Beiträge von Maarten

    McCartney und McLennan haben Deadloch eigentlich als eine komische Version von Broadchurch angelegt, aber es ist - zum Glück - kein Schenkelklopfer, sondern sowas wie ein düsterer, feministischer Krimi in dem Mikrokosmos eines entlegenen Kaffs mit einer ordentlichen Portion skurrilen Humor.

    So gut, wie es die Namen erhoffen lassen... ;)


    Läuft auf amazon prime.

    Ich habe lange überlegt, ob ich den Vergleich Schleichmörder benutzen soll, ob ich nicht was Treffenderes finde. Aber genau das meine ich damit.

    Und ich habe überlegt wie ich mit dem Thema Freiheit in der Kunst in der Rezension umgehe. Und mich tatsächlich dagegen entschieden es explizit zu erwähnen, weil es mir die Gewichtung zu sehr verschiebt.

    Der erste Roman von Tom Liehr, der nicht aus der Ich-Perspektive erzählt ist und kurz hatte ich das Gefühl einen anderen Autor zu lesen.

    Dann war es aber wieder alles da: Die feinen Nuancen, die Infos, die heimlich durch die Hintertür reinschlüpfen, die kleinen Details, die unsere Zeit und unser Leben kommentieren.


    Ein typischer Kommentar, den ich von Freunden bekomme, die ich mit einem Liehr beschenke, ist: Es passiert eigentlich die ganze Zeit nichts, aber ich konnte es trotzdem nicht aus der Hand legen.


    Das stimmt einerseits gar nicht, andererseits schon, auch hier Freitags bei Paolo: Das erste Kapitel liest sich wie ein Prolog und endet dort, wo ein Liebesroman typischerweise endet: Sie kriegen sich.

    Der Rest des ersten Teils erzählt danach von nicht weniger als den ersten 1000 Freitagen eines Traumpaars.

    Das klingt in unserer heutigen Zeit der Superlative lapidar, ist es aber nicht: Gemeint ist hier wirklich die eine große Liebe des Lebens in ihrer Perfektion. Clemens und Marie sind diese eine unglaubliche, große - nie kitschige - Liebe und wir begleiten sie tatsächlich durch die ersten 20 Jahre ihrer Beziehung. Ich kann mich nicht daran erinnern, etwas vergleichbares gelesen zu haben.


    Das muss doch langweilig sein, ist eine typische Reaktion, wenn ich von diesem Buch erzähle.

    Sicher: Wer einen vordergründig konfliktreichen Roman lesen möchte, ist hier falsch.

    Aber Nein: Dieses Buch ist alles andere als langweilig. Nicht nur, weil ein Roman von Tom Liehr - zumindest für mich - ohnehin alleine durch seine Erzählkunst bereits trägt. Und durchaus unterhält mit vielen beiläufigen Kommentaren auf aktuelle Gesellschaftsthemen: Häufig humorvoll, häufig bissig, häufig beides.


    Aber dieser Roman kommt für mich vor allem daher wie ein Schleichmörder, mit seinen zunehmend bohrenden Fragen:

    Wie geht man mit Chancen um, die einem im Leben begegnen und wie schafft man neue Chancen? Was ist einem wirklich wichtig?


    Im Vordergrund von 'Freitags bei Paolo' steht dabei die eine wichtige aller Chancen: Die Liebe.

    Sie wird in verschiedenen Beziehungen gespiegelt mit einer Spannbreite vom Traumpaar Clemens und Marie, bis zu einer äußerst toxischen Beziehung, die im Off passiert. Oder auch einem Menschen, der sich gegen die Abhängigkeit einer Beziehung entscheidet.


    Ich habe Clemens und Marie und die vielen anderen Charaktere sehr gerne durch diesen Roman begleitet.

    Aber ein kurzes Feedback am Rand zu 'Die Wahrheit über Metting'. Ich hatte das Buch damals zu Weihnachten mehrfach verschenkt.

    Diese Woche auf einer Weihnachtsfeier meinte einer der Beschenkten zu mir, es wäre ein wirklich schönes Buch gewesen, dass ich ihm damals geschenkt habe.
    Er schaute versonnen einen Moment vor sich hin und meinte dann, ihm wäre gerade nochmal die Szene mit der Kioskfrau und dem Eisstielkreis eingefallen und er hätte alleine von dem Gedanken eine Gänsehaut bekommen...

