gleichberechtigte und von ihrer Konzeption her sogar gleiche Keimzellen beinhalten und beide gleich viele Erbinformationen mitbringen, die zu einem völlig neuen Wesen kombiniert werden. Dabei komme es öfter auch zu hermaphroditischen Ausprägungen, neben der allgemeinen Anlage männlicher Geschlechtsmerkmale bei der Frau (z.B. Klitoris) und weiblicher beim Mann (z.B. Brustwarzen). Damit weist Beauvoir nach, dass die Gegensätze zwischen Mann und Frau gar nicht so scharf, sondern von Natur aus gleitend angelegt sind.

    Das könnte man vielleicht heute für kalten Kaffee halten, aber man hört auch heute noch, und nicht nur bei Männern, öfters heraus, dass die Frau ja für die Empfängnis und das Passive, Häusliche stehe, weil sie ja nun mal die Kinder bekäme und der Mann eher der mobile Arbeitende und Schweifende wäre. Letztlich kann man hier schon eine Ideologisierung einer einseitig verstandenen Vorstellung von Empfängnis, Befruchtung, Begattung sehen. Ich habe eben gerade versucht, ein nicht ideologisiertes Wort für die Entstehung neuen Lebens beim Menschen zu finden, aber es gibt nur solche wie die oben genannten, die eindeutig die Rollen der passiv Empfangenden und des aktiv Begattenden festlegen. Verräterische Sprache!

    Da wir für eine offizielle Leserunde nicht genügend Teilnehmer haben, tauschen wir uns hier über das erste Buch von Beauvoirs Klassiker des Feminismus aus. "Das andere Geschlecht" erschien zuerst 1949 und untersucht die Stellung der Frau in der Gesellschaft unter vielen Aspekten.

    Zur Einleitung:


    Beauvoir beginnt, indem sie die Unterschiede zwischen dem Anders einer Gruppe, z.B. den Juden oder "Schwarzen", gegenüber den "Weißen" definiert im Unterschied zu dem anderen, weiblichen Geschlecht, das eine unterschiedliche Wertigkeit hat. Während sich die Männer der oben genannten Gruppen unter sich selbst als das "Eine" setzen können und damit zum Subjekt werden, ist dies der Frau bisher nicht möglich, weil sich 1. alle Männer - auch die der anderen Gruppen - darüber definieren, dass sie das eine und einzige vollkommen Menschliche sind, 2. weil die von den Männern gesetzte Andersartigkeit der Frau innerhalb des Menschseins von Anbeginn existiert, also keiner historischen Phase zugehört und daher nicht mit der Perspektive auf Befreiung gesehen werden kann, 3. weil sich die Frauen je nach Klassen-, Gruppen- und Familienzugehörigkeit in einer Art Symbiose mit den Männern befinden, obwohl diese die Macht haben und die Frauen sich daher nicht untereinander solidarisieren.

    Sie will die Frage ergründen, wie es zu dieser jahrzehntausende langen Unterjochung kam und warum sich die Frauen, obwohl sie die Hälfte der Menschheit umfassen, nie dagegen gewehrt haben.

    Ich habe vorher - zu meiner Schande sei es gesagt - noch nie ein feministisches Werk außerhalb der Belletristik gelesen und finde Beauvoirs Ansatz bisher sehr erhellend und gar nicht zopfig. Natürlich sind wir heute weiter als zur Mitte des letzten Jahrhunderts, aber gerade jetzt gibt es wieder Rückschritte, weil viele Männer im Zuge der Chauvinisierung von Politik und Gesellschaft zu der von Beauvoir geschilderten Einstellung der Annahme von sich als des Einen zurückkehren (falls sie sie jemals überwunden haben sollten).

    Danke, Tante Li und Herr Palomar .

    Dann mache ich das mal, aber dann fehlen eure Beiträge zur Einleitung. Kopiert ihr dann bitte die entsprechenden Stellen dann auch mit hinein? Ich eröffne den Thread für das erste Buch "Fakten und Mythen". Mehr Einteilung brauchen wir wohl nicht, weil wir nur so wenige sind. Da verliert man nicht so schnell den Überblick und da es kein Roman ist, nimmt man auch niemandem die Spannung weg.

