Beiträge von Bartlebooth

    Ich kann die praktische Notwenidgkeit so einer Regel auch nicht erkennen.
    Zum einen gibt es das Argument von Lesebiene, denn wer sagt denn, dass man immer nach dem deutschen Titel sucht? Auf diese Weise geht dann der englische (oder französische) Titel unter. Ich weiß manchmal gar nicht, ob Bücher übersetzt sind, wenn doch, weiß ich ganz oft nicht, wie sie auf deutsch heißen. Für jemanden mit der Übersetzung ist es umgekehrt viel einfacher, den Originaltitel herauszufinden - der steht nämlich in der Titelei.
    Wenn ich prüfen will, ob eine Rezension schon existiert gehe ich, wie auch Si Collier, über den Autorenindex.

    Kerim wächst im Irak der Kuwaitkrise als ältester Sohn eines nominell alevitischen, de facto aber atheistischen Restaurantbesitzers auf. Erzählt wird seine Lebensgeschichte, in der er zunächst ein verhätschelter und übergewichtiger Stammhalter ist. Nachdem aber sein Vater aus recht undurchsichtigen Gründen von den Handlangern Saddams ermordet wird, muss Kerim das Restaurant übernehmen. Das tägliche Einerlei hat er schnell satt. Er träumt davon, es seinem Onkel Tarik gleichzutun und nach Deutschland auszuwandern. Die Gelegenheit dazu ergibt sich unter eigenartigen Umständen: Als er auf dem Weg zu seinen Großeltern ist, wird er eines Tages von islamistischen Fundamentalisten gekidnappt, denen er sich nach kurzer Gefangenschaft halb aus Angst, halb aus Faszination anschließt. Es folgt eine Zeit, von der die Leser erst nach und nach erfahren, am Ende löst sich Kerim jedoch von den "Gotteskriegern" und nicht nur das, er stiehlt ihre gesamte Barschaft, als sie während einer Razzia durch die Amerikaner im allgemeinen Tumult kurz unbeaufsichtigt ist. Ausgestattet mit diesem kleinen Vermögen kehrt er zunächst zu seiner Familie zurück und nimmt das Geschäft wieder auf, doch längst ist in ihm der Entschluss gereift, mit Hilfe des gestohlenen Geldes die Auswanderung nach Deutschland zu bezahlen.


    Ich hatte von Sherko Fatah bis zu seiner Nominierung zum diesjährigen Deutschen Buchpreis nichts gehört, dabei ist "Das dunkle Schiff" nicht der erste Roman, mit dem er Aufsehen erregt. Bereits 2001 erhielt er für seinen Erstling "Im Grenzland" den Aspekte-Literaturpreis.


    "Das dunkle Schiff" geistert als moderner Abenteuerroman mit all seinen Varianten durch die Feuilletons: Da ist die Rede vom Schelmenroman, gar vom Entwicklungsroman, kaum eine Tradition scheint zu gewaltig für dieses Buch. Tatsächlich ist "Das dunkle Schiff" ein süffig zu lesender, dabei formell nicht wahnsinnig innovativer Roman über die Lebensgeschichte eines Emigranten. Abgesehen von den Rückblenden in Kerims Zeit bei den "Gotteskriegern" wird hier schön chronologisch ein Leben erzählt. Und ich möchte behaupten, das wäre nicht weiter interessant - wäre da nicht die Hauptfigur.


    Kerim ist kein Schelm, er ist auch kein "Wilhelm Meister", wenn sein Leben auch ein bewegtes ist. Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass es im Roman keine Entwicklung gibt, die gibt es in Hülle und Fülle, und sie ist beileibe nicht nur äußerlich. Doch Kerim wird vom dicken, feigen Kind zum dicken, feigen und frustrierten Erwachsenen, zum dünnen, gläubigen Erwachsenen, zum Auswanderer, zum naiven Opfer der eigenen Passivität. Und auch das trifft es nicht vollkommen, denn Kerim ist bis zu seinem 22. Lebensjahr weitaus aktiver und wagemutiger als der durchschnittliche Mitteleuropäer. Er hat auch viel mehr erlebt und viel mehr Verantwortung getragen. Er hat sich auch verändert.