    Zu Identifikation und Realitätsbezug:
    Bücher, in denen die Protagonisten meine eigene Realität leben, möchte ich zumindest nicht lesen. Die erlebe ich doch selbst täglich.
    Identifikation führt zumindest für mich über große Themen: Liebe, Freundschaft, Einsamkeit, Macht, Ziele und ihre Erreichung, Ängste, Erfüllung, Verlust, Schicksal...

    Dieses eine Leben eben, das wir manchmal steuern können und dem wir manchmal ausgeliefert sind.
    Mich interessiert, wie Protagonisten dem begegnen.

    In 'Freitags bei Paolo' wird eine Leinwand aufgezogen, die vom absoluten Traumpaar (das sich trennt) bis zur völlig toxischen Beziehung (die zusammenbleibt) reicht. Es fällt mir schwer mir eine Beziehung vorzustellen, die sich nicht auf dieser Leinwand einordnen lässt.
    Und beide Beziehungen finde ich realistisch genug, um sie diese Eckpfeiler bilden zu lassen. Aber klar, das ist für jeden anders.

    Wird die Beziehung von Teddy und Diana eigentlich als genauso unrealistisch empfunden, wie die von Marie und Clemens? (Sie steht ja nur im Hintergrund, ist vermutlich deswegen bisher kein Thema).

    Edit: Hmm, ok, das hier ist der "Tom Liehrs Fragen an die Eulen"-Thread, wie ich gerade lese. Die Frage hab ich ja bereits beantwortet. Aber gut, in gewisser Weise ist das hier ja auch nochmal eine Antwort auf die Frage.

    Ich möchte mal eine Analogie bemühen, aber ich weiß nicht, ob sie gelingen wird. Ich stelle mir die Liebe zwischen zwei Personen als ein Seil vor, das die beiden verbindet.

    Das ist tatsächlich eine sehr merkwürdige Analogie, Liebe als eine Art Fessel zu sehen... :)

    Aber ich will erst gar nicht versuchen eine passendere Analogie zu finden, Liebe schillert in vielen unterschiedlichen Facetten.

    Clemens und Marie sind (zumindest in meinen Augen und mir scheint, auch von Dir genau so intendiert), das perfekte Paar. Das sieht jeder, der sie sieht, das fühlt jeder, der sich in ihrer Gesellschaft aufhält und das Empfinden sie auch selbst so, zumindest die ersten 20 Jahre.

    Die Frage, die Du in den Raum stellst: Wie geht man damit um, wenn nach 20 Jahren die Liebe (eigentlich ist die Rede eher von der Leidenschaft, die hier mit Liebe gleichgesetzt wird) nachlässt.

    Ich kann sie gut nachvollziehen, diese Trennung. Ich kann sie nachvollziehen, weil diese perfekte Liebe plötzlich einfach aus dem Nichts fiel. Weil alles so einfach war und damit so wiederholbar scheint. Weil Marie jung war, als diese Beziehung begann. Weil für diese beiden noch so vieles möglich scheint.

    Ich halte sie gleichzeitig für einen tragischen Fehler. Und finde es spannend einen Roman zu lesen, in dem die Tragik darin besteht, dass eine vollkommen harmonische Beziehung in Harmonie beendet wird.

    Marie vergleicht ihre Entscheidung mit der von Leonard und Luise, dabei lässt sie diese Trennung nicht mit deren vergleichen. Das alte Paar ist vermeintlich Jahre weiter auf dem gleichen Pfad, aber dieser Pfad ist lediglich eine Angst von Marie und Clemens und Angst ist, wie man bei Teddy gut sehen kann, kein guter Ratgeber.
    Eigentlich ist es ja umgekehrt: Leonard und Luise sind wegen Marie und Clemens zusammengeblieben und hätten sich offensichtlich besser schon früher getrennt.

    Es sind 20 Jahre vergangen und vieles, was Marie und Clemens gemeinsam erlebt haben, ist nicht mehr wiederholbar. Sie sind nicht mehr die, die sie vor 20 Jahren waren. Und sie werden nicht mehr mit einem anderen Partner erneut eine Familie gründen, Kinder großziehen. Diese Gelegenheit kann sich nicht wiederholen. Die vielen Erlebnisse, die das mit sich gebracht hat, sind ebenfalls nicht wiederholbar. Eine so große Gemeinsamkeit wie sie miteinander erlebt haben, werden sie mit keinem anderen Partner mehr erleben. Das ist Realität. Aber eine, die sie selbst nicht erkennen.

