Beiträge von Lipperin

    Über das Buch:
    Peter Englund schildert die Geschichte des Ersten Weltkriegs aus der Perspektive von neunzehn meist unbekannten Menschen.Sie alle erfahren den Krieg als eine Macht, die ihnen etwas Entscheidendes raubt: ihre Jugend, ihre Illusionen, ihre Hoffnung, ihre Mitmenschlichkeit – ihr Leben. Es sind erschütternde Episoden, die sich wie nebenbei zu einem Gesamtbild fügen, romanhaft erzählt und doch auf zahllosen Selbstzeugnissen basierend.


    Über den Autor:
    Peter Englund wurde 1957 in Nordschweden geboren. Er arbeitete als Kriegsreporter, ist Historiker und seit 2009 ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie.


    Für die Übersetzung sorgte Wolfgang Butt.



    Meine Meinung:
    Taschenbuchausgabe, insgesamt ca. 700 Seiten. Nach einer Widmung ein Vorwort „An den Leser", anschließend zwei Zitate von Rainer Maria Rilke und Stefan Zweig, Personenverzeichnis („Dramatis personae“). Die – linear erzählten - Kriegsjahre 1914 bis 1918 werden jeweils durch eine „Chronologie der Ereignisse“ begonnen und durch zahlreiche Fotografien abgeschlossen. Abgeschlossen wird der Hauptteil durch einen Auszug aus einem Buch eines gewissen Adolf Hitler, der bekanntermaßen großen Wert darauf legte, als Teilnehmer am Ersten Weltkrieg bezeichnet zu werden. Beendet wird das Buch durch einen umfangreichen Anhang, bestehend aus sehr ausführlichen Anmerkungen, Hinweisen zu Literatur, ein Register, Bildnachweisen sowie zwei Landkarten „Die Welt 1914“ und „Der Erste Weltkrieg in Europa“.


    In diesem Jahr erscheinen Bücher zum Thema zuhauf; zu diesem habe ich ob des mir interessant erscheinenden Ansatzes gegriffen: Der Erste Weltkrieg erzählt von denen, die an ihm teilnahmen, die nicht zu den Spitzen der Hierarchien gehörten, die Granaten und Gasangriffe aus nächster Nähe erlebten, die durch die Kämpfe geprägt und gezeichnet wurden. 19 Menschen begleitet man als Leser durch diese vier Jahre, dabei sind ein deutsches Schulmädchen, ein Ingenieursoffizier der russischen Armee, ein französischer Beamter, ein Südamerikaner, der seine Dienste vergeblich den westlichen Mächten anbot, also wurde er Kavallerist in der osmanischen Armee, ein Gebirgsjäger und ein Infanterist der italienischen Armee, zwei Krankenschwestern, eine auf Seiten der serbischen Armee, eine der russischen Armee, ein Schiffsmatrose, ein Artellerist und ein Soldat auf deutscher Seite und andere mehr. Globales Personal für einen globalen Krieg. Zwei von ihnen werden den Krieg nicht überleben, was mir angesichts der Opferzahlen, egal auf welcher Seite, fast wie eine statistische Schieflage erschien.


    Erfunden sei nichts, so Englund, sondern der Text basiere auf Briefen, Tagebüchern und anderen Aufzeichnungen. Die Recherchearbeit muss trotzdem immens gewesen sein, die Fülle dessen, was man über Krieg, Ausstattungen, Waffen, Verpflegung, Aufwendungen in welcher Hinsicht auch immer, Verschuldungen etc. erfährt, erscheint mir groß. Vieles habe ich erfahren, viele Details, die zusammen ein genaueres Bild über die Situation der Menschen in jenen Jahren ergeben, sei es die Einführung der Kurzhaarfrisur und des Stahlhelms, sei es die Todeszahlen allein bei den Pferden, die Abgabe von Tabak an die Soldaten, aber auch das Können der Ärzte, die Ernährungssituation, die sich so verheerend auswirkenden Missverständnisse in den Armeen und Hierarchien, der Völkermord an den Armeniern, die Revolution in Russland, Kriegsbegeisterung und Kriegsmüdigkeit.


    Englunds Buch habe ich gerne und mit Gewinn gelesen, gleichwohl bin ich nicht wirklich glücklich damit geworden. Dem großen und umfangreichen Wissensgewinn steht das gegenüber, was für mich das Problem des Buches ausmacht und was ich einmal als die Gleichförmigkeit unterschiedlicher Stimmen bezeichnen möchte. Die 19 Menschen, darunter immerhin ein 1914 zwölf Jahre altes Mädchen sowie ein zum selben Zeitpunkt 45 Jahre alter Beamter, kann man nur anhand dessen unterscheiden, was berichtet wird, an ihrer Begeisterung oder Nachdenklichkeit, aber nicht, weil sie einen eigenen Raum für ihre eigene Stimme bekämen (abgesehen von kurzen Ausschnitten aus Briefen oder Tagebüchern). Ich habe nicht recht erkennen können, ob Englund nun in seinem Erzählen, in den Episoden die jeweiligen Stimmen mit eingewoben hat oder ob jede Episode als Erzähltes der jeweiligen Person zu gelten hat – in letzterem Fall hätten sie jedenfalls stellenweise ein ganz erstaunliches Wissen bzw. eine ganz erstaunliche menschliche Reife gehabt (wobei Englund mehrfach darauf hinweist, dass viele Details, Opferzahlen etc. erst nach Beendigung des Krieges an die Öffentlichkeit gelangten). Ein Schönheitsfehler, klein, aber für mich nicht unbedeutend.


