Detlev Meyer: Das Sonnenkind

  • Detlev Meyer: Das Sonnenkind

    Aufbau Verlag 2018. 232 Seiten

    (Erstausgabe 2001. ISBN 978-3-351-02900-5)

    ISBN-10: 335103718X

    ISBN-13: 978-3351037185. 20€


    Verlagstext

    Dieser kleine Roman über die Kindheit und das Glück schildert den Kosmos eines neunjährigen Jungen um das Jahr 1960. Carsten Scholze, das Alter ego des Autors, ist ein aufgewecktes Kind mit ausgeprägtem schauspielerischem Talent, das bei den Nachbarn vom Truseweg bis zum Neuköllner Schiffahrtskanal gleichermaßen beliebt ist - ein "Sonnenkind" eben. Gehätschelt von den Eltern, von Großmutter und Tanten und selbst vom großen Bruder, ist seine wichtigste Bezugsperson der Großvater Max Wollin. Der alternde Lebemann, der in seiner ehemaligen Sekretärin, einer "ramponierten Blondine", seit mehr als dreißig Jahren eine offizielle Zweitgattin hat, nimmt den Enkel mit auf seine Ausflüge in die feine Welt des Café Kranzler.

    Mit den Augen des Jungen erleben wir traurige und komische Schicksale, die zeigen, daß das Leben im Truseweg die ganze Spannweite menschlicher Erfahrung ausmißt. In der kleinen Welt dieses Sträßchens wird geliebt, gehaßt und gestorben - genau wie in der großen. Detlev Meyer hat ein federleichtes Buch geschrieben, bezaubernd und wehmütig, wie nur er es konnte. In seinen letzten Lebensmonaten hat er sich an das Kind erinnert, das er einmal war, um der intensivsten Momente des Glücks und der Geborgenheit zu gedenken. So ist "Das Sonnenkind" ein rührender Abgesang auf das Leben: Ohne daß auf den nahen Tod des Autors Bezug genommen wird, spürt der Leser, daß dieser heiter-melancholische Text für Meyer das war, was für den alten Max Wollin die letzte Liebesnacht mit seiner "zweiten Gattin" ist - seine Abschiedsvorstellung.


    Der Autor

    Detlev Meyer wurde am 12. Februar 1948 in Berlin geboren, studierte Bibliotheks- und Informationswissenschaften in Berlin und Cleveland, Ohio; war Bibliothekar in Toronto und Entwicklungshelfer in Jamaika. Er lebte als freier Journalist und Autor in Berlin, wo er am 30. 10. 1999 starb. Meyer war PEN-Mitglied und erhielt zahlreiche Literaturstipendien. Werke (Auswahl): „Im Dampfbad greift nach mir ein Engel“ (Roman, 1985); „David steigt aufs Riesenrad“ (Roman, 1987); „Ein letzter Dank den Leichtathleten“ (Roman, 1989); „Biographie der Bestürzung“ (Drei Romane in einem Band, 1997); „Stehen Männer an den Grachten“ (Gedichte, 1990); „Heiße Herzen (zus. mit Ralf König, 1990); „In meiner Seele ist schon Herbst. Eine Gymnasiastenliebe“ (Roman, 1995); „Die PC-Hure und der Sultan“ (Geschichten, 1996).


    Inhalt

    Carsten Scholze wächst in den Jahren des Wirtschaftwunders mit einem älteren Bruder behütet in Berlin-Neukölln auf. Seine Großeltern leben im selben Mietshaus eine Etage höher; und der Junge hat ein enges Verhältnis zu seinem Großvater Max. Max und Else Wollin sind circa 1890 geboren; Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und die Zerstörung Berlins scheinen folgenlos an ihnen abgeperlt zu sein. Großmutter Else wirkt noch fest in der Kaiserzeit verwurzelt mit ihrem Anspruch etwas Besseres zu sein. Zwischen Großvater und Schwiegersohn schwelen jedoch Konflikte aus der Kriegszeit weiter. Max war „PG“, Georg als Teil einer besiegten Armee hat sich seiner Ansicht nach als standesgemäßer Schwiegersohn disqualifiziert. Das Reich zerfiel, Hausmädchen finden Damen wie Else in den 60ern längst nicht mehr, die Illusion einer besseren Gegend hat sie sich dennoch im Truseweg erhalten können.


    Max hält sich seit Jahrzehnten offen eine Geliebte, ein inoffizielles Druckmittel gegenüber seiner Frau; denn deren Launenhaftigkeit und Hypochondrie wiegen aus seiner Sicht schwerer als seine Untreue. Der Großvater pflegt sein Image als Dandy, belehrt Carsten, dass ein Herr das Haus nicht ohne Hut verlässt, das ganze Jahr über lange Unterhosen trägt, dazu natürlich Kniestrümpfe statt Socken. Carsten genießt diese fremde Welt. Er umrundet höchst diplomatisch die Familienkonflikte zwischen der Beletage und der Erdgeschosswohnung, ein kluges Kind, das sich seiner Intelligenz bewusst ist und sich außerhalb der Familie damit keine Freunde macht. Besonders aufmerksam folgt der Junge der gestelzten Sprache der Großeltern, die den Kontrast zwischen Schein und Sein im Hause Wollin treffend abbildet. Was ein Filou ist, eine Posamentierhandlung oder der Rock eines Mannes, muss ein Neunjähriger erst mit einem Bild verbinden. Da sein Bruder Stephan einige Jahre älter ist, gelangen Backfische, Mädchen, Petticoats und Rock’n’Roll frühzeitig in Carstens Leben. Als der Großvater an Darmkrebs erkrankt, nimmt die Idylle ein jähes Ende.


