Björn Kuhligk: Überall Nachbarn - Wie ich auf dem Mauerweg das alte West-Berlin umrundete

  • So viel(e) Geschichte(n)


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    Einhundertsechzig Kilometer war sie lang, die Mauer, die Berlin (West) 38 Jahre lang umgeben, eingeschlossen, zu West-Berlin gemacht hat. Heute, mehr als 30 Jahre nach ihrem Fall, sind hier und da nur noch einzelne Teile von ihr zu sehen, zumeist als Ausstellungsstücke, doch selten am ursprünglichen Standort. Aber man kann der Berliner Mauer immer noch folgen – auf dem sogenannten Mauerweg, einem Wander- und Radweg, der allerdings keine durchgehende Strecke bildet, sondern vor allem im Innenstadtbereich an normalen Straßen entlangführt. Sobald man jedoch an die Peripherie der Stadt kommt, ist es beinahe ein einziger Weg, meistens ganz autofrei, nur für Fußgänger und Fahrradfahrer. Wenn man sich auf ihm bewegt, hat man auf der einen Seite Berlin neben sich, und auf der anderen Brandenburg – damals nur schwer erreichbar für West-Berliner, aber andersherum war es unmöglich. Oder das ehemalige Ost-Berlin. „Berlin, Hauptstadt der DDR“, wie diejenigen gesagt haben, die an die Drei-Staaten-Theorie glaubten oder kein Risiko eingehen durften. Die haben den anderen Teil auch „Westberlin“ genannt. Ohne Bindestrich. Der war damals ein Politikum, wie heute das Gendersternchen.


    Der West-Berliner Schriftsteller Björn Kuhligk, in den Siebzigern geboren, hat sich im zweiten Coronajahr auf sein Fahrrad gesetzt und ist dem Mauerweg gefolgt, an insgesamt vier Tagen, an zweien im Hochsommer und zwei gegen Herbstende. Während dieser nicht nur einsamen Radtour hat er mehrere hundert Sprachnotizen mit seinem Telefon aufgenommen, die die Basis für dieses Buch bilden.


    Doch es geht in diesem Text längst nicht nur um einen Vergleich zwischen dem Jetzt und dem Früher, was den Zustand der Stadt anbetrifft, die sich tatsächlich sehr verändert hat, mehr als jede andere Stadt in Deutschland. Es geht um einen Vergleich der Gefühle, und es geht um ein Psychogramm dieser seltsamen Stadthälfte, in der zu leben ganz anders war als in jeder anderen Großstadt Westeuropas. Einer Stadt, in der an schönen Wochenenden im Sommer kein Parkplatz auch nur in der entfernteren Nähe des Strandbads Wannsee zu finden war, weil alle, einfach alle dorthin gingen, schlicht weil es fast keine Alternativen gab, und man irgendwann mittags den Strand vor lauter Menschen nicht mehr sehen konnte. Einer Stadt, aus der man kam, weil man aus der anderen Hälfte nicht kommen konnte, und dann wurde man trotzdem im von uns so genannten „Bundesgebiet“, in München oder Hamburg oder Essen gefragt, ob man aus West- oder aus Ostberlin wäre, wenn man sagte, man käme aus Berlin.


    Sehr einfühlsam und in einer ganz wunderbaren Konstruktion, die an keiner Stelle langweilig wird, führt Kuhligk um diese, seine Stadt herum, die übrigens auch meine ist und immer war, und während er davon erzählt, wie es sich anfühlt, auf diesem Weg unterwegs zu sein, während er Passanten interviewt und von den Stelen berichtet, den pfahlförmigen Aufstellern, die an die Mauertoten erinnern, dort, wo sie zu Teilungsopfern wurden, verbindet er das mit persönlicher Geschichte, mit dem Gefühl, das damit einherging, West-Berliner zu sein, was einerseits total cool war (zu einer Zeit, als „cool“ noch ausschließlich für lässige, emotional beherrschte Menschen stand), weil hier einfach viel passiert ist, und andererseits begrenzt, eingeschränkt, mit einer latenten, dumpfen Drohung verbunden, und mit Verzicht. Kuhligk erinnert an Menschen, Orte, Gefühle, Verhaltensweisen, Persönlichkeiten, Skandale, und er webt das kunstvoll in sein persönliches Erleben, wozu auch gehört, dass der Abstand zwischen Gegenwart und Vergangenheit mit Mauer inzwischen so groß ist, dass ihn viele, die heute erwachsen sind, nicht einmal mehr sehen können. An dieser Stelle – und damit an vielen Stellen – ist „Überall Nachbarn“ auch ein Text über das allmähliche, unvermeidliche Älterwerden.


    Und über viele andere Themen, von Migration über Rechtsextremismus bis zum Profifußball. Von Hanna-Renate Laurien, der für ihre Knurrigkeit berühmten ehemaligen Schulsenatorin, bis zu Hertha Fiedler, die in Kreuzberg die bundesweit bekannte Künstlerkneipe „Die kleine Weltlaterne“ führte, die schließlich in die Wilmersdorfer Nestorstraße wechselte, wo es sie heute noch gibt, unter Leitung von Herthas Sohn. Es reicht vom Tempelhofer Feld bis zum Flughafen Tegel, es geht von Kladow, wo man mit Bundesgebietstouristen hinfuhr, um ihnen die bis zum Horizont reichenden Felder zu zeigen, bis nach Buckow, dem überraschend grünen Südzipfel Neuköllns. „Überall Nachbarn“ ist eine doppelte Reise, und selbst für Einheimische eine interessante, klug erzählte, ungeheuer sympathische und sehr originelle. Das Buch vermittelt, wenn man so will, eine eigentümliche, punktuelle Westalgie, die kein Pendant zur verklärenden Ostalgie ist, sondern eine teilweise wohlige, teilweise aber auch ganz schaurige Form der Erinnerungskultur – und ein Resümee. Denn Berlin (West) war ohne Zweifel und in vielerlei Hinsicht ganz besonders. Kuhligk lenkt den Blick auf diese Besonderheit, zeigt, was daraus geworden ist. Und das macht er, um es auf den Punkt zu bringen, ganz, ganz großartig.


    ASIN/ISBN: 3814802659

  • Vielen, vielen Dank für diese wunderbare Buchvorstellung! Das ist ein Buch genau nach meinem Geschmack.

    Bereits seit vielen Jahren und ohne Corona-Blues fahre ich jedes Jahr im Frühjahr für ein paar Tage nach Berlin, laufe Stücke entlang des Mauerwegs ab und bin weit davon entfernt, alles gesehen zu haben. Angefangen hat die Idee mit der Sakura Campaign, mittlerweile beschränken sich meine Spaziergänge nicht mehr nur auf die über 10000 Zierkirschen und ich habe Berlin von einer völlig anderen Seite kennengelernt, und ja, ich kann durchaus bestätigen, dass Berlin sich in Ost und West immer noch unterschiedlich anfühlt.