Helga Schubert, Über Tschechow

  • ASIN/ISBN: 346200378X



    Verlagsinformation:


    Wie hilft uns Literatur in den dunkelsten und einsamsten Momenten des Lebens? Und wie schreibe ich selbst über den Schmerz ohne Pathos, einfach und klar? Helga Schubert hat so viel bei Anton Tschechow gelernt. Über das Leben und das Schreiben.

    Helga Schubert erzählt in diesem persönlichen, traurig-schönen Buch von ihrer ersten Begegnung mit Tschechow, ihrer ersten Lektüre seiner Erzählung »Gram«, die sie erschüttert und gerettet hat. Sie schaut genau: Wie hat er das gemacht? Was ist die Kunst seines Schreibens, wie funktioniert sein Handwerk? Sie berichtet von seinem Leben, davon, wie er als Arzt für seine Patienten, wie er als Familienmensch für seine Eltern und Geschwister da war.

    Wie er die Gesellschaft anderer brauchte für seine Geschichten, und wie sie ihn vom Arbeiten abhielt. Es war ein Leben zwischen Überforderung und Mitleid mit allen, mit den Menschen, den Tieren, der Kreatur. Helga Schubert war auf Spurensuche in Jalta auf der Krim, in Moskau und in ihrem eigenen Leben und Schreiben. Entstanden ist ein unglaublich intensives, literarisches Porträt ihres Tschechows.


    Mein Lese-Eindruck:


    „Bücher meines Lebens“ – so lautet der Titel einer Buchreihe, die Volker Weidermann im Verlag Kiepenheuer & Witsch herausgibt. Der Reihentitel macht die Sache spannend. Gibt es Bücher, die das Leben der Autoren maßgeblich beeinflusst haben, es verändert haben? Die ihn langfristig begeistern, aus welchem Grund auch immer? Haben die Verfasser eine besondere Affinität zu einem Autor, und wenn ja, warum? Lassen sie sich künstlerisch in ihrem eigenen Schaffen von seinem Werk beeindrucken? Der Titel lässt das alles offen, aber auf alle Fälle erwartet den Leser eine sehr persönliche Auseinandersetzung.


    Helga Schubert musste nicht überlegen: sie wollte über Tschechow schreiben. Das Werk Tschechows begleitet sie von Kindheit an, und eine seiner Erzählungen hat ihr Leben entscheidend beeinflusst. Diese Erzählung heißt „Gram“, eine kurze Geschichte über einen einfachen russischen Lohnkutscher, der seine Frau und nun seinen einzigen Sohn hat begraben müssen. „Wem klage ich meinen Schmerz...?“ In seiner Not sucht er einen Menschen, dem er sein tiefes Leid klagen kann, aber er wird wiederholt abgewiesen, sodass er schließlich nur bei seinem alten Pferd sein Herz erleichtern kann. Eine schöne Geschichte, kunstvoll mit ihren Wiederholungen, im Märchenton geschrieben, sehr berührend – und diese Geschichte sei es, erzählt sie, die sie von dem Schritt „in den Abgrund“ abgehalten habe. Sie liest diese Geschichte, als sie das Scheitern ihrer Ehe erkennt. Ob man den Tod eines Kindes vergleichen kann mit der Erkenntnis, dass der Ehemann fremdgeht?


    Aber wie man das auch sieht: Frau Schubert hat sich mit dieser Geschichte an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen. Sie hat gelernt, nicht in Selbstmitleid zu versinken und niemals eine Situation als aussichtslos zu bewerten. Und darum geht es.


    Helga Schubert nähert sich Tschechow aber nicht als Trostsuchende an, sondern eher auf der handwerklichen und spirituellen Ebene, von Autor zu Autor. Sie will wissen, wie er seine Konzentration sicherte, wie er sein Privatleben organisierte, wie er erzählte und auch, welche menschlich wesentlichen Botschaften er in seinem Werk transportierte.


    Und so gelingt ihr ein sehr persönliches Bild dieses Altmeisters. Sie ist inzwischen doppelt so alt geworden wie Tschechow, der mit nur 44 Jahren starb. Sie bereist seine Wohnorte, trifft seine Nichte, besucht sein Grab, liest seine Notizbücher, besucht die Museen etc. und setzt die Lebensphasen Tschechows immer in Bezug zu ihrer eigenen Lebensphase. Und so entsteht ein sehr persönliches Bild dieses Mannes, der mit seinem Schreiben seine Familie ernährte, der als Arzt die medizinische Versorgung während der Cholera-Epidemie betrieb, Schulen für Arme baute, einen aufrüttelnden Bericht über die Gefängnisinsel Sachalin schrieb und bei dieser Selbstaufopferung ständig Mühe hatte, sich Freiräume für das Schreiben zu schaffen.


    Und immer steht die Frage dahinter: was kann sie von ihm lernen? Wie den Spagat finden zwischen Barmherzigkeit und Mitleid einerseits und einer kühlen Betrachtung andererseits? Und so nennt sie das kleine Buch auch sehr treffend „Eine Brücke zu Anton Pawlowitsch Tschechow“.


    08/10 Pkt.