'Auf Tiefe - See- und Küstengeschichten' - Der Apostat

  • Habt Ihr Euch in diesem Zusammenhang eigentich auch mal gefragt, wieviele Menschen es gibt, die ihren derzeitigen Job machen, obwohl sie den Glauben an die Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit verloren haben? Das ist doch auch nichts anderes.

    Ein Onkel von mir hat voller Begeisterung für ein Chemieunternehmen in Stolberg b. Aachen gearbeitet und war an der Entwicklung von Contergan beteiligt. Er hat den Glauben an seine Arbeit damals auch verloren, ist aber trotzdem geblieben und war verzweifelt. Hat seine Arbeit nur noch "mechanisch" verrichtet, wie man so sagt. Er hat keine Konsequenzen daraus gezogen und ist an Krebs gestorben.

    Ich denke, es gibt viele andere, denen es ähnlich geht, wahrscheinlich kennt fast jeder von Euch so jemanden. Oder es betrifft sie oderihn sogar selbst. Dieter hat sich für den Pastor entschieden, weil hier der Glaube an die Arbeit eine besondere Bedeutung hat.

    Wenn ich mich im Arbeitsleben für etwas entschieden habe, dann habe ich es solange gemacht, wie ich Freude daran hatte. Wenn ich etwas besonders gut konnte, hat es mich nicht mehr interessiert, es hat mich gelangweilt und ich habe gekündigt.. Zugegeben, ein unruhiges Leben, aber geil. Ich habe mehr erlebt und gesehen als andere, die zig Jahre jeden Tag den selben Ablauf hatten und jammerten, sie hätten doch noch soviel vorgehabt. Diese Leute und der Pastor in der Story haben sich für das Bleiben entschieden, für eine angebliche Sicherheit. "Da weiß man, was man hat."

    Aber alle zahlen einen Preis dafür.

    Schon der weise Adifuzius sagte: "Erst mit dem letzten Menschen stirbt auch die Hoffnung, es sei denn, die Natur hofft, dass der Mensch nie wieder kommt.":chen

  • Egal wie man den Pastor sehen mag, er bietet sehr viel Raum für Diskussionen, wahrscheinlich ist er die "umstrittenste" Person des Buches. Ich würde sagen, alles richtig gemacht Dieter Neumann  :grin


    Kann sich irgendjemand vorstellen, was das für ihn bedeutet? Welch ein wahnsinniges Leben das ist? Und dann noch erkennen zu müssen, dass er zu feige ist, diesem unwürdigen Tun endlich ein Ende zu setzen, wie es seine Frau ja scheinbar verlangt (was offenkundig nichts anderes ist als seine eigene Projektion).

    Ich sehe deinen Punkt und dein Anliegen. Leider komme ich bei der Geschichte gar nicht so weit, diese jahrzehntelange Qual wahrnehmen zu können, weil ich immer bei der Frage nach dem "Wieso tut er sich das an?" hängenbleibe (kann da dafür mit der Ehefrau sehr gut nachfühlen). Da bleibe ich irgendwo stecken, mir fehlt das Verständnis für einen erwachsenen Menschen, der seine Lage doch ändern könnte. Depression wäre für mich eine Erklärung gewesen, warum ich das so gar nicht verstehe, aber wie schon gesagt, ich habe das auch nicht so gelesen und bin daher froh, wenn du das auch nicht so gemeint hast Dieter Neumann .


    Ich frage mich die ganze Zeit, ob er seine Pflichten wirklich nicht geliebt hat.

    Um sich um die Gemeinde kümmern zu können, braucht es keinen Glauben an Gott.

    Liebe deinen Nächsten wie dich selbst - das ist nach der Liebe zu Gott die Kernforderung des Glaubens.

    Aber vielleicht konnte er das dann auch nicht mehr.

    Das hätte er vielleicht durchaus können und vielleicht hätte er auch ohne Glauben ein guter und den Menschen zugewandter Pastor sein können. Aber: ich denke, das wollte er gar nicht bzw. konnte er auch nicht. Er hat sich so in seiner eigenen Glaubensfrage verrannt, dass er gar nicht erkennen konnte, was er (auch ohne Glauben) alles Gutes tun kann. Nach dem Motto: "Ich glaube nicht mehr, also bin ich kein guter Pastor." - ohne das jemals zu hinterfragen. Das ist jetzt alles Laien-Psychologie, aber ich könnte mir vorstellen, dass solche eingebildeten Dogmen gar nicht so selten sind (zu allen möglichen Themen). Die Tragik der Geschichte ist für mich, dass er da jahrzehntelang nicht herausfindet und - vielleicht - auch seine Ehefrau mit in den Abgrund reißt (letzteres ist Spekulation).


    Habt Ihr Euch in diesem Zusammenhang eigentich auch mal gefragt, wieviele Menschen es gibt, die ihren derzeitigen Job machen, obwohl sie den Glauben an die Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit verloren haben?

