Treue - Hernan Diaz

  • Treue von Hernan Diaz erzählt die Geschichte eines Wallstreet Tycoons, vielleicht einem der reichsten Geschäftsleute der 20er und 30er-Jahre, und seiner Frau, von seinem Aufstieg bis zum großen Börsencrash von 1929 und darüber hinaus. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis macht schnell deutlich, dass wir es hier strukturell nicht mit einem normalen Roman zu tun haben. Das Buch hat vier Teile und jeder Teil ist von einem anderen Autoren geschrieben. Das Buch gibt also vor, eigentlich ein Sammelband vier komplett eigenständiger Bücher von vier unterschiedlichen Autoren zu sein. Nicht nur die Erzählperspektiven wechseln also, sondern auch die Stile und die literarischen Genres. Es ist wie eine Reise durch die literarischen Stile des 19ten und 20ten Jahrhunderts.


    Ich habe das Buch im englischsprachigen Original gelesen und an den Titeln merkt man die vielleicht etwas holzschnittartige Symbolik. Grundthema dieses Romans ist Geld. Der erste Teil heißt Bonds, der letzte Futures. Beides Begriffe aus der Wirtschaft, aber eben auch auf die Beziehungsmuster anwendbar. Bonds, Verbindungen, erzählt natürlich über die Verbindung der Eheleute. Entsprechend geht bei der Übersetzung des Titels dieses Romans Trust in Treue auch etwas verloren. Vertrauen hätte inhaltlich besser gepasst, weil es vor allem um das Vertrauen in Geschichten geht.


    In Bonds erfahren wir die Geschichte von Benjamin und Helen Rask, erzählt in einem etwas altmodischen Stil. Der Text hätte auch im 19ten Jahrhundert geschrieben worden sein und der Stil erinnert an Henry James. Benjamin wird in eine bereits reiche Familie geboren, die ihren Reichtum aus dem Geschäft mit Tabak erwirtschaftet hat. Er macht sich aber eigentlich nichts aus Tabak oder sonst irgendwas in seinem Leben, vor allem Menschen (er hasst zum Beispiel Tabak wegen der sozialen Bedeutung des Rauchens). Er ist ein echter Misanthrop. Sein einziger Lebensinhalt besteht eigentlich nur aus dem Erwirtschaften von immer mehr Geld und dem Ausüben von Macht auf andere Personen. Die Emotionslosigkeit von Benjamin mag den einen oder anderen Leser abschrecken. Es ist schwierig, sich mit ihm zu identifizieren, aber die Figur ist so psychologisch präzise beschrieben, dass zumindest ich fasziniert der Geschichte gefolgt bin. Mehr Farbe und Menschlichkeit bringt seine Frau Helen in diesen Text. Sie ist die Tochter von Aristokraten, sie versteht Benjamin, hat aber keine besondere Erwartungen an ihn. Tatsächlich erhofft sie sich Freiheit und Unabhängigkeit von dieser Beziehung. Sie weiß, dass er sie in Ruhe lassen wird und sie machen lässt und so widmet sie sich der Kunst, veranstaltet in ihrem Haus Lesungen und Konzerte, lernt Künstler kennen. Das Ehepaar wird zum sozialen Mittelpunkt des New Yorks dieser Zeit. Wer etwas auf sich hielt, verkehrte in diesem Haus entweder als Kunstliebhaber oder um sich im Dunstkreis von Benjamin Rask und seines Reichtums zu bewegen. Was mit Helen passiert möchte ich hier nicht direkt verraten, aber es wird Anlass von verschiedenen Interpretationen des Geschehenen, die in den nächsten Teilen durchgespielt werden.


    Ich mag die Intertextualität und die Finesse des Buches, die einem im zweiten Teil direkt entgegenschlägt. Der zweite Teil ist die Autobiographie eines gewissen Andrew Bevel, einem Wirtschaftstycoon, der mit Mildred verheiratet ist. Schnell wird klar, die Rasks und die Bevels sind dieselben Leute. Der erste Teil gibt vor, eine Fiktionalisierung der wirklichen Bevels zu sein. Und Andrew Bevel mag diesen Roman garnicht und fühlt sich falsch dargestellt. Man muss sich durch diesen Teil etwas durchkämpfen, denn er ist sehr selbstdarstellerisch. Man wird dann aber mit dem hervorragenden dritten Teil belohnt, der viel moderner erzählt ist und der das erzählerische Herzstück des Romanes darstellt. Erzählt wird aus der Perspektive von Andrews Bevels Sekretärin, die später eine erfolgreiche Schriftstellerin wird. Spätestens in diesem Teil beginnt man die clevere Mechanik des Buches zu verstehen. Die Perspektiven kippen hier zur weiblichen Perspektive, dem Leben der Sekretärin selber, aber eben auch von Mildred Bevel, der der Leser immer näherkommt und man merkt schließlich, dass hinter dieser männlich geprägten Wirtschaftsgeschichte die Frauenschicksale eine viel größere Rolle spielen als man zunächst denken könnte.