    Fazit

    Wie unter einem Brennglas zeigt Detlev Meyer die behütete Jugend eines Gleichaltrigen im Berlin der 60er. Im Mittelpunkt stehen Carsten und sein Großvater. Carstens Eltern spielen eine Nebenrolle, obwohl Vater Georg seinen Söhnen gegenüber deutliche Ansichten vertritt - in der Erdgeschosswohnung. Als literaturhistorisches und zeitgeschichtliches Dokument ist Meyers Roman durchaus interessant; das Erscheinen des Textes 2001 erlebte der Autor nicht mehr mit. Als Unterhaltungsroman spricht mich das „Das Sonnenkind“ abgesehen vom kaiserzeitlichen Vokabular der Großeltern nicht an. Das Frauen- und Männerbild wirkt trotz trauter Dreisamkeit mit Max‘ Geliebter für die 60er antiquiert, die Sexszenen zwischen Jugendlichen wie Altmännerphantasien. Weniger wäre hier mehr gewesen. Die ungewöhnliche Offenheit, mit der quer über die drei Generationen schon über Sex und die Darmkrebserkrankung des Großvaters gesprochen wird, scheint mir für die Zeit untypisch und eher eine Wunschvorstellung des von der eigenen Krankheit gezeichneten Autors zu sein.


    5 von 10 Punkten


  • Das Sonnenkind wurde von Detlev Meyer wenige Monate vor seinem Tod geschrieben. Er starb 1999. Der Roman wurde nach seinem Tod veröffentlicht und jetzt zu seinem 70. Geburtstag neu aufgelegt, mit einem Nachwort von Matthias Frings.

    Der kleine Roman ist wohl eine Erinnerung an seine eigene Kindheit. Er spielt 1960 in Neukölln und wird von der Sicht des 9jährigen Carsten erzählt. Er ist ein zartes, aufgewecktes und etwas verwöhntes Kind. Der Roman ist ein Portrait der Zeit und eine Hommage an die Kindheit. Ich sehe den kleinen Carsten, wie er mit seinem Großvater Max im Kranzler sitzt, jeder mit seinem Cognacschwenker in der Hand.

    Dieser Roman ist ein wahres Kleinod. Ich freue mich, das ich diesen Autor endlich kennen gelernt habe.

    Matthias Frings Nachwort trägt den passenden Titel „Das Sonnenkind tanzt jetzt auf den Sternen“ und in dem wird das Leben und Sterben Detlev Meyers gewürdigt.

    8 von 10 Punkte

  • Der neunjährige Carsten Wollin erlebt einen Sommer im Nachkriegsberlin der 1960er Jahre und begleitet seinen Großvater gern auf dessen Besuchen im Café Kranzler. Der alte Wollin ist ein Charmeur der alten Schule und wickelt alle um den Finger, die mit ihm zu tun haben - nicht zuletzt seine Ehefrau und seine Geliebte, die sich den Schwerenöter zähneknirschend teilen, was bleibt ihnen auch anderes übrig. Carsten bewegt sich als geliebtes „Sonnenkind“ innerhalb dieser Familie, lässt sich verwöhnen und versucht allen zu gefallen. Mit seinem Bruder Stephan gründet er einen Jungs-Club und trifft Freunde, gerne wäre er ein wenig verwegener und wilder, kann aber nicht aus seiner Haut und bleibt Everybodys Darling. Nichts trübt diese glückliche Kindheit, bis der Großvater plötzlich eine niederschmetternde Diagnose erhält...



    Meine Meinung:


    „Das Sonnenkind“ ist in der Originalausgabe 2001 erschienen und wurde nun vom Aufbau-Verlag neu herausgegeben, in einer wunderbar hochwertigen Ausstattung - eine kleine Buchperle im Regal. Detlev Meyer hat den Roman bereits im Wissen um seinen bevorstehenden Tod angesichts einer Immuninfektion geschrieben und damit Rückschau auf seine Kindheit gehalten.


    Auch wenn die Erzählung auf den kleinen Carsten fokussiert ist, kommen doch die Perspektiven all der anderen Figuren ebenfalls zum Tragen, die wohl den Menschen in Meyers Kindheit ähnlich waren. Wir bewegen uns in einem sehr bürgerlichen Umfeld in Neukölln, in dem jeder versucht, so gut wie möglich vor den Nachbarn dazustehen, dunke Geheimnisse verschwiegen und gerne französische Begriffe verwendet werden, um die Vornehmheit der Familie zu unterstreichen. Die Doppelmoral des Großvaters, der noch dazu eine Nazi-Vergangenheit hat, das nicht bewältigte Kriegstrauma des Vaters, das hypochondrische Wesen der Großmutter, das alles wird zwar ganz schüchtern beschrieben, geht aber in dem augenzwinkernden Humor unter, der sich durch die ganze Geschichte zieht. Und schnell wird klar, es geht nicht darum, irgendetwas aufzuarbeiten; Detlev Meyer gönnte sich und den Lesern einen wehmütigen und verklärenden Blick zurück in die Vergangenheit, in die Tage seiner eigenen Kindheit.