    Beeindruckt und auch gefesselt hat mich die Arbeit Englunds aber allemal, wobei es keinen Bereich gab, der mein Interesse nicht zu wecken wusste. Ein Bild des Krieges "von unten", von denen, die sich nicht verstecken konnten, sondern den Ereignissen standzuhalten versuchten.


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    Tschingis Aitmatow; Goldspur der Garben; 2,5
    Aleksandar Tišma; Die Schule der Gottlosigkeit; 1; Monatshighlight
    Tilman Spengler; Haben Sie das wirklich alles im Kopf – Glücksfälle der Weltliteratur; 1,5
    Kim Dongni; Ulhwa, die Schamanin; 2
    Inge Jens; Am Schreibtisch – Thomas Mann und seine Welt; 2
    Nadine Ahr; Das Versprechen – Eine Geschichte von Liebe und Vergessen; 2
    Richard Yates; Zeiten des Aufruhrs; 1; Leserunde
    Richard Yates; Das Jahr der leerenTräume; 3
    Rainer Moritz; Der fatale Glaube an das Glück – Richard Yates, sein Leben, sein Werk; 1,5
    Peter Englund; Schönheit und Schrecken; 2,5

    Zum Inhalt:
    In Extremsituationen zeigt sich die Natur des Menschen unverhüllt; deshalb sind die Geschichten aus dem Krieg so aufschlussreich für das menschliche Verhalten. In den vier vorliegenden Geschichten geht es nicht nur um den Krieg, auch wenn er überall zwischen den Zeilen durchscheint. Es geht um Menschen am Rande des Abgrunds.


    Zum Autor:
    Aleksandar Tišma, geboren 1924 im ehemaligen Jugoslawien, gestorben 2003 in Novi Sad. Mitglied der jugoslawischen Befreiungsarmee, nach dem Krieg Journalist und Verlagslektor. Veröffentlichung teils autobiografischer Romane und Erzählungen, für die er international geehrt wurde.


    Die Texte wurden von Barbara Antkowiak aus dem Serbischen übertragen.



    Meine Meinung:
    Gelesen habe ich die Taschenbuchausgabe von dtv, 4. Auflage Mai 2003. 142 ½ Seiten Text, beinhaltend vier Erzählungen unterschiedlicher Länge:


    Schneck:
    Schneck ist ein Mann der Anpassung, sei es an den Kopfschmerz seiner Eltern, sei es an die Identität eines anderen Menschen bei seiner Flucht vor den Nazis, sei es an die tödlich verlaufende Krankheit des verstorbenen Ehemannes seiner Geliebten. Das Gewahrwerden seines eigenen Selbst kann ihn zu seinem eigenen Leben zurückbringen.


    Die Schule der Gottlosigkeit:
    Ein treusorgender, strenger Vater, ein brutaler Folterer und Mörder, vereint in einer Person. Als eines seiner Opfer unter der Folter stirbt, ist er sich gewiss, dass sein todkrankes Kind auch sterben wird, denn, so sein schlichter Gedanke, für den Tod des einen muss er mit dem Tod des anderen bezahlen. Als das Kind überlebt, ist für ihn die Sache klar: Gott gibt es nicht.


    Die schlimmste Nacht:
    Ein Mann starrt auf den Wecker, seine Frau und seine Tochter schlafen. Wenn der Tag anbricht, werden sie aufbrechen in den Tod, deportiert in ein KZ. „Die Möglichkeit der Wahl“ (Seite 77) ist nur dann eine, wenn der Gedanke an das, was die Familie erwartet, nicht lähmt, weder einen Entschluss noch eine Reaktion.


    Die Wohnung:
    Vier Personen, zwei Zimmer, eine neue, größere Wohnung muss her. Sie gehört einer alten Frau, der der Familienvater sich zum Dank verpflichtet weiß, rettete ihr Engagement ihn doch vor dem Lager. Das schützt die alte Frau nicht davor, sich und ihre vielen Möbel und Bücher in der Winzigkeit eines Zimmers unterbringen zu müssen.


    Tišma versteht mit wenigen Worten Szenerien aufzubauen, das, was nötig ist zum Verständnis der äußeren und inneren Handlung, trotz der Kargheit der Kulisse anschaulich zu bebildern. Er erzählt fast lapidar von Grenzsituationen, in denen sich seine Protagonisten wiederfinden, steigerte dadurch bei mir das Gefühl von Bedrücktheit, aber auch der Empathie.


    Die erste Erzählung „Schneck“ war für mich die „leichteste“, die, die mich anfangs nur wenig berührte. Ein Trugschluss war es allerdings, sie abzutun als Einstieg in diesen Band; sie entfaltet ihre Wirkung nach und nach, und sie entfaltet sie tagtäglich aufs Neue, nicht zuletzt, wenn man sich fragt, was wohl so toll daran ist, andere Menschen nachzuahmen, seien es Sänger, Schauspieler oder was als nachahmenswert gilt.