    Das Geheimnis der Figur liegt aber in ihrer Gewöhnlichkeit. Kerim ist eigentlich ein Spießer, Antrieb seiner Handlungen ist eine diffuse Feigheit und das fast vegetative Interesse am eigenen Vorteil. Das Buch ist in fünf Teile unterteilt und in jedem der Teile macht sich Kerim eines feigen Verrats schuldig - nicht böswillig, einfach aus Schwäche und Selbstschutz, doch nichtsdestoweniger folgenreich für die Opfer (und für den Leser) von großer Abscheulichkeit. Man ist an solche Protagonisten nicht gewöhnt. Man ist an die Helden und an die Feigen, an die Schwachen und an die Berechnenden gewöhnt, aber nicht an die Gewöhnlichen, die in Situationen geraten, in denen für Moral kein Platz ist, und die ihr Leben, nachdem sie moralisch eklatant gefehlt haben, vielleicht auch nur aus einer Laune heraus, einfach weiterleben und das immer noch als ganz normale Menschen: Fatah zeigt in unglaublich geschickter Weise, auf welcher "moralischen" Grundlage Menschen gewöhnlich handeln.


    Das Großartige an dem Buch ist, dass Kerim trotz seines oft haarsträubenden Verhaltens nie unsympathisch wirkt. Das gelingt durch die klare und lapidare Erzählweise Fatahs, der die Lesenden mit Kerim in gewisse Situationen führt, in denen für lange Reflexion meist keine Zeit bleibt. Die Verfehlungen werden aus dem Bauch heraus begangen und später nicht einmal verdrängt, sondern durchaus als Verfehlungen akzeptiert. Weder Figur noch Leser sehen eine wirkliche Alternative zu diesem Handeln. Fatah gelingt auf diese Weise der Entwurf eines unglaublich memorablen Charakters.


    Gerade deshalb überzeugt mich das Ende des Buches nicht, das sich von seiner Hauptfigur passagenweise entfernt und hier oft hölzern und unbeholfen wirkt. Allerdings sehe ich die Schwierigkeit, in die der Handlungsverlauf eine so spontan angelegte Figur bei diesem Ende führen muss. So halte ich den fünften Teil des Buches zwar nicht für glücklich, aber immerhin für konsequent. Und da ich hier nicht alles verraten kann, gilt: selber lesen.


    Ohne die Konkurrenz schon gelesen zu haben, wünsche ich Sherko Fatah das Vorrücken auf die Shortlist am 17. September.


    *

    Wilhelm Raabe; Stopfkuchen; 2,5
    Paul Maar; Lippels Traum; 2,5
    Alexander Häusser; Karnstedt verschwindet; 2,5
    Astrid Lindgren; Kalle Blomquist Meisterdetektiv; 2,5
    Prosper Mérimée; Colomba; 2
    Mathias Malzieu; La mécanique du coeur; 6
    Heinrich von Kleist; Penthesilea; 1,5
    Theodor Fontane; Frau Jenny Treibel; 2
    Egon Friedell; Die Rückkehr der Zeitmaschine; 4
    Viktor Pelewin; Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin; 4
    Christoph Ransmayr; Morbus Kitahara; 1,5
    Lukian; Gegen den ungebildeten Büchernarren; 3
    Michael Gerard Bauer; Don't call me Ishmael; 2

    Zitat

    Original von Vandam
    Weil ich Klett-Cotta hier unter den kleinen Verlagen sehe ... hier die Liste der 100 größten Verlage. Die gehören zur Klett-Gruppe, Platz 2 auf der Liste.


    Klett-Cotta selber waren "zu meiner Zeit" nur eine Handvoll Hanseln, was sich in den letzten 20 Jahren auch nicht drastisch geändert haben wird. So gesehen passt's wieder.