    Besonders gut gefallen hat mir dabei, dass mehrere Generationen beleuchtet werden und jeweils deren ganz spezielle Lebenssituationen geschildert werden. Daher ist es ein bunter Mix an Themen, die durch die Familienverbindung untereinander verknüpft sind und die als Ganzes betrachtet die Phasen eines ganzen Lebens darstellen. So vertritt Carsten die Kindheit und deren spezielle Denkart, während sein Bruder Stephan an der Schwelle des Erwachsenwerdens steht und seine erste Liebe erlebt; die Generation der Eltern kämpft mit Altlasten und dem täglichen Leben, während der Großvater seinen letzten Lebensabschnitt auf seine eigene Art und Weise genießt. Er ist auch derjenige, der am Ende mit Siechtum und Tod konfrontiert wird. Durch dieses Konstrukt konnte der Autor sein eigenes Erleben auf verschiedene Figuren projezieren und sein Leben Revue passieren lassen.


    Der heitere Ton, der die ganze Handlung bis zum Ende durchzieht, macht das Lesen zum Vergnügen, nimmt so manchem bitteren Moment seine Schärfe. Detlev Meyer verzichtete auf Anführungszeichen in der wörtlichen Rede, was sich für mich zunächst etwas seltsam anfühlte beim Lesen. Mit der Zeit bin ich aber sehr gut mit dem Stil zurecht gekommen und wusste den Lesefluss zu schätzen, der sich durch diese Schreibweise zunehmend einstellte. Die Sprache selbst ist elegant und treffsicher, ohne übertriebene Verschnörkelung, was ich als sehr angenehm empfand. Ein Nachwort von Matthias Frings rundet die Geschichte ab und gewährt einen Blick in das literarische Schaffen des Autors.


    Mein Fazit:


    Dieses kleine, aber feine Werk jenseits vom Mainstream dürfte vor allem LeserInnen gefallen, die weniger handlungsorientiert lesen, sondern mehr Wert auf die tiefgründige Ausarbeitung der Figuren und einen feingeistigen Sprachstil legen. Wer sich für den Zeitgeist der 1960er im bürgerlichen Berlin der Nachkriegsjahre interessiert und überhaupt mit der Berliner Literaturszene vertraut ist, wird ebenfalls seine Freude daran haben. Ich hatte den Lesegenuss vor allem durch den heiter-melancholischen Ton, der „Das Sonnenkind“ zu einem emotionalen Leseerlebnis werden lässt.

  • Detlev Meyer nimmt uns mit ins Berlin der 60er Jahre. Die Familie des kleinen Carsten ist eigentlich nichts besonderes, Opa und Oma leben im gleichen Haus, Opa hat seit Jahren eine Geliebte, jeder weiss es, meist wird es ignoriert. Carstens Eltern leben ihren Alltag, die Erlebnisse des Vaters im Krieg lassen ihn nie so richtig los. Und Stephan, der große Bruder ist ein richtiger Halbstarker, 17 Jahre alt, der gerade seine ersten Schritte in der Welt der Erwachsenen macht und doch den kleinen Bruder auch mal mitnimmt. Und Carsten ist tatsächlich ein Sonnenkind, sehr aufgeweckt, wissbegierig und manchmal auch ein bisschen arrogant und altklug.

    Es ist das Frühjahr 1960 und Carsten fiebert auf seinen 10 Geburtstag hin, der allerdings erst im nächsten Jahr stattfinden wird. Die Stadt ist noch nicht geteilt, Ost und West vermischen sich noch, und doch sieht man die Unterschiede, besonders Sonntags, wenn die aus dem Osten sich am Kudamm die Nasen platt drücken. Wahrgenommen wird die Teilung der Stadt aber scheinbar nicht wirklich, zumindest ist es nur selten ein Thema.

    Für Carsten dreht sich eh alles um die Familie und die Nachbarn aus dem Truseweg. Das ist seine kleine Welt, aus der er zumindest vorerst noch nicht ausbrechen will.

    Bis bei seinem Opa Krebs diagnostiziert wird und sich die kleine Welt plötzlich drastisch verändert.


    Mir hat dieses Buch sehr gut gefallen, es ist ein leiser Schreibstil, ein bisschen hat man das Gefühl in eine heile Welt geraten zu sein. So wie man sich das Leben damals vorstellt.

    Detlev Meyer hat mit diesem Buch wohl einen Teil seiner Kindheit erzählt, kurz bevor er selbst verstarb.


    Mir hat dieses kleine Kammerstück viel Spaß gemacht, von daher eine volle Leseempfehlung.


    9 von 10 Punkte