    Als ein Crescendo der besonderen Art habe ich „Die Schule der Gottlosigkeit“ empfunden. In der fast nüchternen, aber sehr intensiven Beschreibung des Mannes, seines Denkens, erst recht der Folter erwuchs für mich ein Schrecken, der Jorge Sempruns Wort, dass – sinngemäß – trotz aller Berichte „Wissender“ der Körper nicht wisse, was Folter sei, erst wenn er sie erlebe, könne er dieses Wissen haben, fast ad absurdum führte. Dass dieses Wissen allerdings nicht nur für den Gefolterten, sondern auch für den Folterer gilt, macht Tišma deutlich, der der exzessiven Gewalt des Folterers die vielleicht gar nicht einmal paradoxe sexuelle Entsprechung nicht nur nicht entgegenstellt, sondern sie in Einklang bringt.


    „Die schlimmste Nacht“ bietet kein Aufatmen, keinen Ruhepol. Auch hier gebären die Worte Entsetzen, weil er das Denken des Familienvaters so nachvollziehbar, seine Lähmung so komplett darstellt. Was bleibt, wenn ein Mensch stirbt, von seinem Mühen und Bemühen, von seinem Lieben und Hassen, wie ist es möglich, dass nichts von ihm bleibt, dass alle Erinnerung erlischt, erst recht, wenn sein Leben anderen nichts gilt. Das Denken an und das Nachdenken über die Ausweglosigkeit des – hier gewaltsamen – Todes habe ich als ein von Tišma fast beklemmend gestaltetes Kammerspiel empfunden.


    Die Erzählung „Die Wohnung“ hebt sich von der Drastik und Dramatik der beiden vorgenannten Erzählungen doch etwas ab, bietet einen Panoramablick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse der Nachkriegszeit (vielleicht nicht nur in Serbien). Für mich war es die „bewegungsreichste“ Erzählung, die Protagonisten verlassen die Wohnung, besichtigen andere, machen Besuche etc. Der Schrecken ist im Detail auch hier zu finden, aber er kam mir nicht so nah. Er gehört und bleibt bei den Protagonisten, während im Gegensatz dazu ich besonders bei den beiden mittleren Erzählungen das Gefühl hatte, mitten in der Geschichte zu sein. Es mag sein, dass sich das Gefühl, für mich die schwächste der Erzählungen gelesen zu haben, aus der Tatsache erklärt, dass ich dieses Kämpfen und Schachern um passende Wohnungen nie erleben musste. Auf sie verzichten hätte ich aber dennoch nicht mögen.


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    ASIN/ISBN: 3423121386

    1975 erschien bei Volk und Welt, Berlin, eine Übersetzung des Romans unter dem Titel „Das Jahr der leeren Träume“. Für die Übertragung sorgte Heide Lipecky. Diese Ausgabe habe ich jetzt auch gelesen, es gibt sie noch zuhauf antiquarisch.


    Mein Englisch ist nicht gut genug, um auch das Original zu Rate zu ziehen, mir erscheint aber die Übersetzung von Hans Wolf („Zeiten des Aufruhrs“) gelungener. Natürlich ist die Geschichte per se bei beiden Übertragungen identisch, aber es gibt doch deutliche Unterschiede, die für mich vielem einen anderen Anstrich en detail verleihen. Lipeckys Übersetzung erschien mir – selbst wenn ich den inzwischen vergangenen Zeitraum berücksichtige - teilweise etwas betulich, sie vermittelte mir nicht dieses Glasklare der Wolfschen Übertragung und verliert für mich dadurch deutlich an Schärfe. Auch habe ich es nicht als so gelungen empfunden, den Text allzu sehr an deutsche Begrifflichkeiten anzulehnen, z. B. „Sie hat Hand an sich gelegt, Shep. Sie hat sich selbst umgebracht“ (bei Lipecky, Seite 376) statt „Es war ihr eigener Entschluss, Shep. Sie hat sich umgebracht“ (bei Wolf, Seite 341), „Hörapparat“ (bei Lipecky) statt „Hörgerät“ (bei Wolf), „Laß man“ (bei Lipecky, Seite 47) statt „In Ordnung“ (bei Wolf, Seite 45). Es gibt etliche solcher Kleinigkeiten, die in der Summe eben doch keine Kleinigkeit mehr ausmachen, mir gar einen anderen Eindruck von den Protagonisten oder Szenen vermitteln (beispielsweise Mrs. Givings, die bei Lipecky eine Frau ist“ die ständig an die Scheidung dachte“ (Seite 186), bei Wolf ist es ihre Ehe, die „andauern auf der Kippe stand“ (Seite 170)).


    Im Ergebnis bleibt, dass die Übersetzung von Heide Lipecky mir nicht sonderlich gefallen hat; sie hätte mich nicht animiert, mich einer weiteren Yates-Lektüre zu unterziehen.

