Beiträge von Bartlebooth

    Die Lesegeräte, die ich gesehen habe (besitzen tue ich keines), sind nach meinem Dafürhalten ziemlich idiotensicher. Bespielen tust du sie über deinen USB-Port, wie deinen mp3-Player. Die einfachen Funktionen (wie blättern) funktionieren beim Kindle über zwei große Tasten rechts und links des Bildschirms. Also wirklich nicht schwierig.


    Technisch dürften die Dinger eigentlich auch ausgereift sein, denn die Bildschirmqualität ist inzwischen doch insgesamt ziemlich ansprechend. Mich schreckt der enorm hohe Preis. Da habe ich zuviel Angst, das Ding mal fallen oder liegen zu lassen. Als Ersatz fürs Buch kommt es für mich nicht in Frage. Sehr lohnend ist das Ding aber sicher, wenn man viel mit Manuskripten zu tun hat.

    Zitat

    Original von Dieter
    Ein wenig schreckt mich ab, dass Du das Buch schon zwei Mal abgebrochen hast - woran lag das denn?


    Oh, das muss dich nicht abschrecken. Das erste Mal kann man ja kaum von einem Abbruch sprechen, da habe ich einfach reingelesen, habe dann gemerkt, dass mich ein solches Projekt im Augenblick überfordert und habe wieder aufgehört.


    Beim zweiten Mal war es schon ein bisschen anders, da war es mir dann irgendwann einfach zu langsam (und es ist ein sehr langsam erzähltes Buch) und ich habe den natürlichen Einschnitt nach Band zwei zum pausieren genutzt - was dazu führte, dass sich die Pause immer noch hinzieht ;-).


    Dennoch ist mir das Buch nie aus dem Kopf gegangen, es hat mir auch wirklich gut gefallen. Aber man muss eben praktisch die freie Lesezeit für ein paar Monate auf dieses Buch konzentrieren, wenn man sich damit angemessen beschäftigen will.

    Ich suche Mitleser für ein Langzeitprojekt: Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften".


    1500 Seiten langer, unvollendeter Roman eines der größten österreichischen Schriftsteller der klassischen Moderne. Musil ist hier Chronist der untergehenden k.u.k-österreichisch-ungarischen Monarchie. Seine Geschichte um Ulrich, den Mann ohne Eigenschaften, der im Jahr 1913 eine "Parallelaktion" zum Thronjubiläum Kaiser Franz Josefs plant (parallel deshalb, weil in Deutschland gerade mit großem Pomp das Thronjubiläum Kaiser Wilhelms gefeiert wird). Dieser Umstand bildet den Hintergrund für allerlei philosophische Reflexionen, für Begegnungen und Beobachtungen aller Art.


    Nachdem ich dieses Buch einmal nach vier Kapiteln, einmal nach zwei Bänden (ich lese die fünfbändige Ausgabe aus den Gesammelten Werken) abgebrochen habe, bin ich nun bereit für den dritten Anlauf. Hat irgendwer Lust? Aber, wie gesagt, hier braucht man einen langen Atem.


    :-)


    Teilnehmer/innen:


    Liesbett
    Desdemona
    Q-Fleck
    Bartlebooth
    Dieter
    Sylli7
    Vulkan
    Chilline
    John Dowland


    *

    Zitat

    Original von Nomadenseelchen
    Mit der Mitte meine ich, dass sowohl der Autor des Zeitartikels, als auch die Befürworter der der Laienkritiker recht haben. Näheres habe ich bereits ausführlich dargelegt.


    Nur dass sich der Autor des Zeitartikels halt nicht gegen Laienkritiker wendet, aber sei's drum...


    Zitat

    Original von Nomadenseelchen
    Hintergrundwissen der Laienkritiker mag durchaus sein, aber es wird sicherlich selten so profund sein, wie das eines professionellen Kritikers.