    Das ist mir auch schon an ein paar Stellen aufgefallen. Wobei ich die buchreport-Liste auch nicht richtig verstehe, denn zB die Bonnier-Verlage sind dort alle einzeln aufgeführt (zu denen gehört von den hier aufgeführten Thienemann). Patmos gehört zur Cornelsen Holding.
    Aber tatsächlich gibt es ja auch innerhalb der Gruppen größere und kleinere Verlage, dh auch die Marktführer leisten sich natürlich alle ihre kleinen literarischen Feigenblätter.

    Ishmael Leseur leidet unter seinem Namen, denn er ist, seit er in der neunten Klasse ist ein ständiger Quell des Hohns von Seiten des Klassenbullys Barry Bagsley. Ishmael ist ein typisches Opfer, bis James Scobie in die Klasse kommt, ein kleiner gedrungener Junge mit auffälligen Ticks, einer irritierenden Ordnungsmanie und einer messerscharfen Sprache. Und: Er kann seit einer Operation, bei der ihm ein Gehirntumor entfernt wurde, keine Angst mehr fühlen. Mit James Hilfe gelingt es Ishmael, sich aus seiner Außenseiterposition herauszuarbeiten, doch als James eines Tages nicht mehr im Unterricht erscheint, schikaniert Barry Bagsley seine Lieblingsopfer wieder schlimmer als jemals zuvor. Und Ishmael ist in der Lage, Angst zu spüren. Hat er von seiner Zeit mit James auch gelernt, wie man diese Angst ohne Hirn-OP überwinden kann?


    Michael Gerard Bauer gehört zu einer ganzen Reihe sehr geschickter und literarisch durchaus anspruchsvoller australischer Jugendbuchautoren. Nach einigen begeisterten Rezensionen und ein paar enthusiastischen persönlichen Tipps, musste ich einfach sehen, was an ihm dran ist.
    "Don't call me Ishmael" ist ein ausgezeichnetes Jugendbuch, der Zeigefinger bleibt auch in brenzligen Situationen unten, die Sprache ist heutig, aber nicht aufgesetzt jugendlich, die Charaktere sind liebenswert mit all ihren Schwächen. Inhaltlich ist das Buch in den großen Linien zwar recht erwartbar, den Unterschied machen aber dessen Aufteilung und die Fähigkeit Bauers, Ishmaels Entwicklung glaubwürdig, das heißt nicht zu glanzvoll darzustellen und trotzdem ein fast vollkommenes Happy End hinzulegen. Vielleicht wäre das - auch in einem Jugendbuch - nicht ganz so vollständig nötig gewesen, insgesamt hat es mich allerdings nicht gestört. Ein Autor, den man im Auge behalten muss, dieses zweite Buch war sicher noch nicht sein letztes Wort.


    Edit: ISBN-10 versucht
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    Hallo Voltaire,


    danke für die netten Worte. Auch ich halte Ransmayr für einen der interessantesten zeitgenössischen deutschsprachigen Schriftsteller.
    Hast du denn - oder vielleicht sonst jemand - auch etwas von seiner kleinen Prosa gelesen? Und ist da etwas - oder am Ende alles - empfehlenswert? Sonst bleibt mir im Moment - und bei Ransmayrs Tempo ja auch auf Jahre hinaus - nur noch "Der fliegende Berg".


    Herzliche Grüße, Bartlebooth.

    Christoph Ransmayr präsentiert in diesem Roman von 1995 eine alternative history-Geschichte: Was wäre wenn nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Deutschland nicht in den Marshall-Plan einbezogen, sondern deindustrialisiert worden wäre. Dieses Gespenst ist unter dem Namen "Morgenthau-Plan" bekannt und berüchtigt, der in "Morbus Kitahara" allerdings nirgends ausdrücklich erwähnt wird.