    Zitat

    Original von Clare


    Ich glaube nicht, dass die Distanz beim Lesen dieses Romans damit zu tun hat, ob man KInder und Ehemann hat oder nicht, sondern eher mit einer Leseeinstellung, und die kann mal so und mal so sein.
    Ich brauche z. B. nicht unbedingt Sympathien, um mich ganz auf das Buch einzulassen.
    So ist jeder anders, und das ist auch gut so! :wave


    :write
    Mittlerweile ist es für mich schon eine Art Qualitätsmerkmal geworden, wie sehr ein Buch mich zu fesseln vermag sprich "reinzieht". In früheren Zeiten hätte man mir das Lesen sicherlich verboten ...

    Zitat

    Original von killerbinchen


    Zu der Namensgebung schreibt Richard Ford u. a., Mrs. Givings sei die, die niemandem etwas zu geben hätte, Shep sei der typische Hühnerhund (Shepherd) und die Wheelers drehen sich wie ein Rad immer um sich selbst. Desweiteren ist er der Meinung, es handele sich bei dem Buch nicht nur um ein Drama, sondern vielmehr um eine sehr, sehr düstere Satire, und dass sich dieses Ehepaar mehr als verdient hat. Das fand ich ganz schön böse.


    Danke für die Erklärungen! :knuddel1
    Ja, die Namen sind schon sehr sprechend. Bei April dachte ich natürlich sofort an "launisch", aber ich denke, sie kann wohl gar nicht anders bei dem Hintergrund, den sie hat. Über den Namen von Mrs. Givings habe ich mich ziemlich amüsiert, jemanden, der ein derart "einnehmendes" Wesen hat, derart zu benennen...

    Zitat

    Original von Sonnschein


    Das stimmt allerdings, er sagt jedenfalls das was er denkt und das ist bei allen anderen nicht der Fall. Das bleibt natürlich nicht ohne Wirkung. Im nachhinein seh ich das auch so..


    Erinnert ihr euch an die Narren an den Höfen bei Königs und Fürstens? Die durften/konnten in der Regel sagen, was sich sonst keiner zu sagen getraute, hielten den Herrschenden und den übrigen Leuten den Spiegel vor. So in der Art stelle ich mir hier Johns Rolle vor. Er darf sich im Grunde alles erlauben, weil er "außen vor", weil geistesgestört oder ähnlich ist.


    An unfreundlichen Tagen habe ich allerdings auch den Eindruck, Yates habe John gebraucht, damit auch ... ähem ... nicht ganz so aufmerksame Leser merken, was er eigentlich sagen will. :-(

    Das Beunruhigende an diesem Roman ist ja eigentlich, dass er, obschon seine Handlung in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stattfindet, nichts erzählt, was wirklich vergangen, was aus der Welt wäre. Mehr Schein als Sein oder sich nicht doch mit dem zufrieden geben, was einem beschert ist? Mehr Wollen als Können oder sich strecken nach der Decke, die einem gehört? Krieg und Frieden in einer Ehe oder doch lieber ein Miteinander? Die Lebensentwürfe, die Yates für seine Protagonisten bereit hält, sind ebenso radikal wie normal, bewegen sich in dem ihnen gesteckten Rahmen, auch wenn sie aus ihm ausbrechen wollen. Dass ihnen die Möglichkeit dazu nicht gegeben ist, hat Yates nicht „erfunden“, er hat es, so glaube ich, dem Leben ganz einfach abgeschaut.


    Das Schönste an diesem Roman ist für mich die Sprache: Glasklar, radikal ehrlich, das Personal der Geschichte zwar in ein grelles Licht tauchend, aber sie dennoch nicht verurteilend. „Schaut her, so ist es“, scheint mir Yates zu sagen. Er hat, so glaube ich auch, sehr genau gewusst, dass er seinen Lesern quasi ein Lehrstück präsentiert, dass aber das Leben genau so weitergehen wird, wie er es beschrieben hat.

    Zitat

    Original von mankell
    Doch dieses Buch ist sein Geld durchaus wert, sowohl für Yates-Fans als auch für solche, die noch nicht mit dem großartigen Werk dieses Ausnahmeautoren in Berührung gekommen sind.


    Ein Satz von Rainer Moritz ist mir besonders ins Auge gesprungen, den ich auch jederzeit unterschreiben würde: Auch schwächere Yates-Bücher sind besser als die meisten Nicht-Yates-Bücher!


    Dem stimme ich unumwunden zu.
    Ein wunderbares Buch, das mit dem typischen Moritz-Erzählton dieses so schwere Leben und dieses unglaubliche Werk vor des Lesers staunenden Augen ausbreitet. Es ist eine mehr als eine Einladung, Yates Bücher zu lesen; es ist auch eine Liebeserklärung.

    Zitat

    Original von killerbinchen
    Habt ihr gesehen, dass es zu diesem Buch bereits eine Leserunde gab? Ich bin jetzt zu müde, mir alles durchzulesen, aber ich werde morgen auf jeden Fall mal einen Blick reinwerfen.


    Ja, als ich nachschaute, ob es schon eine Rezi zu dem Buch gibt. Dort wird auch auf den Film eingegangen.