    Ich glaube, du überschätzt die Kenntnisse eines durchschnittlichen Feuilletonredakteurs.


    Zitat

    Original von Nomadenseelchen
    Muß ich jemanden erst studieren, um mit einer 2-3 - Zeilen - Rezi etwas anfangen zu können? Ich denke nein, wenn ich in einem Forum (bei Amazon) eine Rezi schreibe, dann sollte das in einer Form passieren, dass selbst jemand der beim zufälligen googlen darauf stößt, etwas damit anfangen kann.


    Eben. Und da gehst du ebenso konform mit mir wie mit dem Autor des Zeitartikels, denn der sagt nichts anderes. Nur leider entsprechen die meisten amazon-Rezensionen eben nicht diesen Kriterien.


    Zitat

    Original von Nomadenseelchen
    Es handelt sich bei einer schriftlichen Rezi auch nicht um etwas, was mal eben in den Raum geworfen wird.


    Nicht? Mein Eindruck ist in der überwiegenden Zahl der Fälle ein anderer.


    Herzlich, Bartlebooth.

    Zitat

    Original von Nomadenseelchen
    Die Wahrheit liegt in der Mitte.


    In der Mitte wozwischen?


    Zitat

    Original von Nomadenseelchen
    Es gibt (z.B in diesem Forum) hervorragende Laienkritiker. Sicherlich nicht mit germanistischen Hintergrundwissen und vermutlich zerpflücken sie die Bücher auch nicht wie ein professioneller Kritiker. Aber trotzdem ist die Leistung recht ordentlich.


    Das sehe ich anders. Es gibt hier im Forum sehr wohl Kritiker mit fundiertem Hintergrundwissen und zwar nicht nur im literarischen, sondern zB auch im historischen Bereich. Das ist aber - und so verstehe ich auch den Artikel - eine Minderheit.


    Zitat

    Original von Nomadenseelchen
    Und zuletzt gibt es Leser, die wirklich nur 2-3 Zeilen zu einem Buch schreiben, unter denen man sich zudem gar nichts vorstellen kann. Dies wird in dem Artikel auch explitzit kritisiert:
    (...)
    Letztendlich macht die Vielfalt den Wert einer Kritik aus.


    Das stimmt nur in gewisser Weise. Wenn man die Urheber der Dreizeiler "kennt", mögen auch diese eine gewisse Aussagekraft haben. Das ist in einem Forum sicherlich eher der Fall als auf amazon (wenn auch beileibe nicht immer). Dort sind Dreizeiler von vollkommen Unbekannten für einen potenziellen Käufer wertlos.
    Hier ist das von Fall zu Fall anders. Wenn ich jemandes Lese- und Diskussionsverhalten monatelang beobachtet habe und er schreibt eine inhaltslose oder dreizeilige Buchvorstellung, dann kann mir das ebenso helfen, als würde ich einen Bekannten nach seiner Meinung fragen. Von dem erwarte ich auch nicht immer eine fundierte Textarbeit.


    Edit: sprachliche Glättung

    Ich versteh die ganze Aufregung nicht. Der Rezensent des Zeit-Artikels beschreibt doch einfach, was Sache ist. Er sagt weder, dass sämtliche Laienrezensionen gefühlige Dreizeiler sind (aber viele, und das kann man doch schlecht bestreiten), noch, dass nur Berufskritiker Kritiken schreiben dürfen. Er stellt sie lediglich auf eine Stufe mit Elke Heidenreich :grin : "Doch die Art und Vielzahl der Laienrezensionen spiegelt lediglich das, was die meisten Kunden auf diesen Seiten suchen: schnellen Rat, bestenfalls eine Kaufempfehlung. Keine anderen Bedürfnisse bedient auch Elke Heidenreich, wenn sie in ihrer Sendung Lesen! eine Neuerscheinung in die Kamera hält: »Lesen Sie dieses Buch, es wird Sie glücklich machen!«"

    Ich fasse in diesem Ordner die Besprechungen der beiden ersten Teile des Hyperion-Zyklus zusammen, die in Deutschland auch als Sammelband unter dem Titel "Die Hyperion-Gesänge" erscheinen.


