Frühlingsabend

  • Ich könnte doch Dein Nischenfreund sein.


    Es war der erste richtige Frühlingstag in der Stadt gewesen, die Nacht klirrend kalt und klar, aber schon morgens war der Himmel so blau und die Vögel verhielten sich, wie das nur zu dieser Jahreszeit der Fall sein konnte. Die Sonne erwärmte bis mittags alles von minus eins auf zwanzig Grad. In den Straßencafés und Restaurants blinzelten sich die Menschen hinter ihren Sonnenbrillen an, mit bleichen Gesichtern und mit über Stühlen verteilten, dunklen Winterjacken, die fehl am Platz wirkten, wie Ascheflecken auf einem buntem Bild, aber man konnte ja schließlich nie wissen. In der Luft hing der unausweichliche Klang von Aperol Spritz in Gläsern. „Halt die Fresse, Du Fotze“, schrie unten irgendwo jemand, dann ein kurzer Pfiff. Schließlich Gelächter, dann beißende Stille, bis der Aperol wieder alles übertönte.


    Ich sah auf die große Linde im Hof, noch kahl, aber erste Knospen trieben schon an. Noch zwei Tage Sonne und dann ein bisschen Regen, und die würden so schnell austreiben, als wäre das ihre einzige Bestimmung im Kreislauf des ewigen Lebens. Was anscheinend auch stimmte. Im Geäst führten seit Stunden zwei große Tauben flatternd und gurrend Konversation. Die machen einfach, dachte ich. Die reden nicht, die machen. Weil die das auch müssen, das mit dem Machen. Würden die nicht einfach machen, hätte das weitreichende Folgen.


    Marc stand auf dem Balkon, ich saß im Zimmer davor auf einem Stuhl ihm zugewandt, weil wenn eine Person auf dem Balkon stand, dann war dieser voll. „Französischer Balkon, très chick, nannte das die Maklerin damals. Er zog an seiner Zigarette und beobachtete die Linde in ihrem Dasein. Nischenfreund. Das ausgesprochene Wort schwebte immer noch in der Luft und hing zwischen uns wie der Rauch seiner Zigarette in einer seit drei Monaten nicht gelüfteten, fensterlosen Kellerkneipe. Es kräuselte sich und bildete kleine Wölkchen.

    Nischenfreund. Ich atmete den Begriff passiv ein, schmeckte ihn auf der Zunge und inhalierte, bis ich ihn schließlich wieder in die Luft entließ.

    Die Tauben flatterten nun noch aufgeregter herum, gurrten immer lauter und schließlich ließ sich eine von ihnen schimpfend fallen und flog davon, während die andere sich gurrend aufplusterte. „Blöde Viecher“, sagte Marc. Schlaue Vögel, dachte ich. Ich kaute weiter auf dem Nischenfreund herum und zerlegte ihn in seine Einzelteile. Was sollte das überhaupt sein?


    Ich dachte an Silberfischchen, diese komischen, kleinen, grauschwarzen Wesen mit den überproportional langen Fühlern am Kopf, von denen ich keine Ahnung hatte, was genau das eigentlich für Tiere waren. Oder Spinnen, Insekten? Für was waren die gut, welche Bestimmung wurde ihnen zuteil, standen die in irgendeiner Nahrungskette am oberen oder am unteren Ende? Vielleicht war solch ein Silberfischchen sogar das Rinderfilet einer gemeinen Kellerassel? Oder ein Knäckebrot ohne Butter und Belag für eine Amsel? Zuletzt war mir eins dieser unergründlichen Geschöpfe begegnet, ich betrachtete nach einer durchzechten Clubnacht mittags im Spiegel die Linien und Falten unter meinen Augen, die sich langsam häuslich eingerichtet hatten in meinem Gesicht und wie selbstverständlich dazugehörten, während sie vor noch nicht allzu langer Zeit noch Gäste auf der Durchfahrt gewesen waren. Das Fischchen huschte wie aus dem Nichts auftauchend in eine Ritze hinter des Fliesenvorsprunges, als kenne es alle geheimen, nie entdeckten Gänge meines Badezimmers in- und auswendig. Backstage All Areas. Vorher schien es in meine Richtung zu blicken und „ich weiß mehr als Du“ zu rufen, mit seinen allwissenden Fühlern am Ende seines feingliedrigen Körpers.


    Nischenfreund. Marc schnippte seine Kippe vom Balkon. Das Blond seiner Haare leuchtete in der Abendsonne noch mehr als sonst, ein Lichtstrahl verfing sich in einer seiner Locken und drehte Pirouetten. „Pass doch auf, Du Penner“. Von unten. Stille, Vögel. Im Fernsehen entblößte gerade eine Frau ihre Brüste, warum, das weiß ich nicht mehr.


    In welche dunkle Nische meines Badezimmers würde schon jemand wirklich gut hineinpassen? Welche Wesen hausten in den Nischen meiner Küchenkammer, in den Ritzen meines Dielenbodens, in den Fugen auf dem Dachboden unter Staub und Spinnenweben?


    „Was ist jetzt?“ Marc drehte sich wütend um und sah mir direkt in die Augen, die Wucht seiner Bewegung ließ mich mit dem Stuhl fast nach hinten kippen. Ich sprang auf und hielt mich am Geländer fest, Marc hinter mir. Französischer Balkon. Es wurde langsam kalt, die Sonne ging unter, neben der aufgeplusterten Taube näherte sich die zweite wieder an. Die Luft schmeckte nach Rauch aus den Kleingartenkolonien am Stadtrand, Knoblauch mit Basilikum und Olivenöl, Abgasen und Dosenbier. Buona sera, schöne Signora, säuselte es aus dem italienischen Lokal von unten.


    Ich musste lachen. „Meine Güte, Du bist doch kein Silberfischchen“, sagte ich. „Komm, wir gehen was trinken. Hab' Bock auf Aperol Spritz.“

    Ailton nicht dick, Ailton schießt Tor. Wenn Ailton Tor, dann dick egal.



    Grüße, Das Rienchen ;-)

    Dieser Beitrag wurde bereits 2 Mal editiert, zuletzt von rienchen () aus folgendem Grund: Nochmal drüber gefeilt, heieiei

  • :thumbup: Hübscher Text! Regt zum Nachdenken darüber an, wie sich manche Leute selber definieren und wie anders Selbstbezeichnungen beim Gegenüber ankommen können.


    Ich lebe auch schon lange mit Silberfischchen - nicht nur im Bad. Sie knabbern lästiger Weise auch meine Tapeten, Bilder und Bücher an.

    Sie werden auch Zuckergast genannt - was ich bezogen auf Deine Geschichte so deuten würde, dass Dein Marc nur das Süße dieser Beziehung möchte und alle weitergehenden Ansprüche unwirsch ablehnt. Warum wird er sonst so wütend? :gruebel

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend Siegfried Lenz: Der Verlust

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