    Drei Figuren begleiten wir durch eine Welt, die zivilisatorisch zurückfällt, von Tauschhandel und Fischfang lebt, in der das Standrecht nur solange nicht herrscht, wie es dem Militär der Besatzungsmächte nicht zupass kommt.
    Drei Figuren leben in dieser Welt: Bering ist der Sohn des Schmieds, der Vögel liebt und dessen erste Sprache die der Hühner ist, bevor er in die Welt der Menschen kommt und dort mit der harten Nachkriegsrealität seines heimkehrenden, geistig und physisch zerstörten Vaters konfrontiert wird. Ambras ist der "Hundekönig" und der Verwalter des Steinbruchs von Moor, so heißt die fiktive Ortschaft in den Alpen, in der die Handlung hauptsächlich angesiedelt ist.
    Ambras ist Überlebender eines Lagers und von den dort erlittenen Folterungen schwer gezeichnet. "Hundekönig" wird er genannt, weil er in einer verlassenen Villa am Moorer Seeufer zusammen mit einem Rudel entlaufener und bissiger Hunde lebt, die er sich gefügig gemacht hat und die ihn wie eine Privatarmee umgeben und beschützen.
    Lily ist die Tochter eines Kriegsverbrechers, der kurz vor seiner Auswanderung nach Brasilien in Moor von ehemaligen Lagerinsassen erkannt und gelyncht wurde. Sie lebt vom Tauschhandel mit Kriegsreliquien, Smaragden und Munition aus einem vergessenen Depot in den Bergen.
    Bering repariert eines Tages das einzige Auto im Dorf, das dem Hundekönig gehört. Dieser nimmt in daraufhin als Leibwächter und persönlichen Diener bei sich auf. Bering verliebt sich in Lily, die häufig in der von Ambras annektierten Villa Flora verkehrt. Lily liebt weder Ambras noch Bering, mit dem sie nur während eines Rockkonzertes einmal ein paar zärtliche Momente erlebt. Ansonsten scheinen die drei viel zu sehr mit ihrem Schicksal und der zerstörten Welt beschäftigt zu sein. Tatsächlich wirken sie seelen- und gefühllos, kümmern sich um die Ausführung von Befehlen - Ambras um die der Besatzer, Bering um die Ambras' - sowie um das wirtschaftliche Überleben in dieser unwirtlichen Welt (hierfür steht vor allem Lily), in der für Moral oder Skrupel kein Platz zu sein scheint.
    Der titelgebende Morbus Kitahara, die allmähliche Verfinsterung des Blicks, befällt Bering und ein auf das menschliche Auge fixierter Armeesanitäter erklärt ihm, was es damit auf sich hat: Morbus Kitahara entsteht durch das zu lange Fixieren eines Objekts, verschwindet aber normalerweise irgendwann von selbst wieder. Morbus Kitahara ist natürlich auch symbolisch zu verstehen, auf die Ausblendung bestimmter Bereiche des Lebens, die zu einer Verfinsterung der Moral führt.


    Christoph Ransmayr verehre ich seit einigen Jahren schon sehr, vor allem für seinen großartigen Romanerstling "Die Schrecken des Eises und der Finsternis", in dem es um die Entdeckung des arktischen Franz-Josef-Landes durch eine österreichische Polarexpedition und um deren moderne Spiegelung geht. Mit "Die letzte Welt", einem Roman über die Exiljahre Ovids, der vom Feuilleton gefeiert wurde, wurde Ransmayr einem breiteren Publikum bekannt.
    Ransmayr nimmt sich für seine Romane immer sehr viel Zeit, er hat, wenn ich richtig zähle, erst vier Romane veröffentlicht, von denen ich nun drei gelesen habe, die ich alle für sehr bemerkenswert halte, für sprachlich ansprechend, für überaus durchdacht, dabei aber keineswegs verkopft oder totsymbolisiert.
    Ich weiß, dass ein Großteil des Feuilletons diese Meinung gerade in Bezug auf "Morbus Kitahara" nicht geteilt hat, dass der Roman als zu artifiziell und blutleer beschrieben wurde. Sich aber über ein "zu" zu streiten, ist stets schwierig. Nach meiner Empfindung ist dieses Buch ein sehr gelungenes, originell in der Wahl des Themas, stilistisch dabei sehr zugänglich, wenn auch nicht inhaltlich banal. Das Schicksal der drei Überlebenden des Krieges wird spannend beschrieben, man verliert nie das Interesse an den unter so feindlichen Umständen gestrandeten Figuren, die von der Vergangenheit in allem, was sie tun, geprägt sind, allerdings nicht in dem Sinne, dass sie moralisch aus ihr gelernt hätten. Die Figuren sind im Krieg und in der Gleichgültigkeit, die das eigene Leiden mit sich bringt, vollständig erstarrt. Und auch als sich Berings Blick wieder etwas lichtet, bedeutet dies nicht, dass er sich von seiner im letzten Drittel des Buches immer wieder thematisierten Wut gelöst hätte.