    Hyperion


    Es gibt Bücher, denen merkt man ihr Entstehungsdatum an. Dan Simmons' "Hyperion" gehört zweifelsfrei dazu. Es wurde 1989 in der Hochzeit der cultural studies publiziert und beinhaltet eine brillant eingefädelte Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus.


    Inhalt des Buches ist - grob gesprochen - eine Pilgerreise zu einem geheimnisvollen Ort, den "Time Tombs", die sich außerhalb des Zugriffs der "Hegemony of Man" auf dem abgelegenen Planeten "Hyperion" befinden. Sie sind kultischer Ort der undurchsichtigen "Church of the Final Atonement" und werden von einem Wesen namens "Shrike" bewacht. Der Planet und, so wird schnell klar, vor allem dieser Ort spielen eine ganz entscheidende Rolle für den Fortbestand der Menschheit.


    Die von der "Church of the Final Atonement" ausgewählten Pilger könnten auf den ersten Blick seltsamer und unterschiedlicher nicht sein. Einzige Gemeinsamkeit ist, dass keiner von ihnen Mitglied dieser Kirche ist; alle haben hingegen vollkommen disparate Hintergründe: ein Priester, ein Soldat, ein Schriftsteller, ein Wissenschaftler, ein Raumschiffkapitän, eine Detektivin und ein Diplomat.
    Nacheinander erzählen sich diese Menschen (mit einer Ausnahme) nun ihre persönlichen Geschichten, bisweilen auch die Geschichten anderer Menschen, die mit ihrem eigenen Leben schicksalhaft verwoben sind. Es wird schnell deutlich, dass die Lebenswege der Protagonisten alle zum selben Ziel führen, um dort ihre Auflösung zu erwarten: nach Hyperion.


    Was Simmons entwirft, ist also eine Art "Hexameron". Die Rahmenhandlung ist ziemlich zurückgenommen und eher unspektakulär, im Zentrum stehen die Erzählungen der Pilger, die sich, indem sie sich gegenseitig ihre Geheimnisse anvertrauen, auf den großen Showdown vorzubereiten hoffen. Das anfängliche Misstrauen weicht nach und nach der Einsicht, dass sie alle nicht zufällig zu diesem Zeitpunkt an genau diesen Ort gerufen werden. Auch kommt die Hälfte der Pilger, so wird im Laufe der einzelnen Geschichten klar, nicht allein...


    Ich war von Simmons' Zukunftsentwurf schlichtweg begeistert, wenn ich auch sagen muss, dass er an manchen Stellen den Fallen des Genres nicht ganz entgeht. Es hätten nach meinem Geschmack ruhig die ein oder andere Kampf- oder Liebesszene weniger bzw. die vorhandenen hätten ein wenig gestrafft sein dürfen. Das ändert aber nichts an der bestechenden Gesamtkomposition des Textes.


    Wer übrigens, wie ich, glaubt, es könne nicht schaden, vor Simmons Hölderlin zu lesen (den ich allerdings recht schnell wieder abgebrochen habe, das war einfach gerade nichts für mich), dem sei gesagt: der Referenzpunkt ist ohnehin ein anderer, nämlich John Keats. Die Anspielungen auf dessen Leben und Werk sind unaufdringlich, doch überdeutlich. Und auch von ihm existiert ein Fragment gebliebener Text mit dem Titel "Hyperion", ein Sagenstoff, der sich mit der Ablösung der Titanen durch die Götter beschäftigt.


    Ganz abwegig ist die Idee mit Hölderlin allerdings nicht gewesen, denn Simmons scheint nicht nur sehr belesen, sondern auch nicht ganz unbeleckt von deutscher Geographie zu sein. Wie sonst ist der denkwürdige Satz zu erklären: "Kastrop-Rauxel has no datasphere or sats of any kind." Wobei, war es nicht Bielefeld, das nicht existiert?...


