Beiträge von Lipperin

    Leider habe ich fertig :-(, ich hätte noch gute 200 Seiten weiterlesen können. :-]


    Nun drängt alles auf den Höhepunkt hin, auch wenn sich Collins Zeit für jedes Detail nimmt. Miss Gwilt ist, so scheint es mir, fast am Ende ihrer Kräfte, auch wenn ihre Planungen auf den ersten Blick keine Schwäche zeigt. Aber die ist natürlich da, läuft auf zwei Beinen herum und hat einen seltsamen Namen. Der Herr Doktor jedenfalls ist an ihrer Seite, nicht nur am Erhalt seines Sanatoriums, seiner Existenz, am Geld, sondern auch sehr an Lydia interessiert. Er sichert sich ab und bietet ihr Gelegenheit in jeder Beziehung zu einem Mord (und Collins sichert sich ab, indem er nicht den Namen der Substanz nennt, die gebraucht wird. Clever!).


    Allan ist wieder da und hat einen Schutzengel, der über ihn wachen wird, koste es, was es wolle. Und es kostet, viel, sehr viel, fast zu viel.


    Bashwood wird auch eine Art Komplize, hat noch einen lichten, menschlichen Moment Seite 737, dann wird geistige Umnachtung ihm vieles erleichtern. Es ist ja fast kein Wunder, die auf vielen Seiten geschilderte Besessenheit wirkte auf mich nicht komisch, sondern mehr als bedenklich.


    Lydia wird zur Mörderin – ihrer selbst. Das in etwa habe ich erwartet, als meine Gedanken dahin gingen, sie werde an Midwinter sterben, nicht durch ihn. Sie selber sagt in ihrem Brief, worauf es nach meiner Meinung nach Collins auch und besonders ankam: Die moralische Seite (Seite 751).


    Die Art und Weise, wie Collins diesen Roman komponiert hat, imponiert mir. Irgendein Detail ist für mich nicht ganz aufgelöst, aber ich muss erst meine Aufzeichnungen durchstöbern, um zu wissen, was das eigentlich war. :-]
    Der Roman ist in meinen Augen, ich wiederhole mich da, ein zutiefst moralischer. Das wurde mir mehr und mehr deutlich. Collins macht sich ja auch nicht sonderlich viel Mühe, um das zu verschleiern, denn neben der puren Unterhaltung war das wohl der Bonus des Buches. Es war für mich eine leichte Enttäuschung, dass ich zu schnell erkennen konnte/musste, wie die Geschichte sich entwickeln würde, weil Collins zwar immer wieder Rätsel andeutete, sie aber allzu rasch aufklärte. Was mir aber große Freude bereitet hat, was das, was ich sein Spiel mit den Anspielungen genannt habe.

    Midwinter und Lydia – ein Traum, der nicht lange hält. Entfremdung nach so kurzer Zeit. Aber ist es nur der Langeweile anzulasten, dass sie ihre alten Pläne nicht nur wiederbelebt, sondern auch weiter ausspinnt? Allan beansprucht Midwinter jedenfalls mehr, als ihr lieb ist; es scheint sie doch immerhin auch zu verletzen, dass ihr Mann nicht nur ihr allein gehört. Ein bisschen habe ich auch den Eindruck, sein altes Misstrauen ist wieder da, was nicht nur die Szene Seite 635 f. betrifft, die ein weiteres Detail aus dem Traum ausbreitet.


    Wer hätte den daran gezweifelt, dass Kapitän Manuel auftauchen würde, nachdem Bashwood jun. ihn als als Unliebenswerten eingeführt hat? Schließlich wird er für Lydias Planungen gebraucht und sie braucht sich im Grunde nicht die Finger schmutzig zu machen. Das Boot, mit dem Allan und sein Erpresser/Mörder durch die Adria schippert, sinkt erwartungsgemäß. Wahrscheinlich ist es für Lydia eine Erleichterung, dass dann auch, wenn es (angeblich) keine Überlebenden gibt, der Kapitän nicht mehr unter den Lebenden weilt. Ich hätte sie ein wenig misstrauischer erwartet, sich allein auf eine Zeitungsmeldung zu verlassen, wäre mir an ihrer Stelle zu gewagt. Jedenfalls konnte ich keinen Moment daran glauben, dass Allan tot ist. Was wäre denn sonst aus der Geschichte geworden bei den vielen Seiten, die noch vor uns liegen? Und letzten Endes zeigt mir Collins Bemühen, die sich kurz präsentierenden Rätsel ziemlich schnell aufzulösen, dass es ihm nicht nur darum ging, einen spannenden Roman zu schreiben, sondern auch die Entwicklung, die die Personen nehmen und nehmen könnten, aufzuzeigen und den moralischen Zeigefinger zu heben, aber nicht zu hoch, dass überlässt er dem Leser. Und ob der darauf eingeht oder nicht, bleibt ihm ja selbst überlassen.


    Welch widersprüchliches Denken (besonders Seite 651) von Lydia, sie möchte mit ihrem Mann ein friedliches Leben führen, wenn denn …, nein, sie möchte doch lieber reich sein. (Diese Ehe wird immer einen großen wunden Punkt haben, ich kann nicht an sie glauben.) Aber Witwenkleidung anzuschaffen, kann ja so verkehrt nicht sein, und wenn man nett darin aussieht … Aber einerseits widerwärtig, andererseits eine Kraftanstrengung der sonderbaren Art ihre Begegnung mit Midwinter (Seite 701 ff.). Die „Hölle“, in die sie sich selbst gebracht hat (Seite 703), wird sie in diesem Leben nicht mehr verlassen können, egal, ob ihre Pläne ge- oder misslingen, egal, wie alt sie werden wird. Was für ein entsetzlicher Lebensverlauf, auch wenn sie, und dafür bin ich stellvertretend für sie fast dankbar, glückliche Momente gekannt hat.


    Mrs. Oldershaw hat sich also neu gefunden … oder sollte man nicht besser sagen: erfunden. Nichts Neues also unter der Sonne, aber ich glaube nicht, dass wir ihren Lebenslauf noch sehr viel weiter verfolgen werden, was schade ist, sie ist eine höchst interessante Figur. Sie hat eine Nische gefunden, in der sie sich gut und bequem eingerichtet hat und wenn es irgendwann passt, wird sie wieder das Bäumchen wechseln. Eine andere Neuerfindung betrifft eine Figur, die nur einen ganz kleinen Auftritt hatte bisher, nämlich Doktor Downward, der nun ganz anders heißt und jemand ganz anderes ist und vollkommen anders wirkt als in der kleinen Szene mit Pedgift jun. Noch ein Schauspieler. Und ein neuer Komplize für Lydia, der ihr aber, glaube ich, gewachsen ist. Er wird sich absichern bei ihren Plänen und welche eigenen er hat, wird nur allzu deutlich. Das ist doch mal eine Figur, die ich von ganzem Herzen ablehnen kann.


    Bashwood erstaunt Lydia (Seite 671). Sie kommt der Wahrheit näher, als sie denkt. Und ich denke, er wird noch eine Rolle zu spielen haben, die er vielleicht gar nicht gesucht hat. Armer Kerl. Lydias Gedanke Seite 673 oben teile ich mit Einschränkung: An Midwinter wird sie sterben. Nicht durch ihn. Obwohl das für sie vielleicht einer Art Erfüllung gleich käme, ihr zumindest des Tod erleichtern wird.

    Zitat

    Original von Clare


    Ich kann nicht nur Bosheit in ihr sehen, und so tut sie mir auch Leid. Sie ist eine Getriebene, fühlt sich selber entwurzelt und vom Leben ungerecht behandelt und weiß nur ungute Mittel, um sich ihr vermeintliches Recht zu verschaffen.