    Edit: Wortwiederholung und Rechtschreibfehler entfernt


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    Hallo magali,


    das Argument der Übergliederung ist natürlich zu beachten. Andererseits finde ich es schon von Anfang an komisch, dass es eigene Kategorien für "Erotik" gibt, die man doch wunderbar unter die Ratgeber stecken könnte, oder zwei getrennte Kategorien für "Börse & Geld" und "Business & Karriere". Hier wären in meinen Augen eher Zusammenlegungsmöglichkeiten als in Sonstige Sachbücher Foucault neben einem Buch über die Scheibenwelt stehen zu haben. :grin
    Für manche mag das ein Quell der Inspiration sein, für mich ist das unübersichtlich. Aber - um das gleich klar zu machen - ich konnte auch mit dem undifferenzierten Sachbuch-Ordner klarkommen, war unkomfortabler, aber ja durchaus zu machen.


    :wave

    Zumindest sollte sie's in einem Literaturforum nicht sein.
    Mir npersönlich würde auch eine Sammelkategorie "Kulturwissenschaften" reichen.


    Übrigens: Vielleicht müsste der Thread nicht unbedingt in der Rappelkiste stehen. Ist ja nur ein Verbesserungsvorschlag.


    :-)

    Dieses Ansinnen möchte ich gern unterstützen. Ich habe das schon mal angemerkt, als die Kategorisierungen eingeführt wurden. Eine Kategorie für Philosophie/Literaturwissenschaft/Linguistik, gern auch eine für Soziologie (das passt ja auch nicht alles unter "Politik") wären eine feine Sache.
    :wave

    Die (philosophische) Diskursanalyse ist eine Praxis, die die Bedingungen aufzuzeigen versucht, unter denen sich zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt das Denken vollzieht. Der 1984 verstorbene Philosoph Michel Foucault ist, wenn man so will, der "Erfinder" ihrer theoretischen Grundlage.


    Der Sexualität hat Foucault drei Bände gewidmet, die Fragen nachgehen sollen, wie sich die Einschätzung von Sexualität durch die diskursiven Grundlagen im Lauf der Geschichte verändert hat.


    Im ersten Band von Histoire de la Sexualité/ dt. Sexualität und Wahrheit (La volonté de savoir/ dt. Der Wille zum Wissen, 1972) vertritt er die Ansicht, dass die christliche Sexualmoral auch entgegen ihrer eigenen manifesten Behauptung nicht einfach unterdrückend auf Körperlichkeit und Sexualität eingewirkt, dass sie diesen Bereich also nicht einfach durch Verbote tabuisiert hat, sondern dass - viel subtiler - eine Kanalisierung des Sprechens über das Selbst, die eigene Begierde und den Körper stattgefunden hat.


    Gegenstand dieser Rezension ist aber der zweite Band (L'usage des plaisirs/ dt. Der Gebrauch der Lüste, 1984); in ihm wendet sich Foucault der griechischen Antike zu und untersucht die Frage, ob sie - der landläufigen Meinung entsprechend - in sexuellen Fragen tatsächlich toleranter und weniger repressiv als das christliche Europa gewesen ist.


