Anstrengend
Ich müsste lange darüber nachdenken, um die Fragen zu beantworten, wann ich zuletzt a) ein so kluges, wissensreiches Buch gelesen und b) so lange für einen Roman gebraucht habe. Auf b) wäre vermutlich die korrekte Antwort „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace, auf a) wüsste ich vorläufig überhaupt keine, möglicherweise wäre es aber auch dieselbe wie auf b). „Unter dem Pflaster liegt der Strand“ ist praktisch ein Buch über nicht weniger als alles, und es ist so irre klug, dass man sich beim Lesen allmählich immer kleiner vorkommt.
Aber es ist auch irre anstrengend, und es macht leider nicht immer Spaß. Die Leichtigkeit von „Buzz Aldrin“ oder „Max, Mischa ...“ fehlt hier über weite Strecken, die aus kilometerlangen Sätzen bestehen, die so angefüllt und aufgepumpt sind, dass man eigentlich nach jedem Absatz, dessen Ende man zuweilen herbeisehnt, eine Atempause machen muss, die aber nicht zu lange ausfallen darf, sonst geht der Anschluss verloren. Figuren und Perspektiven wechseln sich ständig ab, es ist oft überhaupt nicht klar, was einem da gerade erzählt wird, welche Bedeutung das hat, wo es hingeht, wie man aus diesem Zwei-Milliarden-Teile-Puzzle schlau werden soll. „Unter dem Pflaster liegt der Strand“ ist sozusagen der Gegenentwurf zum Glücklichmachziegel „Max, Mischa und die Tet-Offensive“, mit dem es fast nur gemein hat, dass es ähnlich lang ist und von Johan Harstad kommt. Okay, da sind schon noch ein paar mehr Gemeinsamkeiten, aber das Trennende überwiegt.
Wenn es in diesem Roman um „etwas“ geht, was mir wie ein völlig unzulässiges Diminutiv vorkommt, dann um die Freunde Ingmar, Jonatan, Peter und Ebba, die in einem Vorort von Stavanger namens Forus leben. Dort wird ein experimenteller Fusionsreaktor betrieben. Fusion und ihr Gegenteil, die Fission (Spaltung), sowie die dabei entstehende Radioaktivität spielen große Rollen in der Geschichte – Ingmar wird als Erwachsener im Bereich der Atommüllentsorgung tätig sein, vor allem aber finden die Freunde ein Artefakt, einen schwarzen, seltsam glatten Pflasterstein, der leicht radioaktiv ist, und bei Berührung eine Mischung aus Realtraum und Zeitreise auslöst, die sehr folgenreich sein kann. „Unter dem Pflaster liegt der Strand“ erzählt von der Vor- und Nachgeschichte dieses Artefakts, von der Freundschaft der vier Jugendlichen, von der Liebe, die Ingmar für Ebba empfindet, und darüber, was aus ihr wird. Das Buch erzählt aber auch von Geheimdiensten und Agenten, von Meteorologie, von Mythologie, von der Containerschifffahrt, von Familien und von Altenheimen und von gefühlt tausend bis zehntausend weiteren Dingen. Es ist, wie erwähnt, irgendwie ein Buch über alles, und deshalb zugleich natürlich auch eines über nichts, es scheint mir um die Bedeutung des Daseins zu gehen, um die Bewertung der Zukunft, um das Jetzt und um das Später und um die schwerwiegenden Folgen oft nur nebensächlicher Vorfälle. Darum, dass nichts in Stein gemeißelt ist, auch wenn wir Steine vor uns sehen. Darunter könnte ein Strand liegen. Wir müssten nur nachschauen.
Und es ist natürlich ein sensationell gutes Buch. Ein Meisterwerk, ein Gigameisterwerk, eine Abrissbirne, ach was, eine Neutronenbombe von einem Roman, doch es ist leider auch komplett drüber. Die Anstrengung grenzt oft an Quälerei, der Sinn der nicht enden wollenden Sätze erschließt sich nur selten, und zumindest mir sind vermutlich nicht wenige Zusammenhänge verborgen geblieben. Aber ich bin sicher, auch einiges gelernt zu haben, ich denke seit dem Ende der Lektüre über die Geschichte und ihre sich in Fraktalen verlierenden Teilgeschichten nach, und über Atome und die Liebe und das Leben. Von den letzten beiden Aspekten hätte ich mir mehr gewünscht, auf emotionaler Ebene, da hat dieser Roman nicht die Nähe zu seinen Figuren, die „Buzz“ und „Max“ vermitteln, bleibt auch aufgrund des sperrigen Stils selbst bei Abschnitten, die Ingmar aus der Ich-Perspektive erzählt, seltsam distanziert und irgendwie flirrend. Und das Ende ist schlicht ein Killer.
Ich habe „Unter dem Pflaster liegt der Strand“ wirklich gerne gelesen, was nicht ganz die richtige Formulierung ist, aber ich war heilfroh, als ich es wegstellen konnte.
![]() |
ASIN/ISBN: 3546101065 |