Die ersten drei Sätze eures aktuellen Buches (ab 07.06.2024)

  • Ein Schwall kalter Luft hieß mich willkommen, als ich die Tür der Droschke öffnete und über die Straße stolperte. Meine ganze Aufmerksamkeit galt dem erhobenen Beil. Dunstiges Licht schimmerte wie frisches Blut auf der Schneide und rief mir unweigerlich die jüngst vergangen Ereignisse in Erinnerung.


  • Im Halbdunkel glänzen die Augen des Mannes fast schwarz. Die Bäume vor dem Fenster schwanken im Lichtkegel der Straßenlaternen und zeichnen feine Figuren auf sein Gesicht. Der Mann sitzt auf einem Holzhocker vor seinem Schminktisch und betrachtet sich im Spiegel.

    :lesend: Wer wir waren (Miro Lippoldt) 15 / 256

    :lesend: Das Kind in dir muss Heimat finden (Stefanie Stahl) 56 / 248 Seiten

  • Beste Mutter, optima mater, nannte der Kaiser Nero seine

    Mutter Agrippina in seiner ersten Thronrede. Eine begeh-

    renswerte Stelle war frei geworden: Die junge Witwe Agrip-

    pina hatte ihrem Onkel Claudius den Kopf verdreht, sie

    durfte ihn als Nichte, anders als die anderen Frauen, küssen,

    das war ein weiblicher Heimvorteil. Schließlich heiratete sie

    diesen Onkel in einer prunkvollen Zeremonie.


  • Auf dem Meer herrschte Totenstille. Ein paar Möwen kreischten träge über dem Segelboot, und die Sonne schien in der Stille des Mainachmittags. Ylva schaute durch ihre Sonnenbrille hindurch zum Strand und blätterte zerstreut in der Frauenzeitschrift Damernas Värld.


    :lesend: Wer wir waren (Miro Lippoldt) 15 / 256

    :lesend: Das Kind in dir muss Heimat finden (Stefanie Stahl) 56 / 248 Seiten

  • Irgendwo weit im Norden steht am Seedeich ein Bauernhof, der wie ein wartendes Arbeitspferd sein Hinterteil dem Meer zuwendet. Es ist ein ausladendes braunes Hinterteil aus Reet, ohne Tür und Fenster. Von der Traufe auf Augenhöhe erhebt sich das Dach steil zum First, der nicht mehr im Lee des Deichs liegt, sondern ungeschützt dem Seewind ausgesetzt ist.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Am 16. November 1984 wird im WDR nachts live aus der Zeche Bochum der "Rockpalast" übertragen: Da war sie, diese Stimme, die seither zu den eindringlichsten Stimmen Deutschlands gehört. In diesem Konzert und mit der LP 4630 Bochum , die bereits am 11. Mai 1984 erschienen war, wurde Herbert Grönemeyer zum Popstar. Was aber zeichnet den Popstar Herbert Grönemeyer aus?

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Fabian sass in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lanzer Tiergarten, Skandal im Städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz lässt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes.

  • Seltsam: Alle haben Angst vor dem Tod, aber keiner macht sich Gedanken, wo er vor seiner Geburt gewesen ist. Wohin die Lebensreise führt, scheint so viel wichtier als die Frage, woher wir kommen. Die Unendlichkeit vorher - ohne mich - kann doch wohl genauso wenig schrecklich sein wie die Unendlichkeit nachher - ohne mich. Oder?

  • Vielleicht war es nicht ihre beste Idee, ein Haus zu kaufen, in dem es angeblich spukte. Mit einem Grummeln im Magen bremste Ashley Scott, als der Windswept Way in einer Sackgasse vor einem offenen, imposanten Doppeltor endete, das von einer hohen Hecke überwuchert war. Sie betrachtete die großen, verblassten Schilder >Privatgelände - Betreten verboten< und >Unbefugtes Betreten wird gerichtlich geahndet<, die am Eingang standen.


  • Weit, weit zurück, im Zweiten Weltkrieg, wohnte ein gewisser Anton Steenwijk mit seinen Eltern und seinem Bruder am Stadtrand von Haarlem. An einer schmalen Straße, die über eine Länge von hundert Metern am Wasser entlangführte und dann in einem sanften Bogen zu einer gewöhnlichen Landstraße wurde, standen nicht weit voneinander entfernt vier Häuser. Sie hatten alle einen Garten und wirkten mit ihren kleinen Balkonen, Erkern und steilen Dächern trotz ihrer bescheidenen Größe wie Villen.


  • War es Montag oder Dienstag? Noch Juli oder schon August? Es ist erschreckend, wie die Tage ineinanderfliessen und jede Kontur verlieren, wenn man nichts vor sich hat als eine Wand.