    Ist es nicht immer wieder erstaunlich, zu was man einen Menschen "erziehen" (bitte dieses Wort nicht wörtlich nehmen) kann? Manchmal male ich mir aus, was wohl passiert wäre, wenn mein ursprünglicher Gedanke, sie hätte eine Narbe/Verunstaltung im Gesicht, richtig gewesen wäre ... oder wenn sie keine roten Haare gehabt hätte ...


    Zitat


    Dieses Tagebuch drängt mir noch einen anderen Gedanken auf: Sie scheint von dem Laudanum abhängig zu sein. Keine Ahnung, wie das bei langwierigem Einnehmen sich auswirkt, aber entweder das oder ihre Gefühle für Midwinter bringen ihre Gedanken in leise Verwirrung und Befürchtungen, oder das Laudanum hat die Mauern, die sie um ihr Herz erreichtet hat, löchrig gemacht.


    Zitat


    Laudanum ist Opiumtinktur und mit Sicherheit machte es abhängig und veränderte auch ihr Wesen, zumal sie es über längere Zeit einnahm.


    Tja, mit dem Opium hatten es die Engländer und nicht nur die. Aber man wusste oder wollte nicht wissen um die grausamen Nebenwirkungen und außerdem ... wer berauscht dahergeht, kann leichter regiert werden ... (Entschuldigung, aber das musste mal gesagt werden). :grin

    Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Die Intrigen Miss Gwilts sind wirklich bewundernswert. Politikerin hätte sie werden sollen!


    Ist sie doch - ihrer eigenen Sache. :grin



    Mein Eindruck zu diesem Abschnitt:
    Miss Gwilt ist unvorsichtig genug, Tagebuch zu führen. Sie lässt (noch?) nicht ab von ihrem Plan, hat aber doch Bedenken in Bezug auf Midwinter. Wie lange vermag sie solch Benehmen, solch Ehrgefühl, auch solch Einfühlen und -gehen auf die Wünsche anderer unbeeindruckt zu lassen.


    Dass sie die Werbung und Pläne resp. Heiratsantrag Allans live erleben durfte, ist einerseits schade, andererseits entbehrt ihre Schilderung nicht einer gewissen Komik, auch wenn sie von allzu negativen Gefühlen begleitet ist. Aber sie ist eine sehr gute Schauspielerin, weiß sich in Szene zu setzen. Manchmal beginne ich sie zu bedauern; was hätte wohl aus ihr werden mögen, wenn ihre Erfahrungen nicht die gewesen wären, die Collins ihr auferlegt hat. Und, dass muss man wohl auch anfügen, wenn ihre Schönheit nicht eine so fatale Wirkung gehabt hätte. Aber das Eine hängt wohl mit dem Anderen zusammen.


    Interessant finde ich ihre Beobachtung in Bezug auf Bashwood (Seite 489). Nein, ich glaube, den wird sie so leicht nicht wieder los. Er scheint mir von ihr besessen zu sein und zu was ihn beispielsweise Eifersucht treiben würde, ist noch nicht auszumachen. Was mir an ihrer Stelle den Anflug von Sorge bereiten würde, ist die Tatsache, dass er unglaublich gut beobachten kann. Hat sie keine Angst, dass sie nicht ebenso in seinem Fokus steht? Aber was für ein bedauernswerter Mensch er doch ist, seine Sinne sind einerseits nicht ganz klar, andererseits auf dem Weg an sein vermeintliches Ziel bemerkenswert sicher. Dass er seinen Sohn beauftragt, und nämlicher schon einen Auftritt, wenn auch indirekt hatte, erstaunt mich nicht mehr. Wenigstens sorgt der Sohn dafür, dass wir nun umfassend, wenn auch wahrscheinlich nicht vollständig, über Lydia Gwilt aufgeklärt sind. Im Großen und Ganzen konnte man sich etwas ähnliches denken, wenn die Details auch ziemlich aufschlussreich waren. Immerhin weiß man nun, woher sie ihre Bildung, ihr sicheres Benehmen, ihr pianistisches Können hat. Allerdings: Das Bild, dass der Detektiv von ihr zeichnet (besonders Seite 604 f.) deckt sich für mich nicht ganz mit dem, das ich durch ihre Briefe von ihr gewonnen habe. Wann wurde sie so hart?


    Bemerkenswert allerdings finde ich ihre Gedanken zu Mrs. Milroy. Ihr, der sie doch eigentlich, wenn sie das „Geschwätz“ ernst nehmen würde, nicht gerade wohlwollend gedenken würde, billigt sie immerhin zu, dass ihre Krankheit Strafe genug ist. Ein seltsames Wesen ist diese Miss Gwilt. Aber es sind diese kleinen Details, die mir die Hoffnung geben, dass für sie doch nicht alles verloren ist, dass sie zu menschlichem Mitgefühl immer noch fähig ist. Leider lässt sie zu, dass ihr Hass ihre Handlungen bestimmen, was ja nicht unbedingt, so denkt sie, zu ihrem Nachteil sein muss. Wird es aber werden, fürchte ich.


    Dieses Tagebuch drängt mir noch einen anderen Gedanken auf: Sie scheint von dem Laudanum abhängig zu sein. Keine Ahnung, wie das bei langwierigem Einnehmen sich auswirkt, aber entweder das oder ihre Gefühle für Midwinter bringen ihre Gedanken in leise Verwirrung und Befürchtungen, oder das Laudanum hat die Mauern, die sie um ihr Herz erreichtet hat, löchrig gemacht. „Makabre Posse“ nennt Collins (Seite 509) eine Szenerie, auf mich wirkt mindestens das ganze Tagebuch so. Nicht, dass ich denken würde, die schöne Lydia wäre nicht in der Lage, alles durchzuplanen, aber zwischen Plan und Tat ist ein Unterschied. Mord ist etwas, was ich ihr eigentlich nicht zutrauen möchte, der Schritt, so würde ich mir wünschen, sollte für sie zu groß sein. Aber das ist vielleicht Wunschdenken. Wer weiß, was ihr helfen wird, die Bedenken und zarten Regungen, die Midwinter in ihr geweckt hat, beiseite zu schieben? Die Begegnung mit Allen auf dem Bahnhof ist ja schon einer dieser ... fast ist man geneigt zu sagen: schicksalhaften Momente, der sie zu begünstigen scheint. Lydias Spielen und Planen in Bezug auf ihre „Samariter-Rolle“ für die beiden Freunde finde ich für sie konsequent (wenn ich ihnen auch das Prädikat „widerlich“ ankleben würde), aber ich habe so den Eindruck, sie lässt etwas völlig außer Acht, vielleicht, weil ihr diesbezüglich die Erfahrung mangelt, nämlich die Liebe Midwinter zu/für Allan. Ob die durch seine Liebe zu ihr abgelöst/abgeschwächt wurde, wage ich doch zu bezweifeln.


    Mr. Brock ist verstorben. Das ist schade, ich mochte ihn. Sein Brief (Seite 574) ist eines der Highlights des Buches für mich.


    Bemerkenswert ist in diesem Abschnitt immerhin noch das Statement des braven Bashwood jun. zum Prozess pp. (Seite 599 f.), was sich ja im Groben mit der Meinung von Pedgift sen. deckt. Die „öffentliche Meinung“ ist schon eine Sache für sich … in einem musikalischen Stück von Jacques Offenbach hat sie einen personifizierten Auftritt, denkwürdig und erhellend zugleich („Orpheus in der Unterwelt“).

