Es begann im Buchladen Teil 2
Es lassen sich hier nur 15000 Zeichen einstellen, deshalb die Teiling Teil 1 als Themenstart
Sie blätterte, las hier einige Zeilen, dort einen Absatz, setzte die Tasche und die Plastiktüten ab, las weiter, eine ganze Seite, eine weitere, der Stoff hatte sie gefangen. Warum? Sie wusste es! Einsamkeit, Sehnsüchte, unerfüllte Sehnsüchte! Trotzdem! Unbewusst vollzog ihre freie Hand das nach, was ihre Augen gerade aufnahmen, dem Gehirn meldeten, was dort in ihrem Kopf umgesetzt wurde.
Langsam schob sich ihre Hand unter den geöffneten Mantel, berührte mit den Fingerspitzen den Rippenbogen, schob sich langsam nach oben, der Daumen erreichte als erstes die Brust, schob sich weiter nach oben, über die Brust, vorsichtig folgte der Zeigefinger, erreichte fast..., wollte gerade...! Inga erschrak! Fast wäre es passiert! Hier im Buchladen! Mit hochrotem Kopf - war es die Erregung über die Gelesene oder die aufsteigende Scham? - blickte sie sich um. Fahrig! Hatte sie jemand beobachtet? Offensichtlich nicht! Oder doch? Dort hinten! Die Augen! Hatte sie die nicht heute schon einmal gesehen? Nein, die Augen blickten weder spöttisch noch abwertend. Hastig stellte sie das Buch zurück! Verständnisvoll und warm, das war die Botschaft, den die Augen abgesandt hatten. Wo waren sie jetzt geblieben? Hatte sie geträumt?
Kaffee! Darum war sie in den Laden gekommen. Hinter ihr der Lift. Die Tür geöffnet, der Pfeil nach oben! Kaffee! Inga sprang hinein, der Lift glitt nach oben. Kaffee! Wie konnte es passieren? So etwas? Ihr? Hastig bestellte sie einen Cappuccino, verschüttete beinahe einen Teil davon, als sie die Tasse mit Schwung auf die Platte, die vor den Fenstern als Tisch diente, beförderte. Kaffee! Sie erklomm den Barhocker, nahm die Tasse zwischen die beiden Unterarme, stützte sich auf der Platte ab und blickte nach unten auf die ungemütlich-neblige Straße. Auch die Weihnachtsillumination und das Gedudel der Weihnachtsmusik konnten ihre Stimmung nicht heben. Ein tiefer Schluck aus der Tasse! Wie konnte ihr das passieren? Ein wenig Verständnis und Wärme hatten seine Augen ausgestrahlt. Wo waren sie geblieben?
"Der Herr der Ringe!" Seite für Seite wurde durch seine Augen verschlungen. Wolf bemerkte nicht, dass er die ganze Zeit im Stehen las. Kein Mensch, kein anderer Kunde befand sich im Raum. Hinten, hinter dem Durchgang bewegt sich lautlos der Panoramalift auf und ab, eine Kundin stand davor, hatte, wie er, ein Buch ergriffen, las genauso wissbegierig, wie er. Aber jetzt, Er konnte es über den Rand seines Buches wahrnehmen, es war wie in einem Soft-Porno. Merkte sie eigentlich, was sie tat? Und vor allem, wo sie es tat? Jetzt blickte auch sie über den Rand ihres Buches in seine Richtung, Ein wenig erschrocken, verschämt. Wo hatte Er diese Augen schon einmal gesehen? Jetzt reagierte sie offensichtlich total erschrocken über das, was gerade passiert war. Nein, das ging ihn nichts an, es war nicht seine Sache. Er legte sein Buch ab, drehte sich um, ging langsam, Stufe für Stufe, die Treppe nach oben. Kaffee!
Oben, die Kaffeebar war leer. Fast leer. Nur dort am Fenster, hinter einer Säule mit Blick auf die Einkaufsstraße stellte gerade eine Dame ihre Tasse auf dem Tresen ab und nahm auf dem Hocker Platz. Wolf selbst zog es vor, an der Kaffeebar mit dem Rücken zur Straße Platz zu nehmen. Kaffee! Dazu die Zeitung: Ruhe! Politik, Regionales, Wirtschaft, Börsenkurse, Klatsch, Feuilleton, Sport, Autos, Immobilien, Reisen. Reisen? Waren nicht auch weiter vorne schon Anzeigen: Flüge in den Süden, Fahrten in den Schnee, alles zu den Festtagen und auch danach. Wie gerne würde er doch einmal in den Süden fliegen, aber Magdalena! Ihr Urlaub ging immer für Jugendferienlager drauf, oder für Transporte von Hilfsgütern in Krisengebiete. Er würde - wieder einmal - einen Versuch starten. Den einen oder anderen Reiseführer mitnehmen. Vielleicht würde sie sich doch einmal umstimmen lassen. Er zahlte seinen Kaffee und machte sich auf den Weg ins Tiefgeschoss - Reiselektüre.