    Zitat

    Original von Lumos
    Wenn ich eure Beiträge lese, Clare und Lipperin, dann glaube ich, dass ich die Geschichte mit mehr Distanz gelesen habe als ihr. (Das tue ich bei besonders dramatischen Geschichten meistens - aus reinem Selbstschutz ;-)).


    Ich habe das Gefühl, dass ihr euch intensiver vor allem in April hineinfühlen könnt. Sie tut mir zwar Leid, aber auch wenn ich weiß, was sie für eine schrecklich lieblose Kindheit hatte, kann ich mich in ihre Verhaltens- und Denkweisen nicht wirklich hineinfühlen :-(. Der Figur April stehe ich eher ratlos gegenüber. Vielleicht aber auch, weil man wenig über ihre inneren Beweggründe erfährt :gruebel.


    Einer meiner schlimmsten Fehler sei, so der O-Ton von jemandem, der mir einigermaßen nahe steht, dass ich Bücher weniger lese, sondern mehr lebe. Ich schiebe es, soweit möglich, auf das Können des jeweiligen Schriftstellers, dass ich so gefesselt bin... :grin


    Ein Nachwort von Richard Ford gibt es in meiner Ausgabe leider nicht (btb-Taschenbuchausgabe). Hätte ich gewusst, dass so etwas in anderen Büchern zu finden ist, hätte ich eine andere gekauft. Schad.


    Leider kann man die Zeitschrift "Krachkultur 10" von 2004 nicht mehr bekommen, dort ist der Artikel von Stewart O'Nan, in dem er vehement fordert, Yates wieder zu drucken und zu lesen. Das hätte mich sehr interessiert.



    Das unten verlinkte Buch habe ich mir jetzt besorgt und es – allzu dick ist es ja nicht – gleich gelesen. Interessant ist das Leben Yates allemal – und wenn ich mich über den in meinen Augen doch einigermaßen unmäßigen Alkoholkonsum der Protagonisten gewundert habe: Yates war schwerer Trinker. Wiederholt musste er übrigens auch in dem untergebracht werden, was man so nett mit „Anstalt“ bezeichnet; die Beschreibungen, als Ehepaar Givings John abholen will, sind anscheinend aus eigenen Eindrücken resultierend.


    Moritz widmet „Zeiten des Aufruhrs“ viel Raum, es war Yates Debüt und zumindest bei der Kritik und den Kollegen ein Erfolg. Yates kennt auch die Arbeit Franks, er hat für eine Firma gearbeitet und geschrieben, die sich mit Computern befasste. Die Reise von April und Frank nach Europa bzw. Paris haben Yates und seine erste Frau Sheila gemacht – es finden sich immer wieder Parallelen zwischen Leben und Werk, nicht nur in diesem Roman.


    Immer wieder komme ich auf die Frühstücksszene und Aprils Tat zurück. Ich habe diese Kapitel jetzt noch einmal gelesen und ich bin nach wie vor erschüttert. Beim zweiten Lesen fiel mir auf, wie zweideutig April doch Frank gegenüber ihre Erklärung gibt, warum sie ihm so ein gutes Frühstück bereitet: Er brauche das, weil es doch für ihn so ein wichtiger Tag sein wird. Ja, einerseits die Konferenz, andererseits, was nur April weiß, wird er am Abend Witwer sein. Rainer Moritz beschreibt diese Situation folgendermaßen: „April Wheeler hat mit ihrem Leben abgeschlossen“ (Seite 112). Da weiß ich mich mit ihm einig. :wow Ich habe mir versucht vorzustellen, wie das für April war: Die Abtreibung war erfolgreich, sie blutete wie sonstwas (Dichter würden sagen: „das Leben floss aus ihr heraus“ oder ähnlich), sie muss doch Schmerzen gehabt haben, die nicht gerade gering gewesen sein können – und sie räumt auf, putzt die schlimmsten Spuren weg, verschlimmert so ihre Situation. Meine Vorstellungskraft reicht jedenfalls nicht aus, um das wirklich nachspüren zu können.


    Ein Kleines noch habe ich bei Moritz gefunden: 1975 erschien bei Volk und Welt, also in der DDR, ein Buch, das den Titel "Das Jahr der leeren Träume" trug. Schwer vorzustellen, aber ja, es dauerte bis 2002, bis es dann bei DVA unter dem Titel "Zeiten des Aufruhrs" erschien. Wege gibt es manchmal ...


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    Bei Rainer Moritz ("Der fatale Glaube an das Glück" - Richard Yates - sein Leben, sein Werk) habe ich gerade gelesen, dass sich Yates jemanden mit Namen Jack Lemmon als Frank Wheeler gewünscht hätte. Ich habe nach dem Herrn gesucht ... doch ja, er kommt meiner Vorstellung von Frank einigermaßen nahe. Bei April muss ich immer an die Bilder von Edward Hopper denken, seine Frauengestalten erscheinen mir so unendlich einsam.

    Über das Buch:
    Es ist Liebe auf den ersten Blick, als sich Ria und Edwin 1945 kennenlernen. Doch sie finden nicht zueinander. Jahre später treffen sie sich erneut – und versprechen sich, nie mehr auseinanderzugehen. 39 glückliche Jahre lang bleiben sie zusammen. Dann erkrankt Ria an Demenz. Sie fängt an, sich vor dem Mann, der sie liebt, zu fürchten. Und Edwin erkennt, dass er sich entscheiden muss.