    The Fall of Hyperion


    In "The Fall of Hyperion", der Fortsetzung des "Hugo"-prämierten "Hyperion", folgen die Leser unterschiedlichen Handlungssträngen. Zum einen steht das Geschehen in der durch eine Invasion bedrohten "Hegemony of Man" im Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Leser begleitet die Präsidentin dieses Imperiums, Meina Gladstone, bei ihren Entscheidungen rund um den drohenden Krieg mit der Invasionsmacht. Zum anderen wird das weitere Schicksal der Pilger im Tal der "Time Tombs" geschildert. Wie nicht anders zu erwarten, werden die Pilger recht bald voneinander getrennt und müssen einzeln ihre Proben bestehen, in die nicht selten der Shrike eingebunden ist, ein grausames, maschinelles Monster unklarer Funktion.
    Verbunden werden diese Stränge durch eine neu eingeführte Person, einen zweiten "cybrid", dessen Geist von den künstlichen Intelligenzen des TechnoCore nach dem Vorbild des englischen Poeten John Keats geformt worden ist. Dieser "cybrid" (genetisch der Mensch Keats, der durch seinen Geist Zugang zur Welt der künstlichen Intelligenzen des TechnoCore hat) träumt von den Pilgern und kann durch diese Träume der Präsidentin Gladstone von den Vorgängen an den Time Tombs berichten.


    "The Fall of Hyperion" gibt tatsächlich einige Antworten; und ich muss sagen, ich bin nicht sicher, was ich von diesen Antworten halten soll. Sicher ist: Was Simmons hier anbietet, ist zum großen Teil so trickreich komponiert, dass er mir selbst bisweilen den Überblick zu verlieren scheint.


    Zentral für das Verständnis des Textes ist die mehrfach geäußerte Sentenz: "The best lack all conviction while the worst are full of passionate intensity". Man könnte sie als Absage an das lesen, was aber dennoch das Buch durchzieht und nicht konsequent verneint wird: einen messianischen Gedanken. "The Fall of Hyperion" ist voller Voraussagen, Prophezeiungen, "Erwählter" und nicht zuletzt Märtyrer - ganz sicher wird dieses Denken aber von Simmons nicht propagiert. Das Buch ist allerdings über weite Strecken mehr theologisch als philosophisch, mehr damit beschäftigt, den Willen einer unsichtbaren Macht zu ergründen; damit, den Platz zu finden, an dem man ihr Instrument sein soll; und weniger mit den Möglichkeiten, die der Einzelne zum Handeln hat, ohne gleich Held, Märtyrer oder sonstwas zu sein. Die Absage an den Messianismus ist nicht absolut, sondern hält sich an die zitierte Sentenz: Der beste Messias ist ein zweifelnder Messias.


    Diese These, die ich für die wichtigste des Textes halte, wird aber eben ein bisschen von dem theologischen Ballast erstickt, der eigentlich bis zum Schluss in Kraft bleibt. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich finde, dass Simmons hier die Synthese aus sehr Konträrem gelungen ist, die er offenbar angestrebt hat: Zweifel und Messianismus.


    Während ich darüber noch nachdenke, möchte ich aber niemanden vor diesem kurzweiligen zweiten Teil warnen, wenn ich mir vielleicht auch gleichzeitig wünsche, Simmons hätte es bei dem ersten Teil belassen. Ich bin mir nicht sicher. Aber wir wissen ja: The best lack all conviction.