Inga lenkte ihren Blick von der Straße weg auf die Cappuccinotasse, sah zu, wie der Zucker langsam in der Sahne versank! Auch nicht aufregender, als der Blick auf die Straße. Den nächsten Zug würde sie nun auch nicht mehr erreichen. Der Zug nach Hause, in das Schlafdorf, in dem sie vor fast dreißig Jahren gemeinsam mit Herrmann ein Haus gebaut hatte, das Dorf in dem die Kinder aufgewachsen waren, das Dorf, in dem sie die meiste Zeit ihres Lebens als Grüne Witwe verbracht hatte, aber auch das Dorf in dem sie jetzt sehr einsam war. Dreißig Jahre und jetzt die Einsamkeit, die Sehnsucht nach Zweisamkeit, die mit dem beruflichen Aufstieg, den Herrmann erreicht hatte, immer größer geworden war.
Zeit, gemeinsame Zeit, das was am wenigsten kostet, und trotzdem am kostbarsten ist, da war es, was Inga immer mehr vermisste. Herrmann, seine berufliche Position, die war ihm wichtig, dafür opferte er alles!
Ach ja, das Weihnachtsbuch, das Buch, das nach Weihnachten weitgehend ungelesen im heimischen Bücherregal verschwinden würde, hatte sie aus dem Panoramalift im Hinauffahren auch gesehen: Naturwunder in Deutschland, ein Bildband, Sie würde es gleich heute mitnehmen.
"Naturwunder in Deutschland", ein großes Plakat, viele kleinere Zettel mit dem Buchdeckel in der Größe des Buches, ein Ansichtsexemplar, deutlich schon in vielen Händen gewesen. "Ist ausverkauft, läuft wie verrückt, kommt übermorgen wieder rein", ruft ihr eine gestresste Verkäuferin - oder ist es eine Buchhändlerin - im Vorbeigehen hastig zu. "Übermorgen, Freitag, das geht nicht, Samstag auch nicht", überlegt INGA. "Also, Montag extra fahren! Und wenn es dann wieder vergriffen ist? Also, besser gleich: Vorbestellen!" Inga greift nach einem der Zettel und macht sich auf den Weg ins Tiefgeschoss: Abteilung Abholungen, Vorbestellungen.
"Nein, vorab bezahlen brauchen Sie nicht. Schreiben Sie bitte Ihren Namen auf diesen Bestellzettel, ich lege Ihnen das Buch zurück, eine Woche!" Die Verkäuferin versucht ihren Stress zu verbergen. "Dann reicht es, wenn ich das Buch nächsten Mittwoch um die gleiche Zeit, so gegen drei abhole?"
Wolf steht vor dem Regal mit den Reiseführern. Wohin gleich nach den Feiertagen, wenn es garantiert in die Sonne gehen soll? Erschwinglich bleiben muss es auch. Ägypten? Kanaren? Marokko? Ein Wortfetzen dringt an sein Ohr, eine warme Stimme: "nächsten Mittwoch gegen drei..."
Sie! Das dritte Mal heute! Wolf drehte sich um, sie ging an ihm vorbei, langsamer, als wenn kein Interesse an ihm vorhanden wäre, sie blickte ihn an, länger, als wenn kein Interesse an ihm vorhanden wäre, an der Treppe drehte sie sich um, weiter, als wenn kein Interesse an ihm vorhanden wäre. Warum bewegte sie sich so langsam?
Warum hatte sie ihn so lange angeblickt? Warum hatte sie sich an der Treppe umgedreht? Ein wenig Stolz stieg im ihm auf. So eine attraktive Frau zeigte Interesse an ihm. So ganz war er wohl doch nicht abgeschrieben, so wie er es zu Hause immer dachte, wo die Gespräche sich nur um Magdalenas Arbeit in der sozialen Organisation drehten.
Er ging die Treppe hinauf, durch die Fußgängerzone, vorbei an vielen gesichtslosen Menschen, wurde hier und da von einem Gesicht ohne Gesicht gegrüßt, grüßte zurück, ohne wahrzunehmen, wen er grüßte, strebte zu seinem Auto, fuhr Richtung Stadtrand, in dem grieseligen Licht, das, obwohl Dezember, so sehr an Novembergrau erinnerte.