    Über die Autorin:
    Nadine Ahr wurde 1982 geboren. Besuch der Evangelischen Journalistenschule in Berlin; heute arbeitet sie für die ZEIT. Unter anderem den Alexander-Rhomberg-Preis der Gesellschaft für deutsche Sprache erhielt sie für ihre Reportagen.



    Meine Meinung:
    Gebundenes Buch, insgesamt 189 Seiten, abschließend eine Danksagung.


    Demenz – ein Wort, das Angst auslöst, das mit einem Tabu belegt zu sein scheint. „Fluch der Menschheit“, „Fluch des Alters“, wie immer man diese Krankheit bezeichnet, sie ist unheilbar, sie ist grausam, sie zerstört den Menschen, den wir so genau zu kennen glauben, wandelt ihn zu jemanden, der mit fortlaufender Dauer immer weniger, immer schemenhafter an den erinnert, der er war. Und wie genau meint man doch zu wissen, was mit diesen Menschen passiert, was zu geschehen hat mit ihnen, meint man, mitschweigen zu müssen, wenn denn überhaupt dieses Thema angerissen wird. Man bedauert sie, die es „trifft“, die Familie, die vor zunehmend kaum mehr lösbar erscheinenden Problemen steht.


    Nadine Ahr schweigt nicht, sie berichtet über das, was ihre Großmutter, ihre Familie traf. Für die Offenheit, die sie an den Tag legt, braucht es, so glaube ich, Mut, denn sie schreibt nicht nur die Geschichte ihrer Großeltern, sondern berichtet auch von sich selbst, von dem, was die Krankheit alles veränderte.


    Erzählt wird die Geschichte von Edwin und Ria, sie beginnt mit einer Trauerfeier. Der Aufbau, den die Autorin gewählt hat, habe ich als gelungen empfunden: Die Passagen, die allein Ria und Edwin gehören, sind durch Kursivdruck abgesetzt vom übrigen Text, erzählen kontinuierlich das Leben der beiden: Ihr Kennenlernen, ihre Trennung, ihr Wiederfinden, ihr Zusammenleben, das Versprechen, das zu halten menschliche Kräfte in bestimmten Situationen übersteigen kann. Man lernt zwei Menschen kennen, geht ihre Wege in Gedanken mit, freut sich mit ihnen, bedauert ihre kleinen Unstimmigkeiten, schaut ihnen dabei zu, wie sie älter werden.


    Der übrige, überwiegende Text ist aus der Perspektive der Autorin geschrieben, berichtet in Ich-Form hauptsächlich vom Großvater und den zunehmenden Schwierigkeiten, einen – menschlichen, kommunikativen – Zugang zur Großmutter zu finden. Nadine Ahr zeigt den schweren und schwierigen Weg, mit Empathie und doch auch mit einer gewissen journalistischen Nüchternheit zeichnet sie die Gefühlslage, die Beweggründe und die Ängste auf, nicht nur des Großvaters, sondern auch ihrer eigenen und der anderer. Man erfährt einiges über den Verlauf der Demenz, wobei die Ausprägung, wie sie bei Ria auftritt, sicherlich nicht Allgemeingültigkeit hat. Demenz, so las ich anderenorts, hat so viele Ausdrucksformen wie die Zahl der Menschen, die an ihr erkranken. Das mag so sein oder nicht, die Situation ist wohl in beinahe jedem Fall dergestalt, dass sie die pflegenden Angehörigen an ihre psychische und physische Grenze bringt.


    Nadine Ahr begnügt sich nicht damit, einfach die Umstände der Erkrankung, sozusagen die Fakten aufzulisten, sie stellt Fragen, sich ihrer Umgebung, Freunden, ihrem Lebenspartner. Was würdest du tun, wenn …? Was bleibt von einem Menschen, wenn seine geistigen Fähigkeiten immer mehr verloren gehen, besonders seine Erinnerungen, was ist er dann noch? Wenn sich Überzeugungen in ihm manifestieren, die er in gesundem Zustand nie gelassen hätte, wenn er diese Überzeugungen kundtut, damit den Partner in einer Weise verletzt, die mir schlimmer erscheint als vieles, was man sich vorzustellen vermag? Wann darf man sich abwenden, wann darf, wann muss man gehen? Darf man das überhaupt? Frau Ahr macht es sich nicht leicht, sie entblößt ihre Gedanken vor dem Leser, lässt ihn teilhaben an dieser ganz persönlichen Geschichte, die doch in gewisser Weise auch die Geschichte vieler ist, ohne ihn zu überfordern, wälzt vor allem ethische und/oder moralische Bedenken und Einwände nicht auf andere. Sie macht klar, wer betroffen ist, muss seinen eigenen Weg gehen, ihn zu finden macht schon Schwierigkeit genug.