    Zitat

    Original von Regenfisch


    Liebe Lipperin, ich lese den Roman ein ganzes Stück naiver als du. Wenn ein Buch mich so richtig packt, dann vertiefe ich mich ganz hinein und der Inhalt wird in dem Moment zur Realität, zu einer Art eigenem Kosmos und ist zunächst für mich "wahr". Kann es sein, dass du ein Buch ganz anders rezipierst? Ich frage das, weil es mich wirklich interessiert und ich staune, was die beim Lesen alles durch den Kopf geht.


    Vermutlich. Aus irgendeinem Grund (wahrscheinlich pure Neugier) möchte ich immer wissen, was der Autor "sich dabei gedacht hat", was er mir sagen möchte, außer dem, was offensichtlich vor mir liegt. Manchmal lese ich wahrscheinlich mehr hinein, als dort steckt; manchmal lese ich auch etwas gänzlich anderes, als der Autor gemeint hat, aber ob daran etwas falsch ist oder nicht, möchte ich nicht entscheiden. Auf jeden Fall gehe ich nie davon aus, dass die Geschichte, die der Autor mir erzählt, die ganze Geschichte ist. Sie ist für mich auch "wahr", aber eben nur der Ausschnitt eines Bildes.
    Was ich entdecken möchte, ist das Bild hinter dem Bild, das Leben hinter einer Romanfigur.
    Über den jeweiligen Autor und wenn möglich seine Zeit informiere ich mich in der Regel vor der Lektüre, wenn es jemand "Neuen" zu entdecken gilt. Das gehört für mich mittlerweile dazu.
    In einem Buch zu "verschwinden", das passiert mir auch sehr oft, dann bin ich dabei, kann das, was die Protagonisten erleben, sehr bewusst auch erleben, aber ich bleibe so gut wie nie allein bei dem Stoff, den ein Autor mir bietet. Da gehen meine Gedanken dann auf Wanderschaft, führe ich, wenn Du so willst, in dem fremden Text mein eigenes Leben.
    Einen Text nur und ausschließlich Text sein zu lassen, das gelingt mir schon seit längerem nicht mehr. Woran das liegt, kann ich nicht sagen, vielleicht Lebens- und andere Erfahrungen? Man sagt mir allerdings auch nach, dass ich eine große Vorstellungskraft besitze.


    Beantwortet das in etwa Deine Frage?

    Zitat

    Original von Clare



    Ja, Alan...wie ein Fähnchen im Wind. Charakterlich ist er wohl wirklich nicht der Stärkste. Ohne seine beflissenen und Cleveren Angestellten, Anwälte und Freunde wäre er verloren...Oder er würde einfach auf deinem Boot um die Welt segeln, mit sich und der Welt zufrieden.


    Wie anders wir das doch sehen: Für mich war Allan von der Schönheit und Liebenswürdigkeit der Miss Gwilt nur - vorübergehend - geblendet. Wirkliche Liebe hat er nie für sie empfunden. Und das Stichwort "männliche Trophäensucht" wird auch in Allans Fall nicht völlig auszuschließen sein ...


    Aber mein Eindruck von diesem Abschnitt:
    Wir lernen endlich Mrs. Milroy kennen, eine Person, für die ich trotz ihrer Launen, ihres Benehmens, ihrer Eifersucht tiefes Mitleid empfinde. Sie wurde in ihrem Leben anscheinend sehr enttäuscht, auch wenn es ihr schwer fallen würde, dieser Enttäuschung einen anderen Namen zu geben als den ihrer Krankheit. Die einzige Lehre, die sie anscheinend aus ihren Erfahrungen gezogen hat, ist, dass sich die Welt um sie dreht und, da es ihr nun so schlecht geht, nämliche Welt ihr Böses will.


    Kurzzeitig stockte mir der Atem bei einem Satz, der Seite 346 steht: „... unter allen fanatischen Lebewesen nur das fanatischste, eine eifersüchtige Frau ...“. Man fragt sich schon, wie sehr Collins eigene Meinung da hineinspielt, aber ein solcher Satz macht sich natürlich allzu gut in einem Spannungsroman und außerdem, so muss man dem Autor zugutehalten, wird er sich Individuen wie Hitler, Stalin und Co. nicht in seinen wildesten Träumen vorgestellt haben.


    Miss Milroy steckt das alles bewundernswert weg. Es schmerzt sie, was ihr die Mutter so alles sagt, aber es ist ihr erkennbar nicht neu. Die kleine Miss ist für mich eine glaubwürdigere Partnerin für Allan als Miss Gwilt – und der Altersunterschied spielt dabei für mich die unwesentlichste Rolle. Beide – Allan und Nelly – haben etwas Unschuldiges an sich (das Möchtegernraffinement Nellys und das Gentlemangehabe Allans spielt da keine große Rolle, das ist „antrainiert“), es muss schon einiges passieren, damit sie das verlieren.


    Die Fahrt nach London in Begleitung Pedgifts jun. bringt einiges ans Licht, aber nicht genug für Allan. Er bleibt bei seiner Gewohnheit, immer nur das Beste anzunehmen, das wird ihn in diesem Roman noch in Probleme bringen (aber ist es nicht interessant, wie Collins zu locken vermag: (Seite 385) „... eine Geschichte, die nicht halb so abstoßend und doch tausendmal schlimmer war ...“, woraus ich immerhin zu schließen vermag, dass Lydia wenigstens nicht unbedingt als Prostituierte arbeiten musste, wenn sie sich auch in anderer Weise zu prostituieren gezwungen gewesen ist). Wo kämen wir hin, wenn alle Welt so gut wäre, wie Allan annimmt?


    Mein lebhafter Wunsch, Mr. Pedgift sen. kennenzulernen (bei dem Sohn kein Wunder, meine ich), ist nach dem Brief Seite 394 ff. noch größer geworden. Was für ein Geist, was für ein Anwalt (gut, dass er einer ist, wenn er die Seite gewechselt hätte, wäre er da eine Größe für sich in der sogenannten Unterwelt geworden). Von allen Gestalten des Romans bis dato habe ich ihn zu meinem Liebling erklärt (und ich glaube, er ist Collins Alter ego). Ihn zu vergraulen, wird Allans größter Fehler sein. Interessant aber allemal, wie der Anwalt Miss Gwilt charakterisiert: „satanischer Charme“ (Seite 404) – das ist mal ein Wort. Trifft es das? Ich weiß nicht recht, ich glaube, Midwinter hat tief versteckte Eigenschaften in ihr in Erinnerung gerufen, ob er sie zu neuem Leben wecken kann, wird sich herausstellen. Nach der Schilderung Pedgifts über Miss Gwilts Abschied von den Milroys mache ich mir aber zunehmend Gedanken darüber, wie weit Lydia zu gehen bereit ist, um ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Sie ist mit Sicherheit geübt in List und Trug, wird auch vor falschen Worten und Lügen nicht zurückschrecken (was ihre Fähigkeit, Zwietracht zwischen Midwinter und Allan zu säen, beweist), aber wo ist ihre Grenze? Vor dem Blutvergießen? Bezeichnend, wie sehr sie darin geübt ist, den sie Beschattenden zu erkennen und zu stellen.


    Ein weiteres Detail aus dem Traum wird Wahrheit und Bashwood scheint auch auf diesen besonderen weiblichen Leim gegangen zu sein. Aber bewunderungswürdig sein schriftlicher Stil. Wenn er auch so reden könnte, würde er nicht halb so jämmerlich wirken und hätte ganz andere Möglichkeiten, vielleicht sogar – zeitweise – bei Miss Gwilt.