    So weit wie ihr bin ich noch nicht, lese wohl auch eine andere, alte Ausgabe von 1961 aus der Reihe "Knaur - Bücher der Welt in der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens (Buch 1) und Fritz Montfort (Buch 2).

    Ich schreibe jetzt über die Einleitung, die bei mir bis S. 30 geht.

    Beauvoir beginnt, indem sie die Unterschiede zwischen dem Anders einer Gruppe, z.B. den Juden oder "Schwarzen", gegenüber den "Weißen" definiert im Unterschied zu dem anderen, weiblichen Geschlecht, das eine unterschiedliche Wertigkeit hat. Während sich die Männer der oben genannten Gruppen unter sich selbst als das "Eine" setzen können und damit zum Subjekt werden, ist dies der Frau bisher nicht möglich, weil sich 1. alle Männer - auch die der anderen Gruppen - darüber definieren, dass sie das eine und einzige vollkommen Menschliche sind, 2. weil die von den Männern gesetzte Andersartigkeit der Frau innerhalb des Menschseins von Anbeginn existiert, also keiner historischen Phase zugehört und daher nicht mit der Perspektive auf Befreiung gesehen werden kann, 3. weil sich die Frauen je nach Klassen-, Gruppen- und Familienzugehörigkeit in einer Art Symbiose mit den Männern befinden, obwohl diese die Macht haben und die Frauen sich daher nicht untereinander solidarisieren.
    Sie will die Frage ergründen, wie es zu dieser jahrzehntausende langen Unterjochung kam und warum sich die Frauen, obwohl sie die Hälfte der Menschheit umfassen, nie dagegen gewehrt haben.

    Ich habe vorher - zu meiner Schande sei es gesagt - noch nie ein feministisches Werk außerhalb der Belletristik gelesen und finde Beauvoirs Ansatz bisher sehr erhellend und gar nicht zopfig. Natürlich sind wir heute weiter als zur Mitte des letzten Jahrhunderts, aber gerade jetzt gibt es wieder Rückschritte, weil viele Männer im Zuge der Chauvinisierung von Politik und Gesellschaft zu der von Beauvoir geschilderten Einstellung der Annahme von sich als des Einen zurückkehren (falls sie sie jemals überwunden haben sollten).


    Ich störe mich aber immer noch daran, dass wir hier vermutlich monatelang unter dem Titel "Leserundenvorschlag" über das Buch diskutieren sollen. Kapiteleinteilungen finde ich jetzt nicht so wichtig, da wir so wenige sind, aber der Thread sollte wenigstens seinen irreführenden Titel ändern, bzw, der Teil, in dem es in die Diskussion geht, vom Vorschlagsthread abgetrennt werden. Kann das nur der Thread-Eröffner oder auch ein/e Moderator/in?

    Von mir aus könnten wir gleich damit anfangen. Dann schaffen wir es vielleicht bis die Leserunde zu Toms Buch anfängt - da will ich nämlich unbedingt dabeisein.

    Das schaffen wir ganz sicher nicht! Das Buch ist erstens dick (über 1100 Seiten) und zweitens ziemlich komplex, das kann man nicht mal ebenso lesen. Aber es ist ja andersrum nicht schlimm, wenn man an einer anderen Leserunde zu einem Roman teilnimmt, denn ich denke, dass wir an der Beauvoir über Monate sitzen werden, was sich aber bestimmt auch lohnt.

    Sollen wir dann am 10. Oktober anfangen und uns dann langsam durch das Buch treiben lassen? Ich kann auf jeden Fall nicht so schnell da durch, weil ich "nebenher" viel arbeiten muss und dann nicht abends zur Entspannung 50 Seiten früh-feministische Literatur lese.

    Nun, Ende der Siebziger war es sicherlich anders als Ende der Sechziger, und du hast es erlebt, dann weißt du am besten, wie du das empfunden hast.

    Ich erinnere mich an viel politischen Diskurs, auch In Form von Wortstreit, aber man wurde nicht dazu gezwungen, sich einer Meinung unterzuordnen, jedenfalls habe ich das nicht so empfunden. Ich habe mir mehrere Verbände angeschaut, mich für einen entschieden und dafür während des Studiums gearbeitet. Später ist mein Engagement dem Alltag eher zum Opfer gefallen und meine Meinungen zu Aspekten politischen Lebens differenzierter, so dass ich mich heute nicht mehr einer Partei zuordnen würde. Für die gesellschaftspolitische Grundhaltung der sozialen Gerechtigkeit setze ich mich aber auch heute noch ein.