    Diese gemeinsame Zeit, die gemeinsamen Erinnerungen scheinen mir ein Wert zu sein, den Marie und Clemens viel zu gering einschätzen. Sie versäumen es, sich neu aufeinander einzulassen, das Freitagsritual zu beenden, sich wieder mehr Freiraum zu geben.
    Sie verpassen es damit auch gemeinsam ein Anlaufpunkt für ihre Kinder zu sein, gemeinsam Enkel zu erleben. (Was zugegeben, in ähnlicher Form auch mit einem anderen Partner möglich wäre).

    Glück scheinen mir Menschen meistens zu finden, wenn sie ihre eigenen Ideen/Ziele verwirklichen können und dabei gleichzeitig ein emotionales Zuhause haben. Das zweite geben die beiden hier zumindest erst mal auf.
    Es sind 2 Ängste, die dabei gegeneinander stehen:
    Bei diesen beiden ist es die Angst vor dem Verschwinden der Liebe, die zur Trennung führt.
    Bei Teddy ist es die Angst vor der Einsamkeit, die ihn an Diana bindet.

    Und da ist es am Deutlichsten, dass es sich bei Leonard und Luise anders verhält: Sie trennen sich nicht aus Angst, sondern weil es für beide besser ist. Und sollte sich bewahrheiten, dass sie sich im Alter vermissen, können sie ja immer noch wieder zusammenwohnen, wie Luise meint.

    Warum zB schafft man es in einer ehrlichen, aufrechten Beziehung denn nicht, in gefühlten hundert Jahren dem Lebenspartner ohne Angst mitzuteilen, dass man zum Frühstück keine verdammten Pancakes mag, sondern auf Leberwurststullen steht?

    Es ist doch so'n klassisches Problem, dass in Beziehungen der eine Partner die obere Brötchenhälfte isst, der andere die untere. Und beide nach 20 Jahren in einem handfesten Streit feststellen, dass sie das nur dem anderen zuliebe tun und es eigentlich immer umgekehrt hätte sein müssen.

    Aus meiner Sicht geht's in dieser Szene nur darum, dieses klassische Problem zu konterkarieren.

    Clemens und Marie haben sich in ihrer Perfektion. In der Bestätigung von außen ( alle sagen ihnen, wie Granatenmäßig spitze sie miteinander aussehen, wow, wie oberflächlich.

    Es gibt diese Pärchen, denen sieht man von hundert Metern Entfernung an, dass sie frisch und völlig ineinander verliebt sind. So habe ich diese Bestätigung von außen verstanden.

    Sie sind halt toll und wollen das auch bleiben. Ich ecke da wahrscheinlich permanent mit meinem eigenen Verständnis von Liebe, Ehe und Freundschaft an, weil mir meine empirischen Erfahrungen und auch wissenschaftliche Erkenntnisse sagen, dass Verliebtsein das Gehirn in einen Rausch ähnlichen Zustand versetzt und es eben ganz normal ist, dass dieser Zustand irgendwann nachlässt und andere Empfindungen hervortreten, die uns nicht in Euphorie versetzen, aber genauso wertvoll sind.

    Das toxisch positiv, dass Du meinst, ist also eher im süßlichen Disney-Sinn gemeint?

    Klar, die beiden sind ein übersteigertes Idealpaar, die eine große Ausnahme von der Regel.
    Wenn einem das auf den Geist geht, ist's wohl das vollkommen falsche Buch.

    Gehen hier jemandem Clemens und Marie mit ihrem Gehabe auch so sehr auf die Nerven wie mir? Noch nie waren mir Toms Hauptfiguren dermaßen unsympathisch wie hier. Alles an denen empfinde ich toxisch positiv. Richtig gehend zum Weglaufen.