    Danke für deine - auch sehr persönlichen - Worte. Ich gebe dir da vollkommen recht, etwas so lange gegen seinen Willen zu machen, macht unglücklich, krank, .... Und ich bin (wieder) einmal sehr froh und dankbar, einen Beruf zu haben, denn ich jetzt schon die Hälfte meines Arbeitslebens gerne ausführe. :-]

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Ich freue mich sehr über die überaus lebendigen Diskussionen zu meinen Geschichten, auch über diese hier, jedoch erlaube ich mir in aller Zurückhaltung darauf aufmerksam zu machen, dass Kurzgeschichten immer nur sehr wenige Aspekte eines bestimmten Verhaltens oder eines Geschehens beleuchten (können) - häufig sogar nur einen. Und das macht sie, wenn sie gut geschrieben sind, zu einer ganz eigenen literarischen Kunstform.

    Dass mir das immer gelingt, muss ich zwar zu bezweifeln, aber fest steht, dass bei guten Short Stories vor allem das subjektive Empfinden seiner / ihrer Situation durch den / die jeweilige/n ProtagonistInnen von Bedeutung ist - hier beim Apostaten übrigens ebenso wie z. B. in der "Botschaft". Und die Geschichte besteht allein daraus (MUSS allein daraus bestehen), wie er - ob richtig oder falsch, ob erwartbar oder unerwartet - individuell damit umgeht.

    Fragen wie die, ob er hätte Hilfe erbitten / bekommen können und wenn ja, von wem und in welchem Umfang, ob die Kirche ihm verziehen hätte, wenn er einen anderen Weg eingeschlagen hätte usw. sind allesamt für das Eindringen in die sehr intime, ganz einzigartige Gemütslage dieses einen speziellen Menschen wenig hilfreich - aus literarischer Sicht sogar abwegig

    Darauf wollte ich unbedingt noch einmal antworten.


    Literarisch gesehen hast du recht - das macht Kurzgeschichten auch zu einer für mich ganz besonderen Literaturform. Allerdings ist die Abgrenzung zu den etwas freieren Erzählungen fließend (ich habe sehr häufig neben Romanen eine Sammlung von Kurzgeschichten oder Erzählungen am Wickel - du hast in dieser Hinsicht deinen Platz zwischen John Updike und Tom Hanks gefunden ;) )


    Dass wir uns hier eben nicht darauf beschränken müssen, was aus literarischer Sicht wichtig ist, macht für mich den Unterschied zwischen einer Leserunde und dem Deutschunterricht aus. Missversteh mich nicht, ich habe den Deutschunterricht genauso geliebt wie die Fremdsprachen, aber hier haben wir die Freiheit, eben auch weitergehend zu diskutieren, unsere Gedanken dazu zu äußern, ohne das der Rotstift oder eine schlechte Note wegen Themaverfehlung droht.

    Wobei ich mir allerdings bei dieser Geschichte immer selbst die Frage stelle, ob er wirklich eine bewusste Entscheidung für das Leben getroffen hat, oder ob sein Verhalten nicht der (verständlichen) Feigheit vor der Endgültigkeit des Freitods geschuldet ist. Ich wage das nicht zu beantworten.

    Muss mal den Autor fragen, aber ich fürchte, der weiß es auch nicht ... :gruebel

    Oder vielleicht wirkt, auch wenn er vom Glauben abgefallen ist, die Lehre der Kirche, dass Selbstmord eine Sünde ist, weiter. Muss ihm ja nicht mal bewusst sein.


    Ich gebe dir da vollkommen recht, etwas so lange gegen seinen Willen zu machen, macht unglücklich, krank, .... Und ich bin (wieder) einmal sehr froh und dankbar, einen Beruf zu haben, denn ich jetzt schon die Hälfte meines Arbeitslebens gerne ausführe. :-]

    Das ist ein Luxus, den wir im wesentlichen deshalb haben, weil wir in der heutigen Zeit leben und hier geboren sind. Man sollte das echt nicht geringschätzen. Über lange Zeiten in der Menschheitsgeschichte und an vielen Orten selbst heute noch hatten und haben Menschen nicht die Möglichkeit, einen Beruf zu wählen, der sie erfüllt. Insofern schließe ich mich deiner Freude und Dankbarkeit hier gerne an - auch im Hinblick auf meine drei Jungs, die gerade den Weg suchen, der ihnen diese Erfüllung bietet.

  • Sehr intensiv, sehr leise und doch voller Verzweiflung, beklemmend. In kurzen und knappen Sätzen und Worten sehr gut die Zerrissenheit dargestellt. 25 Jahre Theater. Vielleicht gehofft, er findet wieder zurück zum Glauben. Hoffnung, Verzweiflung. Nicht wissen was zu tun. In Gedanken immer seine Frau an seiner Seite, gerade nach ihrem Tod, und doch kann er nicht den letzten Schritt tun. Seine Frau hat diesen Schritt getan, er nicht. Noch nicht. Vielleicht wird er es niemals tun. Er weiß nicht, was er tun soll. Zerrissen. Vielleicht doch noch irgendwo ein Stückchen Hoffnung.


    Mich hat diese Geschichte sehr ergriffen. Viele Gedanken, die iin mir aufgekeimt sind. Nur ein paar Seiten, die aber soviel aussagen über diesen Mann und seine Zerrissenheit (ich weiß ich wiederhole mich). So intensiv. Eine Geschichte, die auch noch lange in mir nachwirkt.

    :lesend Tom Liehr - Im wechselnden Licht der Jahre

    :lesend Derek Meister - Rungholts Sünde

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    Hörbuch: Alex Flinn - Kissed

    Hörbuch: Peter Beer - Achtsamkeit statt Angst und Panik

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