    Drei ausführlich behandelte Aspekte sollen diese Frage klären helfen: Das Verhältnis zu Körper, Ernährung und gesundem Lebenswandel (diététique), der Stellenwert der Ehe in der Antike (économie) und das griechische Institut der Knabenliebe (érotique).


    In einer sehr genauen Textananlyse griechischer Quellen kommt Foucault zur Überzeugung, dass Sexualität in der Antike zwar nicht als Übel betrachtet wurde, dass aber ein äußerst komplexes System des Umgangs mit ihr existierte. Dabei war es etwa in Bezug auf die Gesundheit wichtig, die individuelle Lebenssituation bei der Frage nach der angemessenen Häufigkeit sexueller Betätigung zu berücksichtigen; bei der Betrachtung der antiken Ehe hält er fest, dass eheliche Treue weniger mit Sexualität zu tun hatte, als dieser Begriff heute impliziert, sondern vielmehr die Forderung beinhaltete, dass die Ehefrau auf lange Sicht ihren Platz in der familia als Herrin über die häusliche Sphäre garantiert bekam. Die eigentlich erotische Komponente war in der Beziehung der Männer untereinander angesiedelt, wobei auch hier eine Tendenz zur Selbstdisziplin unbedingt erforderlich war.


    Allgemein kann gesagt werden, dass die griechische Sexualität vom Mann her gedacht und ihre Praxis sehr stark darauf ausgerichtet war, stärker als die eigene Begierde zu sein - und zwar noch im Vollzug des sexuellen Aktes. Niemals sollte die Sexualität Gewalt über den freien Menschen - also den freien Mann - erlangen.


    Foucault verunsichert mit seinen Thesen die allzu einfache Sicht eines immer nur repressiven Umgangs mit Sexualität auf sehr bedenkenswerte Weise. Wenn auch die ausführlichen Textbeispiele nicht selten eine Straffung und Pointierung gut vertragen hätten, ist das Aufspüren antiker Handlungsmuster in den Quellen sehr spannend nachzuverfolgen und überzeugend gelungen. Focault vermag zu zeigen, dass eine Reduktion bei der Betrachtung von Sexualität auf eine einfache Opposition von Verboten und Toleranzen bezüglich bestimmter Objekte oder Praktiken bei weitem zu kurz greift und häufig den Blick auf das Wesentliche antiker Sexualmoral und ihrem Einfluss auf die Geschichte des abendländischen Denkens verstellt.


    Foucault ist meines Erachtens immer eine durchwachte Nacht wert!


    Da hier der Amazon-Link nach Frankreich nicht funktioniert, gibt's das Ganze in deutsch. :-)


    *

    Zitat

    Original von Bodo
    Obwohl ich "nein" angeklickt habe, muß ich doch sagen, das ich zwei Bücher aus Ärger und Ekel spontan entsorgt habe. (...) Das Zweite war eine fiese Biographie über Karl May, in welcher der Autor nicht nur als latent homosexueler Perversling dargestellt wurde, sondern auch jede Menge sexuelle Metaphern in sein Werk hineingedeutet wurden.


    "Sitara oder der Weg dorthin" vom unvergesslichen Arno Schmidt. Ein Klassiker der Karl May-Forschung. :lache


    Und zum Thema: Selbstverständlich werfe ich Bücher weg. Sie stehen nach dem Aussortieren immer noch ein bisschen rum und wenn jemand was will, schenke ichs gern her. Aber mit Büchern, die beschädigt oder schlecht sind, mache ich kurzen Prozess.


    Herzlich, Bartlebooth.