Den Weg zu dem Haus, der Wohnung machte er mechanisch, ohne nachzudenken. Vor zwanzig Jahren waren sie hierher gezogen, und als die Kinder ausgezogen waren, hatten sie die Wohnung behalten. Gewohnheit. Er stellte das Auto dort ab, wo er es immer abstellte, ging die Treppe hinauf, scheinbar wie immer, erwartete - wie immer – Magdalenas Begrüßung. Sie würde - wie immer – von sozialem Leid anderer berichten und davon, wie sie und die Organisation, in der sie ihr ganzes Leben gearbeitet hatte, dazu beitrugen, dieses Leid zu lindern.
Nicht, dass er keine soziale Einstellung hätte, aber die Art, wie sie ihr ganzes Leben – auch ihr Privatleben - auf diese Organisation ausgerichtet hatte, es hatte ihn mutlos gemacht. Heute hörte er wieder: Weihnachtsbasar, Erdbebenhilfe...
Er fand es schade, dass er so abgestumpft war, sein Interesse an diesen Fragen verloren hatte.
Während Wolf Magdalena beim Bereitstellen des Abendessens half, gingen seine Gedanken zurück an den Nachmittag. Drei- nein viermal hatten sich ihre Wege gekreuzt: Beim Schaufenster, als sie beide ihre Blicke mit einer gewissen Begehrlichkeit auf die ausgestellten Gegenstände gerichtet hatten; im Buchladen, am Regal mit den Liebesromanen, als sie... Ein wenig schmunzeln musste er schon –Sie war offensichtlich so sehr in das Buch eingetaucht, dass sie alles um sich herum vergessen hatte. Dann im Cafe. Sie hatten nebeneinander gesessen und sich nicht wahrgenommen. Und als letztes: Warum hatte sie ihn so lange angesehen, warum war sie so langsam an ihm vorbei gegangen und warum hatte sie sich an der Treppe noch einmal umgesehen?
Langsam stieg ein Wunsch in ihm auf, ein Wunsch, der sich nicht erfüllen lassen würde! Wenn sie – das war wohl deutlich – so viel Interesse aneinander hatten, dann wäre doch wohl ein Gespräch über die Situation sinnvoll, würde für ihn die Gelegenheit eröffnen, einige Schritte aus der grauen Tristesse seines Lebens hinauszugehen, Gespräche zu führen, die mit Magdalena unmöglich geworden waren. Wenn dann mehr daraus werden würde? Wer weiß? Dann müsste man abwägen!
Wolf merkte, wie seine Gedanken wieder einmal galoppiert waren. Er wusste nichts von ihr! Wie sollte er sie finden? Die Gelegenheit war vertan! „Hörst du mir überhaupt zu?“ Magdalenas Ton waren sehr unwirsch. „Ich hatte gefragt, ob du schon eine Idee für ein Weihnachtsgeschenk hast?“ „Nein, äh“, er suchte verdattert nach einer Rechtfertigung. „Nächsten Mittwoch Nachmittag nehme ich frei.“
Sein Gesicht hellte sich auf. Das war es! Nächsten Mittwoch würde er sich „gegen drei“ im Buchladen aufhalten, ganz zufällig, versteht sich und dann würde er sehen: Wenn bei ihr Interesse an ihm sein sollte, würde sich schon ein Gesprächsanlass ergeben. Magdalena formulierte ihren Wunsch, hatte er ihn wahrgenommen?
„Nächsten Mittwoch gegen drei“, Inga drehte sich um, wollte den Laden raschen Schritts verlassen. Doch jetzt! Er! Wieder Er! Inga überlegte nicht, ob er ihr vielleicht nachstellte. Er! Sein warmes Lächeln, seine dunklen Augen! Warum sagte er nichts? Warum konnte sie nichts sagen? Sie bemerkte, wie sie ihn ansah, länger als man es im Vorbeigehen, en passant tut. Sie bemerkte, wie sich ihre Schritte verlangsamten. An der Treppe drehte sie sich noch einmal um, wollte sich die Bestätigung abholen: Ich werde noch beachtet!
Lächelnd erklomm sie die Stufen ins Erdgeschoss, trat hinaus in den grieseligen November-Vorweihnachtsabend. Der Vieruhrzug war lange weg. Sie musste eilen, um den Fünfuhrzug noch zu erreichen. Sie hastete durch das Gedudel der Weihnachtslieder, die in vielfältiger Form an ihr Ohr drangen, querte den Bahnhofsvorplatz mit seinen Buden - Wiener Mandeln, Schmalzkuchen, Bratwurst, Kartoffelpuffer und natürlich Glühwein, stürzte die Treppe zum Bahnsteig hinauf, konnte im letzten Moment noch in den Zug springen. Ein Sitzplatz war noch frei!