    *

    "Der Weg nach Surabaya" versammelt Reportagen, Dankesreden und andere kleine Prosa, die Christoph Ransmayr zu verschiedenen Gelegenheiten über 25 Jahre hinweg veröffentlicht hat. Die Reportagen erschienen in Zeitschriften wie Geo, Merian oder TransAtlantik und sind daher vor allem Reiseberichte. Die Dankesreden zu einigen seiner Prämierungen umfassen unter anderem den kleinen titelgebenden Text, der von einer Lastwagenfahrt in Indonesien erzählt, auf der Christoph Ransmayr den Reisenden in einer Sprache vorliest, die sie im Gegensatz zu ihm verstehen. Ein skurriles fait divers mit genügend Platz für Gedanken zur Kommunikation.


    Besonders haben mir die Reportagen gefallen. Den Einstieg macht ein Bericht über Hooge, die kleinste der Halligen, und ihre Geschichte. Ransmayr befragt einfache Leute ebenso wie die örtlichen Würdenträger, und es gelingt ihm, aus seinen Beobachtungen immer nachdenklich stimmende Pointen herauszuarbeiten. So ist der Bericht über Hooge unter anderem eine Reflexion auf die Unumkehrbarkeit der Zeit. Ähnliches gilt für den Bericht über die Kontruktion der Talsperren im österreichischen Kaprun, mit deren Ingenieur Ernst Rotter sich Ransmayr lange unterhalten hat. Jener äußert dabei den denkwürdigen Satz: "Seltsam, in der Mitte des Lebens zu stehen und dabei zu wissen, dass alles, was noch kommt, nur das Kleinere und Unbedeutendere sein kann." Was Ransmayr über diese Portraits gelingt, ist nicht zuletzt, eine Weisheit des Volkes zu übermitteln, die nicht immer und nicht überall, manchmal aber eben doch in ganz erstaunlichem Maße vorhanden ist. Er idealisiert dabei nicht das einfache Dorfleben - weit davon entfernt und ganz im Gegenteil. So ist zum Beispiel sein Portrait von "Habach. Ein Andachtsbild aus Oberbayern" alles andere als schmeichelhaft. Aber einfache Vorurteile werden auch hier nicht bedient, vor allem wenn Einsiedler wie Josef Werwein aus Habach in einer späteren Reportage über die Rolle des Fernsehens an den verschiedensten Orten Europas wieder vor- und zu Wort kommen und dabei ganz anders wirken...


    Ransmayr ist befasst mit den Rändern, aber manchmal eben auch mit dem Typischen, das irgendwie randständig und exzentrisch wirkt. Sicherlich kann man nicht sagen, dass alle Texte gleich stark oder gleich pointiert sind, das ist in einem solchen Sammelband, dessen Texte außerdem zu sehr verschiedenen historischen Momenten (1979-1996) entstanden sind, auch kaum zu erwarten. Ransmayrs Prosa besticht aber auch in diesen Miniaturen mit derselben Überlegtheit und Sachlichkeit, die ich aus seinen Romanen kenne und über alles liebe.


    Mein Lieblingsstück ist das einer Busreise zur exilierten Habsburger Kaiserin Zita anlässlich ihres 90. Geburtstags, in dem er mit einer unglaublichen Subtilität und ohne Häme die österreichische Obsession mit der untergegangenen Donaumonarchie greifbar werden lässt. Ransmayr verwebt hier überaus geschickt die Selbstbeobachtung mit der Beobachtung der wallfahrenden Monarchisten und garniert das ganze noch mit einer Zusammenfassung der Geschichte des Hauses Habsburg, der Geschehnisse um das österreichische Habsburgergesetz und mit einer Unterhaltung mit dem Historiker Friedrich Heer, der seine persönliche Analyse dieses ganzen kulturell so eminent wichtigen Komplexes vorträgt. Ransmayr ist ein spür- und sichtbarer, dabei aber immer erstaunlich unparteiischer Chronist, eine Leistung, die ich gar nicht genug würdigen kann.