    Naturgemäß kann ich nicht allen Gedanken folgen, die Nadine Ahr äußert, ich hatte hin und wieder meine Schwierigkeiten. Sie betreffen unter anderem die Gültigkeit eines Versprechens, vor allem aber die Wichtigkeit des „eigenen Selbst“ (Seite 115). Vielleicht ist das eine Generationsfrage, vielleicht eine Frage der Erziehung, vielleicht auch dessen, welche Prioritäten man selbst setzt, wenn man darin etwas anderer Meinung ist. Frau Ahrs Überlegungen passen aber sehr gut in unsere Zeit.


    „Bedeutet jemanden zu lieben nicht auch, loslassen zu können?“ (Seite 188) – diese Frage ist wohl zu verführerisch, um sie nicht aufkommen zu lassen. Natürlich: Liebe schaut immer zuerst auf den anderen; eine Antwort auf die Frage muss letztlich jeder selbst finden. Und ob es nicht doch auch hilft, wenn man sich sagt, die Liebe ende ja nicht, weil man geht, wenn man sich einredet, professionelle Hilfe sei angebrachter, effektiver, hilfreicher? Ich weiß es nicht, was ich mir aber vorstellen kann - und in diesem Sinne verstehe ich auch Edwins Benehmen -: Das Gewissen lässt sich von einem solchen Satz schwer beruhigen. Es hat seine eigene Moral.


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    Zitat

    Original von Clare


    Dieses Frühstück war richtig unwirklich. Ich hatte erwartet, dass sie sich umbringt. Ich glaube aber nicht, dass sie das wollte. Aber sie hat das Risiko einkalkuliert.


    Spätestens bei der Putzorgie ging mir eine Zeile nicht aus dem Sinn, sie steht nicht in dem Buch, sondern - ich habe ganz schön suchen müssen, um sie wiederzufinden - in einem Gedicht und heißt "... die Schnecke schultert ihr altes Haus ..." (ist in dem Gedicht "Die Krähennester" von Wilhelm Lehmann zu finden, Band 1 der Gesammelten Werke, erschienen bei Klett-Cotta). Das Gepäck (das Haus), das April mit sich schleppt, ist zu schwer, zu alt geworden, als dass sie es ohne Schaden an Geist und Seele und wohl auch am Körper zu nehmen lange hätte tragen können. Ich glaube, sie war sich sehr bewusst, dass diese Abtreibung auch ihr Tod sein würde; ein Verbleiben in der Familie war wohl nicht vorstellbar, hätte sie überlebt. Und ich glaube auch nicht, dass jemand überleben will, der erst noch für Ordnung meint sorgen zu müssen, bevor er den Notruf absetzt. Dieses Aufräumen galt für mich eher dem Schutz der Familie, nicht ihrer selbst.
    Mit ihr habe ich nach wie vor meine Schwierigkeiten, aber mich dauert sie unendlich.

    Frank scheint es nicht sonderlich gut zu gehen, wenn er dermaßen ausfallend gegenüber John wird. Die Nerven sozusagen zum Zerreißen gespannt, da fällt es leicht, auf Fragen und Sätze, die einen wunden Punkt berühren (können), aber auch Offensichtliches ansprechen, verbal zu entgleisen. „Vielleicht habe ihr euch ja verdient“ (Seite 308) – wieder einer dieser Sätze, die sich mir ein wenig die Nackenhaare sträuben lassen.


    Und weil er gerade dabei ist, bekommt April auch gleich eine Ladung ab. Perfektes Timing, wobei er gar nicht zu bemerken scheint, wie sehr er seine Frau schon verletzt hat. Immer noch einmal nachtreten, in die Wunde Salz streuen, wie immer man das nennen will, es ist seiner nicht nur nicht würdig, es ist, finde ich, erbärmlich. Er gefällt sich allzu sehr in der Rolle, in der er sich so gerne sieht und die für ihn wohl doch ein paar Schuhnummern zu groß ist.


    Der Waffenstillstand mit Friedensangebot am Frühstückstisch, seine Angst, dass April gehen könnte, vertieften in mir eigentlich das ungute Gefühl, dass ich seit geraumer Zeit hatte. Und letzten Endes: Es lief darauf hinaus, obwohl ich an diese Art von Selbstmord nicht wirklich gedacht habe. Ein dramatisch ausgehender Unfall, dahin gingen meine Überlegungen eigentlich eher. Aber die Verletzungen, die im Grunde in ihrer Kindheit schon angefangen haben, sich fortsetzten und fortsetzten, auch, nein erst recht in der Ehe, die Erkenntnis, die sie dann doch zulässt (Seite 324) und so etwas wie Bindungsunfähigkeit (wie ich glaube) lassen vielleicht in dem Moment für sie keine andere Lösung zu. Ihre Gedanken sind zu festgefahren, zu sehr hat sich manifestiert, was Frank ihr immer wieder zu verstehen gibt – und bei den Erfahrungen auch in der Kindheit und als Jugendliche -, als dass sie noch zugänglich gewesen wäre für eine andere Möglichkeit.


    Das, was geschehen ist, war mehr als der Versuch einer Abtreibung; es war ein Auslöschen ihrer selbst. Frank gebe ich recht (Seite 341), es war ihr Entschluss, für sie stellte es sich wahrscheinlich als der einzig gangbare Weg dar. Ihren Brief an Frank verstehe ich als Abschluss für sie selbst, sie will diesen Weg ohne Gedanken des Hasses oder von Vorwürfen gehen.