    Miss Gwilt jedenfalls spielt mit Midwinter, aber ihr Spiel hat auch eine tiefere Ebene. Ich glaube, sie ist mehr als verliebt in ihn, aber ob dies und seine Liebe ausreichen wird, sie zu retten? Ich habe da so meine eigenen Befürchtungen (wenn die „schuldige“ Seite in ihr gewinnt, nein, aber wenn es für sie so etwas wie Hoffnung gibt, wird sie im Verlaufe des Romans sterben … und ihre Schuld ist getilgt, ganz platt ausgedrückt).

    Zitat

    Original von Regenfisch


    Warum meinst du das? Hälst du es für ausgeschlossen, dass Miss Gwilt das Rennen macht?


    Weil Bücher wie dieses für mich zu ausrechenbar geworden sind.


    Aber das allein so stehen zu lassen, würde niemandem gerecht, vor allem nicht dem Autor. Es würde allein meine Enttäuschung widerspiegeln, die ohne jeden Zweifel da ist.
    Eine kurze Antwort ist mir nicht so leicht möglich, ich muss dazu etwas ausholen; ich bitte um Entschuldigung, wenn das schon wie ein Fazit klingt, obwohl ich erst den fünften Abschnitt begonnen habe.


    Für mich ist Wilkie Collins ein – Verzeihung, wenn ich das so ausdrücke – Moralist vor dem Herrn (und ich glaube, in wesentlich größerem Ausmaß als beispielsweise Charles Dickens). Die Vorhersehbarkeit enttäuscht mich, ich habe aber großen Respekt vor Collins Fähigkeiten, die Fäden nicht nur zu spinnen, sondern auch in der Hand zu behalten. Meine uneingeschränkte Bewunderung gilt aber seinem Spiel mit den Anspielungen (und es wäre, so habe ich für mich befunden, zwei zweites Lesen wert, um allein darauf zu achten).
    Was ich damit meine, ist: „Der rote Schal“ ist ein Unterhaltungsroman, er beschritt damals neue Wege. Aber dennoch geht es um eines der großen Themen: Schuld und Sühne und zwar in mehr als ernsthafter Weise.
    Es gibt in dem Roman zwei Paarkonstellationen: Gut und Böse, Reinheit und Schuld. Es ist für mich kein Zufall, dass die beiden männlichen Protagonisten zu heißen, wie sie es nun einmal tun: Allan und Ozia. A und O. Alpha und Omega. Anfang und Ende.
    Allan bezeichnete ich schon einmal als „tumben Toren“, eine Anspielung auf Parsifal (nicht die Wagner-Oper), der reine Narr, der, obwohl er Schuld auf sich läd (und die in Allans Fall bis jetzt ja durchaus nicht groß ist und ich als „lässlich“ bezeichnen würde), dies nicht erkennt, nicht erkennen kann, weil er vom Zustand der Sünde/Schuld nichts weiß.
    Collins, so wagte ich oben zu bemerken, ist Moralist: Seine Kritik an kirchlichen (nicht religiösen) Praktiken und Benehmen ist deutlich, wenn auch höflich und zum Teil witzig verpackt. Er will auch, so meine ich, die Denkweise in Bezug auf Erbschuld/Erbsünde kritisieren, was bedeutet, dass er aufzeigen muss, dass es möglich ist, sich davon zu lösen. Daher:
    Ozia wird mit den denkbar schlechtesten Möglichkeiten in sein Leben geschickt, der Brief seines Vaters (und wahrscheinlich auch dessen Krankheit) ist eine zu große Hypothek, als dass sie ein einfaches, geregeltes Leben ermöglichen könnte. Er kann aber auch eine Hilfe sein, wenn, was sein Vater sicherlich wünschte, der Sohn ein besserer Mensch wäre als er. So gibt er ihm ein warnendes Beispiel mit auf den Weg, auch wenn die Formulierungen teils mehr als ungeschickt waren. Ozia wird fast, aber nur fast erdrückt von dieser Hypothek, findet jedoch immer wieder einen anderen Weg als den von kirchlichen (und damit auch gesellschaftlichen) Institutionen aufgezeigten. An ihm, davon bin ich überzeugt, wird Collins zeigen wollen, was möglich ist, wenn der freie Wille stark genug ist, um sich von – Entschuldigung – pharisäerhaften Begriffen zu lösen.
    Anders sehe ich den Fall der schönen Sünderin mit dem langen Haar, die hier nicht Maria, sondern Lydia heißt. Über ihre Eltern wissen wir nichts, sie hatte mit Sicherheit keine angenehme Kindheit, ob und wie sie missbraucht wurde, muss man im Einzelnen nicht wissen, um zu erkennen, dass sie offensichtlich Schuld auf sich geladen hat. Wie die aussieht, werden wir ohne Zweifel noch erfahren.
    Ich bin absolut davon überzeugt, dass dieses Paar (platt gesagt: die negative Seite) tatsächlich ein Paar werden wird, ob nun mit oder ohne Trauschein, ebenso davon, dass derjenige von den beiden, der weitere Schuld auf sich laden wird, nicht das Ende des Romans überleben wird. Er oder sie wird einen ebenso wenig leichten Tod sterben wie Mr. Armadale aus der Vorgeschichte. Und da ich an Collins moralische Ansprüche glaube, bleibt in diesem Fall nur Lydia, auf die dies zutreffen wird.
    A und O, Alpha und Omega: Ozia wird eine Art Abschluss bilden, vermutlich seines Zweiges der Familie, er wird ein einsamer Wanderer durch die Welt, die Freundschaft mit Allan wird ihn halten.
    Allan hingegen bildet einen neuen Anfang, er wird, da bleibt ihm gar nichts anderes übrig (weil er eben die positive, die reine Seite bildet) Miss Milroy heiraten: zwei reine Toren und eine neue Geschichte beginnt.


    Und unter diesen Gesichtspunkten gesehen lese ich wohl auch die Landpartie anders als ihr.

    Die Charakterisierung Pedgifts (Seite 278) finde ich … bemerkenswert: Als Ideal eines „modernen, jungen Mannes“ wird er hingestellt, weil er sich zu amüsieren versteht, ohne seine Geschäftsinteressen aus den Augen zu verlieren. Mir scheint, diese Einstellung hat sich gehalten.


    Die ganze Landpartie wirkt auf mich etwas seltsam, es gibt einige spaßige Szenen, aber sie zünden bei mir nicht so recht. Vielleicht, weil man immer auf etwas wartet? Ein weiteres Detail aus dem Traum beispielsweise oder irgendetwas Unangenehmeres als das Leiden des jungen Geistlichen? Der arme Allan jedenfalls (ich sagte ja schon im ersten Teil: „tumber Tor“) bekommt – nach meiner bescheidenen Meinung – einen kleinen Einblick nicht nur in weibliche Verhaltensweisen (Seite 293), sondern auch, wenn er nicht achtgibt, in das, was ihm in der späteren Ehe hin und wieder blühen wird. Denn dass er und Miss Milroy heiraten werden, wird sich nicht verhindern lassen – wenn es auch Abweichungen oder Umwege auf dem Weg dorthin geben wird. Über Miss Milroy und ihre „Motivation“ mache ich mir einige Gedanken. Natürlich ist sie in Allan verliebt und sicherlich wird es helfen, dass er nicht unvermögend ist. Aber wie groß daran ist der Anteil der Notwendigkeit einer wenigstens guten Partie? Sie ist vielleicht noch jung genug, das hin und wieder aus dem Blick zu verlieren, aber dennoch …


    Das weitere von mir erwartete Detail aus dem Traum lässt natürlich nicht auf sich warten. Obwohl ich zugeben muss, dass mich das Abendrot wesentlich mehr beeindruckt hat als die Frau am Ufer. Aber wenn die Nerven angespannt sind und man sich eine Verantwortung auferlegt hat bzw. auferlegt bekommen hat wie Midwinter, dann ist das schon … ungewöhnlich. Manchmal habe ich den Eindruck, er habe so etwas wie ein zweites Gesicht. Außergewöhnlich feinfühlig ist er auf jeden Fall.