    *

    Zitat

    Original von Bouquineur
    Kurzbeschreibung
    Die Gäste des Wiener Opernballs werden zum Ziel eines Terroranschlags. Ein Fernsehjournalist, der die Live-Übertragung aus den Ballsälen koordinieren soll, beobachtet das Verbrechen auf den Monitoren. Sein eigener Sohn ist unter den Opfern. Die Kameras laufen weiter und senden weltweit auf zahllose Bildschirme das Sterben von Tausenden. Der TV-Journalist versucht, von Trauer um seinen Sohn getrieben, die Hintergründe des Anschlags zu klären. Sie sind verworren, von Schlamperei und Zufällen geprägt. Mindestens so verworren wie das Weltbild jener kleinen Gruppe, die das Morden vorbereitete.
    Josef Haslingers spannender Medienroman und Politthriller entwirft das Panorama einer vom Terrorismus bedrohten Wohlstandsgesellschaft. Er zeigt die grotesken politischen Widersprüche auf zwischen Liberalität und Bedürfnis nach Sicherheit; den kaum kontrollierbaren Einfluß des Fernsehens auf Alltagsleben und Regierungsentscheidungen sowie das fatale Zusammenwirken von wiederaufflammendem Nationalismus, Fremdenfurcht und politisch motivierter Gewalt.


    Der Opernball hat allerdings streng genommen mit "Oper"nichts zu tun. Er ist eine Tanzveranstaltung, die in den Räumlichkeiten der Wiener Staatsoper stattfindet, sonst nichts. Insofern vielleicht eher nicht das, was Nachtgedanken sucht.

    Schön, dass ich mit der Vorstellung so viel Interesse wecken konnte!


    Zitat

    Original von uert
    Oh, die Rezi hört sich aber gut. Jetzt bringst Du mich in die Zwickmühle, ich wollte ja eigentlich erst "Das Geheimnis des Kalligraphen" lesen, aber "The English Harem" hab ich auch noch hier liegen... hm, was lese ich als nächstes? :gruebel :gruebel


    Ich werde dich nicht davon abhalten, Rafik Schami zu lesen, wenn ich auch dieses Buch von ihm noch nicht kenne. :-)

    Die 20jährige Kassiererin Tracy Pringle verliert ihren Job, weil sie vor lauter Tagträumerei einen unter ihrer Nase stattfindenden Ladendiebstahl übersieht. Sie muss schleunigst neue Arbeit finden, um die prekäre finanzielle Situation zu Hause nicht noch zu verschärfen: Ihr Vater Eric ist arbeitslos, seit bei der Explosion eines Gastanks sein Fußgelenk zerschmettert wurde, und ihrer hart arbeitenden Mutter kann nicht noch mehr Last aufgebürdet werden, als sie als Erzieherin in einer Vorschuleinrichtung ohnehin schon trägt.
    Tracy macht sich auf und findet dank ihrer Hartnäckigkeit einen Job in dem vegetarischen Restaurant "Taste of Persia", das von dem etwa 50jährigen Sam Sahar geführt wird. Tracy wird schnell zu einem unverzichtbaren Mitglied der Belegschaft des Restaurants. Auch mit Sam, dessen Frau Yvette ebenfalls im "Taste of Persia" bedient, versteht sie sich immer besser. Als eines Tages Sams kleiner Sohn Mohamad im "Taste of Persia" erscheint, macht Tracy allerdings ein paar Entdeckungen: Yvette ist nicht die Mutter von Sams Kindern, die gehören der schönen Firouzeh, ehemalige Frau von Sams jüngerem Bruder, der bei einem Bombenattentat im Irak ums Leben gekommen ist. Außerdem sind die Kinder eigentlich Sams Neffen. Und Yvette ist auch nicht Sams einzige Frau, Firouzeh ist ebenfalls mit ihm verheiratet.
    Nach einer anfänglichen Verwirrung gewöhnt sich Tracy an dieses häusliche Arrangement und mehr als das. Denn nach und nach beginnt sie sich in den charmanten und weltgewandten Sam zu verlieben. Das bleibt von ihrer Umwelt nicht unbemerkt und sowohl Tracys Eltern als auch ihr ehemaliger Liebhaber Ricky Innes sind nicht gerade begeistert, als sie erfahren, dass Tracy Sams dritte Frau zu werden gedenkt. Die Gegenmaßnahmen, die ergriffen werden, zeitigen allerdings eine Menge unvorhergesehener Komplikationen.