    Es gab schon einmal eine Rezension, die auf die schlecht erträgliche Passivität und Biederkeit Bellas abhob, zugegebenermaßen nicht ganz so pointiert wie die Washington Post-Rezension. Ute Wegmann schloss im Deutschlandfunk mit den Worten: "Für den Genuss der Lektüre braucht der erwachsene Leser oder wohl eher die Leserin auf alle Fälle die Fähigkeit der Rückbesinnung auf die eigene Pubertät. Im besten Fall hat sie auf dem katholischen Land stattgefunden, in den Sechziger Jahren."


    Zur gesamten Rezension mit Interview geht es hier entlang.

    Albert Vigoleis Thelen ist - auch nach dem Nachwort im Buch - der große Unbekannte der deutschen Literatur. Die Frage ist eigentlich, warum er es ist. Das Presselob auf der U4 spart nicht mit Superlativen, "Die Insel des zweiten Gesichts" ist auch ziemlich erfolgreich gewesen, seit ihrem Erscheinen 1953 immer wieder in neue Auflagen gegangen. Man könnte Thelen kennen, aber man kennt ihn nicht. Ein großer Fehler, wie sich bei der Lektüre dieses Buches, das mir von einem Freund empfohlen und geschenkt wurde, herausgestellt hat.


    "Die Insel des zweiten Gesichts" beschreibt als autobiographisch inspirierte Schelmengeschichte Thelens Zeit in Mallorca von 1931 bis 1936. 1931 wird er mit seiner damaligen Geliebten und späteren Frau Beatrice, einer Schweizerin, nach Mallorca gerufen. Beatricens kleiner Bruder Zwingli liegt im Sterben und bittet die beiden zu kommen. Umso erstaunter sind sie natürlich, als Zwingli sie wohl etwas abgerissen, aber keineswegs vom Tode gezeichnet, am Pier abholt. Es stellt sich heraus, dass das dramatische Telegramm eine Finte war, um Beatrice und Vigoleis von der wirklich sterbenskranken Mutter Beatricens wegzulocken. Denn Zwingli braucht zwar keine letzte Ölung, aber zweifellos Hilfe: Er hat sich in eine spanische Hure verliebt, die ihm nach und nach das Geld aus der Tasche zieht und die Syphillis aufhängt, von der er sich aber nicht zu lösen vermag, zum einen aus Faszination für diese Frau, zum anderen aus Furcht vor ihrer impulsiven Art, die auch vor dem Gebrauch eines Dolches nicht zurückschreckt.
    Vigoleis ist am Anfang keine große Hilfe, er verliebt sich sogar selbst in die schöne Spanierin und verschärft so das Problem sogar noch.
    Beatrice begleicht derweil mit ihrem stattlichen Vermögen die Schulden des kleinen Bruders, so dass die beiden Helden der Aufzeichnungen schon nach wenigen Seiten ohne finanzielle Mittel dastehen. Der stets ingeniöse, oft kuriose und manchmal auch erschreckende Kampf gegen die Armut steht ab da im Mittelpunkt der Erzählungen. Beatrice und Vigoleis landen zunächst im Hotel eines anarchistischen Grafen, dann im Bordell eines Drahtziehers des mallorquinischen organisierten Verbrechens, schließlich in einer eigenen Wohnung, für die sich unsere Helden zwar keine Möbel leisten können, die aber einen wunderbaren Garten besitzt.
    Wie durch ein Wunder gehen Vigoleis und Beatrice aus allen Abenteuern ohne größeren Schaden hervor, zwar leben sie in einem ständigen Auf und Ab von bescheidenem Wohlstand und totalem Verlust ihrer Ressourcen, sind nach der Machtergreifung der Nazis und durch den Aufstieg Francos stets neuen Schikanen ausgesetzt und müssen 1936 auch vor dem heraufziehenden spanischen Bürgerkrieg flüchten, doch durch ihre stets prekäre Lage lernen sie eine Menge Leute kennen, wie sie interessanter nicht sein könnten, teilen deren Leben, gewinnen meistens deren Zuneigung und Vertrauen und schaffen es so nicht nur zu überleben, sondern auch einen reichen Schatz an Geschichten aufzutürmen - zu deren Chronist Vigoleis dann im vorliegenden Buch wird.