    Zum ersten Mal bin ich aber wirklich verblüfft: Die geheimnisvolle Miss Gwilt resp. ehemalige Zofe habe ich mir nicht wirklich als vollendete Schönheit vorgestellt. Wegen ihres Schleiers dachte ich eigentlich an Entstellungen, seien sie natürlich, seien sie herbeigeführt, von wem auch immer. Irgendein Detail in Mrs. Oldershaws Briefen hatte mich darin vermutlich bestärkt – und nun also ein Verhängnis der anderen Art. Woher hat sie eigentlich ihr vollendetes Benehmen? Es wurde doch etwas von Waise und traurige Kindheit etc. erzählt? Jedenfalls: Einschließen muss sie sich auch noch (Seite 307), shocking, aber sie wird wohl wissen, warum, was sie zu verbergen hat. Fatal, glaube ich, wird sich ihre Wirkung auf Midwinter auswirken, für ihn, für die Geschichte. Miss Gwilts Brief an Mrs. Oldershaw, hier besonders Seite 318, lässt mich aber etwas anderes befürchten. Wenn sie bei Allan Erfolg haben würde und er sie heiratet (glaube ich zwar immer noch nicht, aber wer weiß, welche Umwege Collins wählt), würde ich nicht nur um sein Geld, sondern auch um sein Leben fürchten.


    Eine Lehre für sich jedenfalls: Wer gut beobachten kann (wie Miss Gwilt und Mrs. Oldershaw), der hat Erfolg, auch (und erst recht???) auf krummen Wegen. Der einzige Lichtblick dabei: Miss Gwilt hat Midwinter zwar als eventuelles Hindernis erkannt, aber auch, dass sie ihn nicht hasst (Seite 321). Ich glaube, da ist noch etwas mehr als nicht nur kein Hass, was sich entwickelt. Sie verrät sich mehr als ihr wahrscheinlich bewusst ist.


    Allan und Bashwood sind jedenfalls von der guten Lydia geblendet. (Wobei ich bei Bashwood tatsächlich kurz den Eindruck hatte, er hätte sie wiedererkannt. Aber woher?) Das deutet allein auf viele Verwicklungen hin, abgesehen davon bleibt der Traum und die Pläne von Miss Gwilt und Mrs. Oldershaw. Das sind verflixt viele Fäden.


    Eine weitere sanfte Ohrfeige von Collins gibt es auch (Seite 340). Das Vorwort war wohl wirklich nötig.


    Und eine Frage bleibt: Wie geht das eigentlich, dass man quasi auf Befehl Tränen in die Augen steigen lassen kann (Seite 335)?

    Zitat

    Original von Regenfisch


    Ich kann das auch nicht nachvollziehen und weiß auch keine Erklärung- außer vielleicht der, dass sie als Frau sich so abhängig von ihrem zweiten Mann gefühlt haben muss, dass sie die Misshandlungen Ozias in Kauf nahm bzw. verdrängt hat.


    Haltet ihr es für so unwahrscheinlich, dass der Junge auch dafür büßen musste, dass seine Mutter das Gefühl hatte, er hätte ihr die Liebe ihres Mannes "gestohlen"? Mir geht dieser eifersüchtige Blick nicht aus dem Sinn, mit dem sie das Kind auf dem Bett bedachte (in der Vorgeschichte). Im Grunde bedauere ich beide - Mutter und Kind, das Kind aber viel mehr, weil es so wehrlos war.

    Zitat

    Original von Regenfisch


    Das wäre ja Quatsch, denn dann wäre man qua Geburt seinem Schicksal ausgeliefert und könnte nicht selbst über sein Leben bestimmen. Hinter diesem Gedanken steckt der der Last der Erbsünde, zumindest erinnert mich dieser Gedanke daran.
    Veranlagungen sind sicherlich vererbbar im Sinne von "Temperament". Ich verstehe diesen Mord eher als einen Art Fluch, wie er im Märchen vorkommt, was rational gesehen ebenfalls Humbuk ist.


    "... bis ins dritte und vierte Glied" - Bibelleser erinnern sich wahrscheinlich. Und im England des 19. Jahrhunderts war dieses Wissen vermutlich deutlich weiter verbreitet als heute.
    Und ich glaube, der Abkömmling eines Verbrechers hatte damals keine Chance, sich zu etablieren. In einer Gesellschaft, in der die Herkunft eine so große Rolle spielt(e), wird immer darauf gesehen, wer der Vater (resp. die Mutter) war, was er (sie) tat. Und ob der Versuch der Geheimhaltung immer von Erfolg gekrönt war, sei dahingestellt.
    Nicht vergessen darf man zudem - so glaube ich - Midwinters Aussehen, das dem eines Engländers nicht unbedingt entsprach. Wahrscheinlich kann man es auch eine Form von Rassismus nennen.
    Was ich also annehme, ist zweierlei: Der Vater erwartete entweder Rache oder ebenfalls eine Mordtat seines Sohnes, er erwartete aber auch eine Ächtung seines Sohnes, falls dieser auf den anderen A. A. treffen würde und sich zu erkennen geben würde.

    Dem Städtchen bzw. der Gegend, zu dem Allans Erbe gehört, scheint es ein wenig an Humor zu fehlen, man möchte doch den neuen Gutsherrn so integrieren, wie man sich das so vorgestellt hat. Und der will nicht, was darauf schließen lässt, dass das gut nachbarschaftliche Verhältnis von Anfang an leicht angegriffen ist. Keine gute Voraussetzung, wenn Allan dort bleiben will. Der arme Midwinter soll Verwalter werden.
    Zwei Dinge, die letzten Endes typisch erscheinen: Die Borniertheit und von der eigenen Wichtigkeit eingenommene Landbevölkerung und die Verfügung eines – höhergestellten – Mannes über einen anderen, als „Freund“ des Gutsherrn soll er sich aber immerhin nützlich machen, wenn er schon Obdach und Kost und Freundschaft bekommt. Nicht, dass ich glauben würde, dass Allan sich allzu viel Geanken über seine Motivation macht, es wird damals so üblich gewesen sein. Und Midwinter? Seiner ist er sich wohl ziemlich sicher. Frei nach dem Motto: „Ich bin sein Freund, also ist er auch meiner“. Über Allan bin ich mir noch nicht wirklich schlüssig, aber er scheint ein Exemplar seiner Zeit und seiner gesellschaftlichen Schicht zu sein. Trotz allem.


    Wir lernen eine gewisse Mrs. Oldershaw und eine gewisse Miß Gwilt kennen. Letztere hatte schon ihren Auftritt, sie ist also wirklich die Zofe. Die Missus scheint … ja, was eigentlich scheint sie zu sein? Ein weibliches Faktotum? Eine Art … Verzeihung … „Puffmutter“? Lautere Absichten haben jedenfalls beide nicht, wofür nicht nur das Ausspionieren des Gutes spricht (Seite 190). Ihre Planungen sind schon verflixt durchdacht, die Ausführungen derselben zeigen Können und eine gewisse … Energie. Geht es wirklich nur um das Geld? Das Testament (Seiten 185, 186) heißt es im Auge zu behalten.