    Anthony McCarten legt mit "The English Harem" großartige und intelligente Unterhaltung vor. Ein Buch, das man kaum beiseite legen kann, voller überraschender Wendungen und allmählicher Enthüllungen. Auf sehr clevere Weise wird der Finger in die moralisierende Wunde der seriellen Monogamie gelegt. McCarten zeigt in verdichteter, aber keineswegs komplizierter oder übermäßig konstruierter Weise die Lügen und Beschönigungen, von denen dieses für die westliche Welt so selbstverständliche Konstrukt lebt. Er zeigt die Vorurteile und Obsessionen einer Gesellschaft, die gerade in diesem Punkt keine Abweichung dulden kann und sich eine eigentlich nicht sehr extravagante Familie zu einem höchst unmoralischen Swingerclub ausfantasiert.


    Die Zwischentöne gelingen McCarten dabei besonders gut, etwa wenn er die voruteilsstarren Ost-/West-Fronten auflöst, indem sich plötzlich die englische Arbeiterfamilie mit der traditionell muslimischen Familie aus dem theokratischen Iran einig darüber ist, dass die Ehe zwischen Sam und Tracy nicht zu akzeptiern sei. Oder indem der übereifrige Mitarbeiter der Londoner Social Services Sebastian Partridge durch einen verführerischen Ausschnitt dazu gebracht wird, die moralische Unbedenklichkeit des Vielfrauenhaushalts vor Gericht zu bezeugen.


    Rätselhaft blieb mir eigentlich nur, warum trotz allen Wissens um die Vorurteile der Umgebung, die Sahars so unglaublich störrisch auf der Benennung ihrer Beziehung als "Ehe" bestehen. In allen anderen Beziehungen sind die Figuren sehr reflektiert und voll praktischer Weisheit gezeichnet, in dieser einen Beziehung geht die Symbolik der Benennung offenbar vor dem problemlosen Zusammenleben.


    McCarten macht aber durch seine Auflösung der Handlung diese Überlegungen fast schon obsolet, denn am Ende hätte auch ein weniger aufgeladenes Vokabular den Gang der Dinge nicht verändert.


    Ein wirklich gelungener Roman eines jungen Schriftstellers, auf dessen weitere Bücher ich nun sehr gespannt bin.


    *
    Edit: Ich habe den deutschen Titel in der Überschrift ergänzt und die deutsche ISBN eingetragen, damit man das Buch in der Suche besser finden kann. LG Wolke

    Walser verhält sich seit der Bubis-Affäre einfach still, und nimmt alles, was er kriegen kann. Denn nur so ist eine Annäherung an den Nobelpreis überhaupt noch denkbar, dem er sich Anfang der 90er noch so nah fühlte. :lache
    Einmal zu früh gewackelt und schon hatte ihn der Grass. :grin

    O, ich glaube, man muss Handke nicht kennen, um zu mutmaßen, dass an diesem Gedanken was dran sein könnte. Er hat schon immer gern mit dem Publikum gespielt.


    Und so sehr ich es auch schätze, dass jemand jüngeren Kollegen einen Vortritt lässt - der zeitpunkt ist schon eigenartig, die Longlist ist seit mehreren Wochen raus, die Shortlist mit ziemlicher Sicherheit bereits den Verlagen bekannt. Und Handke bekommt nun noch einmal den Extraschub Aufmerksamkeit, den er sonst vielleicht gar nicht bekommen hätte und den er doch eigentlich den jüngeren Kolleg/innen überlassen wollte. Sehr interessant.