    „Jedenfalls musste das Leben weitergehen“ (Seite 316) – im Grunde steht dieser Satz zu früh im Roman, es wäre ein guter Schlusspunkt gewesen. Aber so erfahren wir noch etwas über Frank, für den ich eigentlich hoffe, dass Aprils Worte nicht dafür gesorgt haben, dass es nicht mehr an ihm nagt. Milly und Shep, Mr. und Mrs. Givings und vermutlich auch John werden ihr Leben weiterleben wie bisher, unberührt letztlich, außer dass man doch wieder ein ergiebiges Gesprächsthema gefunden hat. Shep wird noch eine Zeit zu leiden haben, das schon, aber auch das wird vorübergehen. Und die Kinder? Offene Geschichten – Yates ist auch ein Meister darin, nicht alles zu erzählen, es seinem Leser zu überlassen, irgendwann das Wörtchen „Ende“ zu schreiben.


    Was soll ich sagen? Vielleicht das: Howard Givings hat es gut, er kann sein Hörgerät abschalten und er ist von Stille, vom Schweigen umgeben. Das „Glück“ habe ich nicht, die Stimmen des Romans, die Personen werden mich sicher eine ganze Weile begleiten. Und den Namen Yates vergesse ich bestimmt nicht mehr.


    Zitat

    Original von Clare
    Es gibt immer Wege aus dem Tal heraus, die man gehen kann, wenn man nur Hilfe hat.


    Aber man muss diese Hilfe auch annehmen können, und ich glaube, über diesen Punkt war April hinaus, wenn es ihn denn überhaupt für sie gegeben hat.



    Ich danke sehr, dass ich an dieser Leserunde teilnehmen darf. Ich glaube, das Buch war zwar nicht leichter zu lesen, aber leichter durchzustehen, zu ertragen.

    Was mir jetzt mehrfach auffällt, ist die Tatsache, dass etwas Militärisches erwähnt wird, militärische Begriffe fallen. Hier zu Beginn auch, es hat scheinbar keinen Bezug zur eigentlichen Geschichte und doch … Krieg ist also angesagt, man hat darum zu kämpfen, die eigene Ansicht der „richtigen Entscheidung“ (Seite 233) durchzusetzen. Und diese „richtige Entscheidung“ betrifft, so glaube ich, nicht nur das Kind, sondern letztlich ihr Leben als Ehepaar. Da geht es um die beste Position, um Manövrieren und Überzeugen mit den eigenen besseren Waffen resp. Argumenten, da geht es um das Durchsetzen der eigenen Vorstellung. Und wenn dem so ist, darf man wohl fragen, ob die beiden im Grunde nicht mehr trennt als sie eint. Clare sagte – sinngemäß - im 1. Abschnitt, sie seien in ihrer Verliebtheit steckengeblieben; ich frage mich, in was sie eigentlich verliebt waren: ineinander oder nicht doch mehr in das Bild, die Vorstellung, die sie sich vom anderen gemacht haben, von diesem Anderssein, ohne dass sie genau wissen wollten, inwieweit die Realität mit der Vorstellung übereinstimmte.


    „Werbekampagne“ (Seite 239) nennt Yates diese Manöver, er ist höflicher als ich. Frank hat es jedenfalls drauf, seine Frau klein zu reden, jetzt redet er ihr auch noch irgendeine Störung ein. Vielleicht hat sie die ja auch, aber ob es Sinn macht, die ins grelle Licht zu zerren in ihrer Verfassung? Immerhin kann man dann den Besuch beim Psychoanalytiker ins Spiel bringen.


    Sie bleiben also vermutlich, wo sie sind. Dass dazu jeder der Nachbarn, Freunde etc. etwas zu sagen hat, ist ein Wunder nicht. Die arme kleine Jennifer macht sich ihre Sorgen, man sieht sie zwischen den Zeilen stehen.


    Dieser Abschnitt hat mich geschafft. Und die Tatsache, dass Frank das Kind höchstwahrscheinlich auch nicht will, aber es jetzt zu akzeptieren hat, weil sein Leben ja wieder die Bahn entlangläuft, die er geplant hat, trägt nicht zu meiner Beruhigung bei. Eine „neue, reife, unsentimentale Art von Ehe“ (Seite 263) werden sie zu führen haben, meint er. Willkommen im Alltag, kann man da nur sagen. Die Frage wird sein, ob ihre Ehe dem standhält. Jeder soll seine eigenen Probleme haben (gibt es keine gemeinsamen?); jeder hat seine mehr oder weniger kleine Affäre. Es findet sich ein neuer Schlüssel zum Verständnis von Aprils Verhalten (Seite 278). Franks perfektes Bild von sich bröckelt wenigstens ein bisschen, aber man hat ja seine Strategien, er will reden, sie will nicht. Er will beichten, sie auch, sagt ihm eine unangenehme Wahrheit (ja, ich glaube schon, dass das die Wahrheit ist). Hier scheint mir jeder sich nur selbst zu lieben, sich und seine Probleme. Oder nur die Probleme, je nach Tagesform.