    Die Art und Weise, wie Mrs. Oldershaw von der jungen Miß Milroy spricht (Seite 190) und deren Auftreten später lassen mich vermuten, dass aus ihr und Allan ein Paar werden wird. Die beiden jungen Leute passen aber auch gut zueinander. Allan erinnert mich an einen gewissen naiven Herrn aus „Stolz und Vorurteil“ (es scheint ein „gängiges“ Modell gewesen zu sein), ist aber anscheinend noch gutmütiger … oder naiver, je nachdem, wie man das ausdrücken möchte. Dass Midwinter eine Frau fürs Leben findet, die mit seinen Eigentümlichkeiten fertig wird, halte ich fast für ausgeschlossen, denn die Moral von der Geschichte wird Collins nicht außer Acht lassen (trotz des Vorworts) und: Es bleibt, wie es ist, Midwinter ist der Sohn eines Mörders und das christliche Gedankengut hat im England des 19. Jahrhunderts wohl einen deutlich anderen Stellenwert als heute. Midwinter stößt auf ein weiteres Detail aus Allans Traum (Seite 213). Er gefällt mir nach wie vor besser als Allan, hat doch wesentlich mehr charakterliches Potential und wahrscheinlich auch mehr menschliche Tiefe. Allerdings lässt mich Allans erquickendes Statement (Stichwort: zweibeinige Rindviecher – Seite 223) doch für ihn hoffen … und mich an das Vorwort denken. Die sanfte und freundlich verpackte Schelte am Landadel bzw. den honorigen Bürgern dürfte damals dem einen oder anderen Leser vielleicht nicht ganz gefallen haben.


    Allan jedenfalls führt sich gut ein als neuer Gutsbesitzer – die Bediensteten werden auf seiner Seite stehen, die Köchin zumal und das, so haben wir aus zahlreichen anderen Büchern gelernt, war damals nicht ganz unwichtig. Die Nachbarschaft vergrault er endgültig, aber ihm genügen ja seine – wenigen – Freunde. Wenn das mal gut geht!


    Neue Figuren außer den beiden Damen, bei denen ich leise Zweifel anmeldete, werden eingeführt, eine hört auf den schönen Namen Bashwood. Der ist so dumm nicht, wie er tut bzw. gesehen wird, irgendetwas sagt mir, er wird auch noch eine gewichtige Rolle zu spielen haben (und eigentlich wäre es doch das I-Tüpfelchen, wenn der die Erwartung nicht erfüllende Sohn Bashwoods (Seite 269) und der von Mrs. Oldershaw beauftragte Schnüffler ein und dieselbe Person wären, warum sonst wird erwähnt, der Sohn sei Privatdetektiv – aber das wäre vielleicht doch etwas zu viel verlangt, obwohl hier alles irgendwie an anderem hängt). Der junge Anwalt Pedgift scheint das Herz auf dem rechten Fleck zu haben. Mehr kann man nicht verlangen – denn Freunde braucht der arme Allan, das wird deutlich. Und der noch ärmere Midwinter? Meine Frage in Bezug auf ihn wird immer lauter "was bleibt für ihn"?

    Was für ein Vorwort, da darf man einiges erwarten. Besonders der letzte Absatz lässt auf einiges hoffen, den einen oder anderen Seitenhieb auf die damalige Gesellschaft, vermutlich den (Land-?)Adel, vielleicht auch die Kirche und ihre Vertreter oder die sogenannten Stützen der Gesellschaft – das „höchst gewagt“ (Seite 9) zieht mich ja schon fast magisch an. Sogenannte „schmutzige Szenen“ erwarte ich eher nicht, höchstens Affären, höchst unpassende vielleicht.
    Aber selbstbewusst ist er ja, der Mr. Collins.



    Die Vorgeschichte finde ich insgesamt doch eher bedrückend. Dabei beginnt es ziemlich spaßig – oder spießig, wie man will – mit der Beschreibung einiger deutscher "höherer Bürger" in Wildbad im schönen Schwarzwald. Nicht besonders freundlich eigentlich, wie Collins diese Leute zeichnet bzw. leicht überzeichnet, es soll erheitern, wirkt aber auch mich wie eine Karikatur. Der Schotte kommt auch nicht so sonderlich gut weg, ein Mann mit festen Grundsätzen und wehe dem, der sie angreift oder in Frage stellt. Ob man ihm noch einmal begegnen wird? In seiner Gegenwart fröstelt es mich doch, von daher könnte ich auf ihn verzichten. Aber schön eigentlich, dass sein „dreifacher Panzer“ (Seite 30) ihn nicht vor allem schützen kann. Mrs. Armadale weiß zu beeindrucken, auch wenn ich nicht glaube, dass sie es in Bezug auf Mr. Neal darauf anlegt...


    Mr. Armadale und seine Gemahlin stehen mir förmlich vor Augen, besonders bei dieser unseligen „Briefszene“. Was muss in der Frau vorgehen, welche Qualen, auch die der Eifersucht, muss sie ertragen. Was mag sie für das Kind empfinden, ihr einziges immerhin. Muss sie nicht das Gefühl haben, es „stiehlt“ ihr die Aufmerksamkeit und Liebe des Vaters? Paralyse hat jener, meine Güte. Das ist ein Schicksal besonderer Art.


    Die Geschichte dieser Ehe und die Vorgeschichte der Ehe sind … eindrucksvoll, haarsträubend, erschreckend, schauermärchenhaft, ich weiß nicht, was noch alles. Das wirkt auf mich etwas … konstruiert, aber die Szenerie, in der sie eingebettet ist, finde ich höchst gelungen. Wir werden auch bereits mit dem damaligen Begriff der Ehre konfrontiert, zum Beispiel Seiten 46, 47. Ein Regelwerk der sonderlichen Art.


    Der eine Armadale ist also der Mörder des anderen. Das wird noch eine Rolle spielen, nicht nur, weil sich die Söhne der Beiden anfreunden. Die Erbangelegenheit sollte man nicht gänzlich aus den Augen verlieren, glaube ich. Das ist so klar nicht, wie es scheint.


    Nicht wirklich bis ins Letzte verstehe ich die Warnung Armadales an seinen Sohn Seite 61: Warum sollen sich die Söhne nie begegnen? Fürchtet er Rache – oder eine Wiederholung der Geschichte?



    Das erste Buch nun bringt uns einen braven Geistlichen und einen „tumben Toren“, der gute Freunde brauchen wird im Leben, als Hauptfiguren – aber da ist ja noch einer, ein geheimnisvoller Mensch mit einem unmöglichen Namen, von dem man bald ahnt, dass er nicht der ist, der er zu sein scheint. Köstlich die Kommentare des Erzählers zu dem Zeugnis (Seite 75) – da erinnere ich mich doch gleich höchst vergnügt an das Vorwort, wie auch, aber dann mit Bedauern, Seite 81 unten, 82 oben, dass sich jemand wundern kann über "christliches Verhalten" etc. Aber das gilt nicht nur für das Großbritannien des 19. Jahrhunderts. Apropos erinnern: Die „rastlosen … Knochenfinger“ erinnern mich an andere Hände, die ebenso rastlos über eine Decke strichen und denen Ruhe nur ein Kind schenkte, für kurze Zeit zumindest. Jedenfalls finde ich bisher Midwinter die interessanteste Figur. Welch Bitternis ist in ihm (besonders Seite 101 – Stichwort „Pfiff seines Herrn“), dann auch wieder Staunen und Freude. Und das Neal sein Stiefvater werden mussten … Und die Mutter scheint ihn spüren gelassen zu haben, was sie wirklich von ihm hielt. Das war nicht nur ein „Mitmachen“.


