Nach diesen zwei doch sehr durchwachsenen Meinungen zu dem Buch möchte ich meine eigene äußern:
Heidi hat ja den Inhalt sehr ausführlich beschrieben, allerdings fehlt m. E. ein wichtiges Detail: Iwan fühlt sich an diesem Tag krank. Er weiß aber, dass das Melden der Krankheit keine Arbeitserleichterung bringt, sondern eher noch mehr Erschwernisse.
Die Beschreibung dieses Tages bedeutet also mehr als alle anderen Tage im Gulag für Iwan einen Überlebenskampf. Wie er diesen sachlich, chronologisch beschreibt, fand ich unheimlich berührend.
Das Hauptthema für mich in diesem Buch war die Frage, wie man auch unter diesen unmenschlichen Umständen seine Würde behält. Iwan behält sie indem er jedes kleine positive Detail für sich bemerkt - z. B. eine Arbeit, die keinen allzu langen Fussmarsch erfordert oder eine doppelte Brotration.
Zwischendurch scheint immer wieder die Machtlosigkeit durch - der Leser erfährt nicht - und Iwan weiß es wahrscheinlich auch nicht - wie lang er seine Strafe absitzen muss. Iwan thematisiert nicht das Unrecht, dass er im Gulag ist, die Wirkung auf den Leser, der weiß, dass nur ein Bruchteil der Menschen im stalinistischen Gulag sich nach normalen Rechtsvorstellungen etwas zu schulden haben kommen lassen, ist umso größer angesichts dieser Schicksalsergebenheit, die nur bemüht ist, zu überleben und dabei einen Rest Würde zu behalten.
Solschenizyn hat mich mit diesem Büchlein gefangen, ich mag seine Art des Schreibens sehr.
Ich habe übrigens meine Probleme mit der Einordnung unter der Rubrik "Autobiographie/Biographie". Es ist eine Erzählung, in die Solschenizyn zwar seine eigenen Gulag-Erfahrungen einspeist, aber ansonsten ist die Beschreibung dieses einen Tages für mich eher in den Bereich "Klassiker" oder wenigstens "Belletristik" einzuordnen.
Edit: Noch ein paar Infos über Solschenizyn...
Alexander Solschenizyn wurde 1918 in Kislowodsk geboren. 1945 Verurteilung zu acht Jahren Zwangslager des Gulag. 1953 Entlassung aus der Haft, Verbannung auf Lebenszeit. 1957 offizielle Rehabilitation des an Krebs erkrankten Solschenizyn. 1970 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. 1974 wurde er aus der Sowjetunion ausgewiesen, nachdem er "Der Archipel GULAG" zur Veröffentlichung im Westen freigegeben hatte. Er lebte zunächst in Zürich und seit 1976 in den USA. 1994 kehrte er nach Russland zurück. Er starb am 3. August 2008 in Moskau.