Inga schloss einen Moment die Augen: Eine kappe Stunde Fahrt mit dem Zug, dann zehn Minuten mit dem Zweitwagen, dann hätte sie das Haus erreicht. Das Haus, das sie vor mehr als dreißig Jahren gebaut hatten, nahe an der Stelle, an der Herrmann ihr damals den Verlobungsring gegeben hatte, das Haus, in dem ihre Kinder aufgewachsen waren, das Haus, in dem sie jetzt so viele einsame Tage und Stunden verbrachte. Umso einsamer, je größer Herrmanns beruflicher Erfolg geworden war.
Dann ertappte sie sich: Ihre Gedanken waren bei dem Nachmittag: Drei-, nein viermal hatten sich ihre Wege gekreuzt: Beim Schaufenster, im Buchladen, am Regal mit den Liebesromanen, als sie ... Es war ihr doch ein wenig peinlich gewesen, aber sie war so tief in die Geschichte eingetaucht, sie hatte alles um sich herum vergessen. Und er hatte sich wirklich sehr diskret verhalten. Dann im Kaffee. Sie hatten nebeneinander gesessen, in zwei verschiedenen Fensternischen, sich nicht wahrgenommen. Und als letztes: Diese dunklen Augen, dieses warme Lächeln.
Ein Wunsch stieg in ihr auf, ein Wunsch, der sich nicht erfüllen lassen würde! Warum hatte keiner von beiden das Gespräch gesucht. Am Regal mit den Reiseführern wäre doch wohl Gelegenheit gewesen. Zwangloses Gespräch! Über alles was einen so bedrückte. Anders, als mit einer Frau! Wenn dann mehr daraus werden würde? Wer weiß? Dann müsste man abwägen!
Inga bemerkte, wie sie geträumt hatte. “Müssen Sie hier nicht auch aussteigen?“ Eine Nachbarin. Man munkelte, dass sie ihren Führerschein wegen der Einsamkeit zu tief in den Alkohol getaucht hatte. Sie wollte sicher mitgenommen werden. So ist das eben hier draußen.
Inga stellte den Wagen in der Garage ab, betrat das leere Haus. Wären da nicht die dreißig Jahre Erinnerung, INGA hätte jedes Mal das Gefühl, in ein Geisterhaus zu kommen. Sie verstaute ihre Einkäufe und bereitete hastig das Abendessen. Warum eigentlich hastig? Sie hatte sich doch nichts vorzuwerfen! Oder?
Gleich würde Herrmann nach Hause kommen, seine schwarze Dienstlimousine mit heulendem Motor unter dem Carport abstellen, mit wehendem Mantel ins Haus stürzen, ihr einen flüchtigen, nein eigentlich einen oberflächlichen Kuss geben, die Zeitung schnappen und in seinem Sessel versinken. Danach würde er das Abendessen viel zu hastig verschlingen, gleich ob sie es mit viel Liebe und Zeit oder so oberflächlich zu bereitet hatte, wie er ihr den Kuss gab. Dann acht Uhr: Köpke ruft, würde er in Anlehnung an die ersten Fernsehjahre sagen und vor dem Fernseher verschwinden. Später würde sie dann das Programm aussuchen, bis auf Sonntag! Tatort! Der einzige Abend, an dem Herrmann garantiert nicht vor dem Fernseher einschlief!
WiSO: Arbeitslosenzahlen, Versicherungsprämien, alles das, worum Inga sich keine Sorgen machen musste, nicht mehr. Herrmann schlief. Der Preis für den beruflichen Erfolg. Inga träumte wieder. Diese Augen, dieses Lächeln! Warum hatten sie die Chance für ein Gespräch vertan? Sie wusste nichts von ihm! Wie sollte sie ihn finden? Die Gelegenheit war dahin!
„Das soll es für heute gewesen sein, nächsten Mittwoch um die gleiche Zeit... die Kollegen vom... Funk“. Das war es!!!! Nächsten Mittwoch würde sie „gegen drei“ das Buch für Herrmann im Buchladen abholen. Wenn bei ihm, dem Fremden Interesse an ihr sein sollte, dann würde er kommen. Dann würde man weiter sehen!
[I]OK So weit der 2. Teil! Wenn Bedarf am 3. und 4. Teil besteht -Höchstzahl je Beitrag 15000 Zeichen - gern[/I]