    An einem Wintertag vor langer Zeit soll im Städtchen Coldhaven an der schottischen Ostküste der Teufel dem Meer entstiegen sein, die Stadt durchwandert und sie dann in Richtung des Landesinneren wieder verlassen haben. Mit dieser Legende beginnt John Burnsides Erzählung "Die Spur des Teufels". Und ich sage es gleich zu Anfang, leider ist mir der erzählerische Grund für diese Anekdote auf den ganzen 255 Seiten nicht recht klar geworden.
    Michael Gardiner ist der Sohn eines weltberühmten Fotografen und einer Künstlerin, die sich nach Coldhaven zurückgezogen haben, die aber von der Dorfbevölkerung als Zugezogene nicht angenommen, ja regelrecht schikaniert werden. Auch der kleine Michael hat es in der Schule nicht leicht. Vor allem Malcolm Kennedy entwickelt sich immer mehr zu einer kaltblütigen Nemesis für den jungen Michael. Als dieser Jahrzehnte später (er ist inzwischen unglücklich mit der schönen Amanda verheiratet) von einem eigenartigen Mord- bzw. Unglücksfall liest, in den die Schwester Malcolm Kennedys, Moira, verwickelt ist, kehren die Erinnerungen an die Kindheit bei Michael wieder. Vor einigen Jahren hatte er nämlich mit Moira eine Affäre, und dies praktisch unmittelbar im Anschluss an den Tod ihres Bruders Malcolm.


    "Die Spur des Teufels" ist ein eigenartiges Buch, aber nicht im guten Sinne. Sie lässt sich an wie eine Art Thriller. Man ahnt, dass Michael in irgendeiner Beziehung zum Todesfall Moiras und ihrer beiden Kinder stehen muss und wird auch sogleich mit einigen Details versorgt, die einen in dieser Annahme bestätigen. Es handelt sich dabei um eine recht herkömmliche Geschichte um einen vom Klassenbully gequälten Einzelgänger, der irgendwann Rache nimmt. Das liest sich alles recht flüssig, ist aber - wie erwähnt - nicht sonderlich originell. Die Story vom nicht anerkannten Zugezogenen und seinen Leiden in einem von Gott und wie wir wissen sogar dem Teufel verlassenen Nest lesen wir hier zum n-ten Male. Und wir kennen bessere Varianten.


    Schlimmer wird es im zweiten Teil des Buches, in dem sich Michael Gardiner auf eine metaphysische Sühnefahrt mit der 14-jährigen überlebenden Tochter Moiras begibt. Hier brechen dann auch die Rückblenden ab und wir sehen uns eigentlich nur noch mit populärphilosophischen Überlegungen und einer keuschen Art Lolita-Geschichte konfrontiert.


    Das Gute an dem Buch ist, dass es kurz ist und sich gut lesen lässt. Schlecht ist die mäßige Originalität, die zusammengeschusterte Art des Erzählens, die manche Details länglich auswalzt, andere nur andeutet, insgesamt aber leider kein Interesse an den geschehnissen oder den Figuren zu wecken vermag. Die Kulisse Coldhavens bleibt abgeschmackt und altbekanntes Landbevölkerungs-Klischee. Und die Erkenntnisse über Natur und Herkunft des Teufels sind von einer fast schon erschütternden Banalität.


    Kein unlesbares, kein abgrundtief schlechtes, einfach ein belangloses Buch.


    *

    Zitat

    Original von LilStar
    Mal ne doofe Frage: Ich hab immer gedacht, Nijura wäre ebenfalls der Auftakt einer Trilogie, aber ich konnte nix darüber finden. Ist das tatsächlich nur ein einzelnes Buch?


    Hallo LilStar,


    Nijura ist, wie bisher alle Titel von Jenny-Mai Nuyen, ein Einzelband.