    Ein sehr raffinierter und gelungener Roman. Die Struktur ist insgesamt zwar experimentell, aber die einzelnen Teile für sich lesen sich sehr süffig. Auch sehr zu empfehlen all denen die Bücher lieben, in denen es um Bücher geht, ein ganz kleiner, vager Hauch von Carlos Ruiz Zafon, wenn dieser über die Wall Street statt über Barcelona geschrieben hätte. Ich möchte aber auch nicht verschweigen, dass der Roman manchmal sehr kühl und vielleicht zu perfekt in seiner Gestaltung wirken kann. Leider ist aber eben auch kein Roman, bei dem man kurz reinlesen kann, um einen richtigen Eindruck zu bekommen, weil der Roman sich in Stil und Inhalt einfach so sehr über die Länge des Roman verändert und immer wieder sich selbst neu erfindet.


    Der Roman steht auf der Longlist für den diesjährigen Booker Prize und eine HBO Serie ist in Planung mit Kate Winslet in einer Hauptrolle. Es ist der zweite Roman des Autors. Mit dem ersten IN DER FERNE war er für den Pulitzer Preis nominiert. Hernan Diaz wurde 1973 in Argentinien geboren, wuchs in Schweden auf, studierte in Buenos Aires und London und lebt heute in New York.


    ASIN/ISBN: B09ZXDT3SW

  • Ich komme gerade von einer Lesung mit Hernan Diaz im Literaturhaus München (tatsächlich war es eine Doppellesung mit Lauren Groff und ihrem Roman MATRIX).


    Einige interessante Infos zu dem Roman, insbesondere auch zu dem zweiten Teil, der ja aus der Perspektive dieses selbstherrlichen Macho-Tycoons geschrieben ist. Er meinte, dass er ja eigentlich Allegorien in Roman hassen würde, aber als er an dem Teil arbeitete, fielen ihm natürlich die Parallelen in der Politik der republikanischen Partei in den 1920ern und 2020ern auf. Auch damals gab es ja Steuersenkungen für Reiche, verstärkte Immigrationsgesetze für Italiener und Asiaten (Deutsche waren ok). Die Parallelen zu Trump, auch wenn er den Namen nicht nannte, waren offensichtlich.


    Diaz redete über keinen Teil mehr als diesen, vielleicht auch um sich zu rechtfertigen, denn er meinte er hasse diese Figur und dessen Stimme. Er hätte als Recherche für diesen Abschnitt Biographien von Hoover und anderen prominenten Männern der Zeit gelesen. Das hätte ihn über Wochen in eine negative Stimmung versetzt. Auch interessant da, dass es sich bei dem Teil ja quasi um unvollendete Memoiren handelt, Fragmenten nur, dass der Abschnitt ursprünglich viel länger war und dass ihm gute Freunde überzeugt hätten diesen doch lieber zu kürzen. Gute Idee, weil ich dachte beim Lesen auch wieviele Leser bei diesem Teil wohl aufgeben. Weil schön zu lesen, ist das nicht. Diaz wies aber auf die visuelle Komponente in diesem Teil hin: die Auslassungen. wie zum Beispiel das Kapitel "Apprenticeship" das nur aus der Kapitelüberschrift besteht, ohne Inhalt. Weil natürlich musste dieser Mensch nichts lernen, seine Genialität war angeboren.


    Es wurde aus allen vier Teilen vorgelesen. Aus der deutschen Übersetzung las Thomas Loibl, kongenial, Hernan Diaz war sichtlich begeistert und ergriffen. Jede Passage las er in einem eigenen Ton und den zweiten so treffend in diesen breitbeinig maskulinen Ton.


    Der dritte Teil aus der Sicht von Ida und wie die Moderatorin erwähnte die erste "likeable" Figur. Auch Diaz liebt diese Figur, ihren Ton, aber das wäre nicht sein natürlicher Schreibton, meinte er, auch er musste Idas Sound erst einmal lernen, und da fiel mir wieder auf, wie sehr aus schreibtechnischer Perspektive dieser Roman ein Roman der verschiedenen Stimmen ist. Man weiß eigentlich gar nicht wie sich die Originalschreibstimme von Diaz anhört, ob sie in diesem Roman überhaupt vorkommt.

  • Danke für deinen Bericht, Googol ! Die Aussagen von Diaz sind sehr interessant.


    Die unterschiedlichen Erzählstimmen des Romans fand ich sehr spannend, und Diaz passt sie m. E. wirklich perfekt an die jeweilige Figur an. Gerade bei den beiden von dir erwähnten Teilen – also dem von Bevel und dem von Ida – finde ich es großartig, wie Diaz diese beiden so gegensätzlichen Stimmen interagieren lässt.