    Das Verhängnis taucht auch auf (glaube ich zumindest aus dem Verhalten von Mrs. Armadale zu entnehmen), hier einmal in Person einer Frau, die sich mit „Eleganz“ und „Anmut“ (Seite 87) zu bewegen weiß und ehemals Zofe war. Was mag sie jetzt darstellen? Zumindest nicht nur eine verhinderte Selbstmörderin. Ein zweites Verhängnis: Ein Wrack, das eine fatale Bedeutung im Grunde für beide jungen Männer hat, von der aber nur einer weiß, ein seltsamer Traum (der allzu überzeugend interpretiert wird und daher wird man sie - die Interpretation - in Zweifel ziehen dürfen) und eine „quälende Versuchung“ (Seite 154 – ich glaube nicht, dass das eine einmalige Anwandlung für/von Midwinter war, so ganz gefestigt erscheint er mir nicht, man kann im Grunde nur hoffen, dass sein Liebe stark ist und stark macht).


    Nicht so wirklich im Klaren bin ich mir über die Vorgehensweise Collins. Mein erster Eindruck war, er macht es sich zu einfach, lässt den Leser zu schnell in seine Karten schauen. Wem soll man folgen, dem Erzähler mehr als der eigentlichen Geschichte resp. der Version des Erzählers? Ich fühle mich ein bisschen an dessen Seite gedrängt, habe "nur" einen Blick „von oben“ auf die Geschichte, bin damit aber auch ein bisschen „außen vor“ und nicht "mitten im Geschehen". Hier kommt es mir extremer vor als in der „Frau in Weiß“.



    Zitat

    Original von Clare
    Vielleicht sogar Alans Mutter, die Ehefrau des Mörders?


    Daran hatte ich im ersten Moment auch gedacht! Aber der Gedanke hielt sich nicht lange. :-]

    Zum Buch:
    Christoph Heins Geschichten, zwischen 1977 und 1990 entstanden und bislang zum größten Teil unveröffentlicht, zeigen die ganze Spannweite seines Erzählens: eindringlich berichtend, heiter und anekdotisch.
    Sie loten den Spielraum des Einzelnen aus. Welche Entfaltungsmöglichkeiten hat er und wie viel Verantwortung will er übernehmen, wann und mit welchen Mitteln wird er sich widersetzen. Fragen, die so sehr an den Nerv der Gesellschaft rühren, dass einige dieser Erzählungen in der DDR nicht veröffentlicht werden konnten. Fragen, die geblieben sind.


    Zum Autor:
    Christoph Hein wurde 1944 geboren. Seine Kindheit verlebte er in einer sächsischen Kleinstadt, besuchte das Gymnasium in Westberlin. Seit 1960 lebte er wieder in der DDR, arbeitete als Montagearbeiter, Buchhändler und Regieassistent. Er studierte Philosophie in Leipzig und Berlin, arbeitete danach als Dramaturg und Autor an der Volksbühne Berlin. Seite 1979 ist er freischaffender Autor und veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Theaterstücke etc. Hein ist Mitglied der Akademie der Künste zu Berlin, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und der Sächsischen Akademie der Künste in Dresden.



    Meine Meinung:
    Gebundenes Buch, insgesamt 190 Seiten, großzügiger und augenfreundlicher Druck. 1. Auflage von 1994.


    Insgesamt 16 Erzählungen unterschiedlicher Länge sind in diesem schmalen Buch enthalten, Erzählungen, die es in sich haben, deren Entstehungsjahr aber nicht angegeben ist. Einerseits bedauere ich letzteres sehr, andererseits verstehe ich angesichts der Angriffe und Peinlichkeiten, die in Bezug zur Veröffentlichung von Christa Wolfs „Was bleibt“ 1990 auftraten, dass man sich vielleicht Angriffe ähnlicher Art zu ersparen suchte, indem man jegliche Datumsangabe unterließ. Nicht, dass ich annehmen würde, eine Jahreszahl unter einem Text würde auch nur das Geringste an seiner Qualität ändern, es hätte – vielleicht nicht nur – mir geholfen, Hein besser einzuschätzen, mich der politischen Dimension der einzelnen Erzählungen zu vergewissern.


    16 Erzählungen also, ganz lakonisch erzählt, fast ohne Emotion, die bleibt dem Leser überlassen. 16 Entwürfe, das Leben zu erzählen aus einem Land, das nicht mehr ist und überdeutliche Spuren hinterlassen hat. 16 Mal bekommt man keine Hilfe, keine Erklärung, nur das Beschriebene, kein Gramm mehr, keine Interpretation eines wie auch immer gearteten Erzählers, weil der Autor wohl weiß, was er dem Leser zumuten kann, weil er auch weiß, dass der Leser weiß, was der Autor sagen will, zu sagen hat.


    Da erzählt einer, wie das vor sich gegangen ist, in einer landwirtschaftlichen Genossenschaft beispielsweise, mit ihren Strukturen, mit der Partei, die entscheidet und sich einmischt, mit und ohne Sachkenntnis, mit den Finanzen, die nicht stimmen, mit der Pflicht zur Arbeit und den Verboten, mit der Entfremdung in den Familien und der Kälte, die immer mehr zunimmt. Sawetzki heißt der Protagonist der ersten, dem Buch den Titel gebenden Erzählung, der sich nicht mehr anders zu helfen weiß, als ein Kalb öffentlich abzuschlachten, um auf Probleme aufmerksam zu machen, die da sind, die beredet werden, aber nicht gelöst werden können, weil die, die das müssten, nicht nur kein Geld, sondern auch keine Ahnung haben, und die, die das könnten, nicht mehr wollen, gleichgültig werden, die machen, was sie müssen, aber nicht mehr, weil sich nichts ändert, weil sie nicht gefragt werden, weil ihr Sachverstand nichts gilt – zu viel „weil“, um vorwärts zu kommen, um einen Aufschwung zu sehen. Zu fruchtbar sind die Kühe der LPG, es gibt Ställe, aber nicht genug, es gibt Futter, aber bei weitem nicht ausreichend, weil nicht ausreichend Geld da ist, so magern sie ab, die Kühe, und der Schlachter mag sie nicht, in diesem Zustand, dem mageren. So gibt es kein „Aufrücken“ der Kälber in die anderen Ställe, so bleibt der Kreislauf stecken, bildet einen eigenen, eine Spirale der Frustration, bis man aufgibt oder aufbegehrt. Und wenn einer aufbegehrt, wie Sawetzki, dann beschließt die Partei, so wissen wir aus einem Lied oder einem Gedicht, „die hat immer recht“ – von wem war es noch gleich*?


    Da ist eine Jugendliche aus einer anderen Erzählung, „Die Vergewaltigung“ heißt sie, 17 Jahre ist sie, die Jugendliche, sie muss erleben, wie sich die Großmutter „opfert“ zur Vergewaltigung durch sowjetische Soldaten, zwei an der Zahl, damit sie, die Jugendliche und die Schwiegertochter der Großmutter verschont bleiben. Da muss sie mit ansehen, wie die Großmutter geschlagen wird, muss sich anhören, wie diese hinterher beschwichtigt, ob sie sich denn ein Bein gebrochen habe, fragt sie die jüngeren Frauen. Was bleibt da bei der jungen Frau hängen, die dann ihren Weg macht bis hin zur stellvertretenden Staatssekretärin? Was lässt sie berichtend schwärmen vor anderen, späteren Jugendlichen von der Opferbereitschaft der sowjetischen Armee, von der Erntehilfe, von den Freundschaften. Wie indoktriniert der Weg in der Partei, die „immer recht hat“ – und nicht nur dort, sondern auch im alltäglichen Leben des real existierenden Sozialismus -, um den eigenen Mann, der anmahnt, sie hätte auch die dunkle Seite ansprechen sollen, als „Faschisten“ (Seite 138) zu bezeichnen? Was für eine moralische Fragwürdigkeit in den Antworten der Frauen, wenn man auch der ersten eine Art Trost für die Jüngeren zusprechen möchte, wie viel Kraft ist da aufzuwenden, um zu verdrängen, was sich kaum verdrängen lässt.