    "Die Insel des zweiten Gesichts" ist - und hier liegt vielleicht eines der Geheimnisse ihrer relativen Unbekanntheit - 1953 vor der Gruppe 47 durchgefallen. Der unglaublich ausladende und sprachlich überbordende Stil wurde von den Kargheitspropheten um Hans-Werner Richter, die damals die Gruppe 47 offenbar bestimmten, nicht goutiert. Thelen, stets sensibel und überaus empfindlich, zog sich daraufhin wieder aus einem Land und seiner Kulturszene zurück, aus der ihn erst die Nazis vertrieben hatten und der er sich nur sehr zögerlich wieder zu öffnen begonnen hatte. Bis in die 80er Jahre lebte er in den Niederlanden und der Schweiz, wo er vor allem als Übersetzer tätig war. An den Erfolg seines Erstlings hat er mit den seltenen späteren Prosawerken nicht mehr anknüpfen können.


    Die Wucht, mit der der Leser auf über 900 Seiten mit minimalem Durchschuss konfrontiert wird, sucht in der Nachkriegsliteratur ihresgleichen. Verblüffend ist die Leichtigkeit, mit der Thelen trotz aller spürbaren und ausdrücklich immer wieder geäußerten Beleidigtheit seine Anekdoten präsentiert, mit welch unglaublich liebenswürdigem Augenzwinkern er von Begegnungen mit Touristen aus Nazideutschland, mit Flüchtlingen, Verbrechern und allen möglichen und unmöglichen anderen Gestalten berichtet, unter ihnen Berühmtheiten wie Robert von Ranke Graves und Harry Graf Keßler.


    Es gibt nichts Schlechtes über das Buch zu sagen, es ist außerordentlich gut geschrieben mit einem aktiven Wortschatz, der seinesgleichen sucht, es ist kurzweilig zu lesen, bei allem nervig kleinen Schriftbild (bei normalem Durchschuss wäre aber wohl irgendwann die Broschur auseinandergebrochen), es ist intelligent geschrieben, es ist menschlich, dabei nie weinerlich. Lest Thelen!


    *

    T.C. Boyle, Riven Rock - Das ist ein Roman über Catherine Dexter McCormick, eine historische Figur und frühe Frauenrechtlerin.


    Heinrich von Kleist, Penthesilea - das Drama über die Amazonenkönigin und Achill ist immer einen Blick wert.


    Jeffrey Eugenides, Middlesex - geht um ein geschlechtlich nicht klar zuzuordnendes Individuum, das entsprechend kultureller Vorgaben eindeutig gemacht wird, damit aber alles andere als glücklich ist.


    Villiers de L'Isle-Adam, L'Eve Future - ein interessanter männlicher, aber ziemlich machistischer Blick auf "das Wesen der Frauen".

    EDIT Ich bin blind


    Grundsätzliches gibt es immer von Judith Butler, etwa "Das Unbehagen der Geschlechter" oder "Körper von Gewicht", mein liebstes allerdings "Hass spricht".


    Das ist dekonstruktiver Feminismus. Es gibt dann auch den Differenzfeminismus, ein Klassiker ist Simone de Beauvoirs "Le deuxième sexe". Aber auf der Seite kenne ich mich weniger gut aus. Wichtig sind hier die Französinnen geblieben, etwa Luce Irigaray.


    Linguistisches von Luise Pusch, vor allem "Das Deutsche als Männersprache" und auch von Senta Trömel-Plötz.


    Einiges gibt es auch an Aufsatzsammlungen, Gudrun-Axeli Knapp, Carol Hagemann-White, Sabine Haack, um nur einige zu nennen.


    Literaturwissenschaftlich wichtig ist Elaine Showalter mit "A Literature of Their Own".


    Über tolle Romane denke ich gleich noch nach.


    Herzlich, Bartlebooth.