    In den Neunzigern und Zehnern habe ich die Jugendlichen und jungen Menschen als zum größten Teil äußerst unpolitisch empfunden, insofern machen mir einige der heutigen Klimabewegungen schon Hoffnung auf ein wenig mehr Mitmach-Demokratie, auch wenn es noch kein wirklicher Aufbruch ist.

    Interessant ist, dass das Buch im Rotbuch-Verlag erschien, der ja auch aus dieser Zeit stammt und anscheinend trotz mehrfachen Besitzerwechsels die aufgeklärt-gesellschaftskritische Haltung behalten hat.

    Wie erklärt der Autor den Titel? Mir fallen alle möglichen Metaphern zu dieser Zeit und dem politischen Engagement ein, aber auf diesen Vergleich wäre ich nicht gekommen. Bezieht sich das auf die Abhängigkeit der marxisitschen Gruppen vom damals real existierenden Sozialismus? Oder ist die Steuerung durch politische Heilsideen linker Provenienz gemeint? Da war aber auch viel Auseinandersetzung und Debatte, gesteuert wie Maschinen habe ich das nicht empfunden.
    Denn auch ich habe in den Endsiebziger Jahren angefangen zu studieren und war im linken Spektrum politisch tätig. Die Bandbreite dieser "Bewegung" war wirklich riesig, und es war bei all seinen Irrtümern ein spannendes Jahrzehnt, in dem die jungen Menschen politischer wirkten als bis noch vor kurzer Zeit. Jetzt hat sich ja durch Klimabewegung wieder einiges getan in der jungen politisch aktiven Szene.

    Anthony Trollope: The Warden (deutsch Septimus Harding, Vorsteher des Spitals zu Barchester)


    Dieser Roman, einer der ersten des Vielschreibers Anthony Trollope (1815-1882) eröffnete 1855 die erfolgreiche Reihe der sogenannten Barsetshire-Romane, die alle in dieser fiktiven Grafschaft spielen.

    Septimus Harding, Geistlicher und Freund des Bischofs von Barchester, hat von diesem eine Pfründe von 800 Pfund jährlich für das Amt des Vorstehers einer Einrichtung für zwölf arme alte Männer bekommen, das mit keiner besonderen Arbeit verbunden ist und diese schon über viele Jahre freudig genossen. Durch einen eifrigen jungen Mann, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen, wird ihm klar, dass der Stifter des Spitals nicht im Sinn gehabt haben konnte, dass die armen alten Männer zwar genug, um gut zu leben, bekommen, aber nur einen Bruchteil dessen, was er erhält. Obwohl sein zielstrebiger Schwiegersohn Grantly, der Sohn des Bischofs und dessen Stellvertreter, erfolgreich für das Recht der Kirche auf Verteilung ihrer Einnahmen kämpft, wird ihm klar, dass es ethisch falsch ist, sein Amt zu behalten, woraufhin er dieses allem Widerspruch zum Trotz niederlegt und die Stellung eines armen Vorstadtpfarrers annimmt.


    An Handlung passiert nicht viel in diesem Roman, seine Stärke liegt in seinen Dialogen und der Charakterisierung der handelnden Personen. Diese werden differenziert und überzeugend beschrieben: Es gibt keine Idealtypen und diese Lebensnähe überzeugt auch in den Schilderungen der Haushalte, Restaurants, Hotels und des Spitals und seiner Insassen. Leicht ironische Noten durchziehen gekonnt den auktorial geprägten Erzählstil, der nur dann abfällt, wenn Trollope erklärt satirisch werden will, wie zum Beispiel bei der Darstellung seiner Autorenkollegen Thomas Carlyle und Charles Dickens. Hier wird er schon allein in der Wahl der Namen recht grob (Dr. Pessimist Anticant und Mr. Popular Sentiment) und teilt wenig elegante Hiebe aus. Ansonsten ist aber seine Ironie wohl überlegt und treffend und erreicht bei der Darstellung der Macht der Medien ("Jupiter" als "Times") eine erstaunliche Modernität.


    Ein gut geschriebener Roman mit einem interessanten Thema, der mir Lust auf mehr Trollope-Lektüre macht.