    Das sind nur zwei der Erzählungen, die mich allesamt beeindruckt haben. Beeindruckt, weil da einer so radikal ehrlich erzählt. Er erklärt nicht, sondern wie ein Chronist kommt mir Hein vor. Beeindruckt war ich aber auch, weil das Verhalten der Menschen gar nicht so sehr DDR-spezifisch daherkommt, weil es so übertragbar ist. Vielleicht hat der Autor solches beabsichtigt, der Verlag solches erkannt und auch – so wage ich mir vorzustellen – aus diesem Grunde eine Jahreszahl zu den Erzählungen nicht genannt. Weil man im Jahr der Veröffentlichung, 1994, als DDR-Autor sehr unter Beobachtung stand, von allen Seiten. Und weil man sich, so glaube ich, hüten sollte, Verhalten wie beschrieben allein dem Leben in einem sozialistischen Land zuzuordnen. Man kennt Entmündigung in Betrieben und nicht nur dort, das hierarchische Denken mit einhergehenden Problemen, sozialer Kälte, Denunziantentum und ähnliches mehr auch in kapitalistischen resp. westlichen und anderen Ländern, auch dort – und das finde ich nicht im Mindesten verurteilenswert – gibt es immer wieder Menschen, die aufbegehren, die sich wehren, gegen Parteien, „die immer recht“ haben.


    Ein lesenswertes Buch eines Schriftstellers, der dieser Tage 70. Jahr alt wird. Dazu meinen Glückwunsch und zum Buch sowieso, das zwar vom Leben in einem vergangenen Land erzählt, aber nicht im Mindesten veraltet daherkommt.



    * Louis Fürnberg war es, der meinte, dass die Partei „immer recht“ habe.


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    Nick Hornby; All You Can Read; 2
    Danilo Kiš; Der Heimatlose; 1,5
    Martin Kordi; Wie ich mir das Glück vorstelle; 2
    Ahn Jung-Kyo; Der silberne Hengst; 1,5
    J. M. Coetzee; Der Meister von Petersburg; 2
    Sabine Friedrich; Immerwahr; 2
    Jean Echenoz; 14; 1,5
    Georg Magirius; Schmetterlingstango; 1; Monatshighlight
    Elisabeth Sifton, Fritz Stern; Keine gewöhnlichen Männer; 3
    Eric Metaxas; Bonhoeffer – Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet; 4
    Alfred Döblin; November 1918 – Bürger und Soldaten 1918; 2
    Asta Scheib; In den Gärten des Herzens; 2,5
    Christoph Hein; Exekution eines Kalbes; 2


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    Aus der Verlagsinformation zum Buch:
    Ein alternder Schriftsteller namens Fjodor Michailowitsch reist 1869 von Dresden nach Petersburg, um die näheren Umstände des Todes seines Stiefsohns Pawel zu erfahren. Ist Pawel von der zaristischen Polizei getötet worden, handelt es sich um Selbstmord oder sind gar die Anarchisten um Sergej Netschajew für Pawels Tod verantwortlich? Der zwischen Trauer und Schuldgefühlen hin- und hergerissene Fjodor verstrickt sich zusehends in die Petersburger Verhältnisse, die die seines Sohnes waren und nun seine eigenen werden: Er zieht in Pawels ehemaliges Zimmer, schlüpft in dessen Anzug, stellt Pawels Wirtin, der sinnlichen Anna Sergejewna, nach und verbringt einige wilde, verzweifelte Nächte mit ihr. Coetzee schildert Euphorie und Alpdruck, die einem epileptischen Anfall vorausgehen, mit ebenso großem psychologischem Einfühlungsvermögen wie Fjodors vergebliche Versuche, den Tod des Sohnes zu verwinden. Die wahre Trauerarbeit leistet Dostojewskij schließlich schreibend: An Pawels Schreibtisch beginnt er, die ersten Seiten der „Dämonen“ zu skizzieren.


    Über den Autor:
    J. M. Coetzee wurde 1940 in Kapstadt geboren. Er war in seiner Heimatstadt als Literaturprofessor tätig. Für seine Romane wurde er zahlreich ausgezeichnet, unter anderem mit dem Booker Prize. 2003 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur zuerkannt.


    Übertragen wurde der Roman von Wolfgang Krege.



    Meine Meinung:
    Taschenbuchausgabe, 3. Auflage 2003. Insgesamt 256 Seiten, recht kleiner Druck.


    Ein Mann trauert, er will Klarheit über den Tod seines Sohnes. Weil er trauert, will er den Lebenswegen seines Sohnes nachspüren, Wegen, von denen er glaubt, sie zu kennen. Er trauert, er muss nach und nach erkennen, dass der, um den er trauert, vielleicht niemals Wirklichkeit war, sondern in seinem Wesen so nur in seiner Vorstellung existierte. Ein Mann muss sich einer Lebenslüge stellen, das ist ein anderer Grund zur Trauer, es ist auch Nährboden für ein großes literarisches Ereignis. Der Beginn der Geburt eines Romans bildet den Abschluss eines anderen, des vorgestellten.


    Mehr als der Auszug aus der Verlagsinformation und dem vorstehende Absatz sei über den Inhalt des Romans von Coetzee nicht verraten, obwohl es mir schwer fällt, nicht über den Justizrat zu sprechen, nicht über Matrjona, nicht über die Gespräche und Diskussionen, die mit eben dem Justizrat, die mit Netschajew, nicht über die Gedanken des Mannes, der als Issajew nach Petersburg reist und sich als Dostojewskij entpuppt.


    Coetzee hat mir ein eindrückliches Bild gemalt, von dem Petersburg resp. Russland in einer politisch nicht gerade ruhigen Zeit, von den ärmlichen Verhältnissen, in denen Pawel sich bewegte und die für die Zeit des Romans die Welt der Hauptfigur darstellt, von den politischen Diskussionen, die dort und damals geführt worden sind, von der Gedanken- und Vorstellungswelt eines Epileptikers und eines Dichters. Es ist sicherlich nicht von Nachteil, den einen oder anderen Roman Dostojewskijs gelesen zu haben, man erkennt die Figuren wieder. Coetzee, so scheint mir, hat sie sich entliehen, um auf seine Weise sein Bild von dem großen russischen Literaten zu zeichnen. Es war für mich das einzige Problem an dem Roman, dass die Protagonisten letztlich eben genau das blieben, nämlich Menschen aus den Romanen eines anderen Schriftstellers, für mich wurden sie nicht zu Coetzees Geschöpfen.


    Von der schönen, klaren Sprache war ich sehr angetan, das Buch hat etliche Sätze, die ich mir angestrichen habe, sie erscheinen mir voller Schönheit, Wahrheit und einiger Zeitlosigkeit. "Lesen", so heißt es einmal (Seite 53), "heißt sich dreingeben und nicht Distanz wahren und spötteln" - genauer kann man mein Lesemotto wohl nicht in Worte fassen. Vielleicht ist sie - die Sprache - manchmal ein bisschen zu direkt, einen Hauch zu modern; das Nach- und Aufspüren der Verweise - nicht nur, aber in der Hauptsache - auf Dostojewskij hat dies für mich aber in den Hintergrund treten lassen.


    Kennt man (noch) kein Werk von Dostojewskij, kann man das Buch durchaus lesen, es verliert allerdings viel von seiner Komplexität und vermutlich auch von seinem Anspruch. Ob es dann ein auch nur vergleichbarer Lesegenuss ist, vermag ich nicht zu beurteilen, dazu bin ich den Büchern und den Figuren von Fjodor Dostojewskij viel zu sehr verfallen.


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