    Ist spannend wie unterschiedlich wir hier in der Leserunde Clemens und Marie sehen. :)

    Toxisch positiv: Für mich sind das Menschen, die sich überschwänglich freuen, einen zu sehen, obwohl man sich eigentlich nichts zu sagen hat. Und wenn man dann ins mehr oder weniger erzwungene Gespräch kommt, zwischen falscher Empathie (ja, dass kenn ich, bei mir war das so und so), Vergleichen zu ihrem Vorteil (Meine Kinder dies und jenes, ach Deine nicht? Ah, das kommt bestimmt noch), Betonen wie gut es ihnen geht (wir waren letzte Woche...) und 'wohlgemeinten' Tipps, gerne in erzieherischer Richtung wechseln. Hinter der wohlgehüteten Fassade hingegen geht's häufig ganz fies her.

    Hmm, Clemens und Marie sehe ich wirklich gar nicht in diese Richtung. Im Gegenteil...

    Was macht's denn für Dich aus, dass toxisch positive bei Clemens und Marie?

    Naja, es ist doch so:
    Der Weg von einem Autor über seinen Text zu einem Leser hat wenig mit dem sinnvollen Aneinanderreihen von Wörtern zu tun, sondern eher mit Telepathie. Ok, keine reine Telepathie, schließlich gibt's tatsächlich Tinte auf Papier oder so. Aber verdammt viel mit Telepathie.

    Und beim Lesen geht's eben nicht darum, den Wörtern ihren Sinn wieder zu entnehmen, sondern sich in eine andere Welt zu begeben.

    Und es ist keine zielgerichtete Telepathie von einem Autor zu einem Leser, den der Autor kennt.

    Da kann schon mal das ein oder andere auf dem Weg verloren gehen...

    Also irgendwas Entscheidendes hat wohl doch gefehlt! Wie in dem Schlussabsatz vom letzten Abschnitt deutlich wird:

    "Er nickte. >>Das ist sehr lieb von dir.<<

    Da musste sie lachen. Diesen Satz hatte sie während der gesamten einundzwanzig Jahre noch nicht von ihm gehört."


    Ich verstehe das so, dass die beiden nie viel über ihre Gefühle und die besondere Wertschätzung füreinander geredet haben. Alles war von vorneherein zu selbstverständlich. Sie verstehen sich ohne Worte und falls es mal ein Missverständnis gibt (wie mit den Pancakes zum Frühstück) braucht es zehn Jahre, bevor das mal angesprochen wird.

    'Das ist sehr lieb von dir.' ist ein Satz den man zu einem netten Kollegen sagt. Oder jemanden, den man gerade erst kennengelernt hat. Oder so...
    Sie lacht, weil sie diesen Satz von einer ihr durch und durch vertrauten Person hört.

    So verstehe ich das jedenfalls.

    Ein Grund ist sicher auch, dass früher mehr Leute daran geglaubt haben, dass es eine höhere Macht (am liebsten in hübscher Form eines Schutzengels) gibt, die ganz besonders die Kinder vor Gefahren bewahrt.

    Das würde bedeuten, dass gläubige Menschen (so verstehe ich Dich), weniger helikoptermäßig unterwegs sind, als ungläubige.

    Das deckt sich zumindest nicht mit meinen Erfahrungen. Die gehen in meinem Umfeld in die gegenläufige Richtung.

    Diese Schuldfrage hört bei der Kinderserziehung lange nicht auf. Das typische Wort, das z.B. im Zusammenhang mit einer Krebserkrankung verwendet wird, ist Kämpfen und zwar meist vom Erkrankten gegen die Krankheit. Und suggeriert damit in gewisser Weise auch eine Schuld des Erkrankten am Krankheitsverlauf.
    Und auch an der Entstehung: Nicht geraucht, kein Alkohol getrunken? Dann muss es wohl zu wenig Sport sein, falsche Ernährung oder zu viel Stress. Jedenfalls irgendwie selbst Schuld.

    In gewisser Weise ist das in diesem Buch en passant ja auch mal thematisiert, wenn auch mit einem etwas anderen Hintergrund: Bei Khaleds Entscheidung nicht asketisch zu leben, um die Krankheit vielleicht etwas länger in Schach zu halten, sondern stattdessen die verbleibende Zeit zu genießen, geht es vor allem um diese Entscheidung: Besser wenig Zeit mit Spaß als mehr Zeit ohne. Tatsächlich lebt er aber 2 Jahre statt einem halben oder einem.
    Teddy entscheidet sich aus Angst andersherum: Und da ist sie wieder diese übersteigerte Optimierung, nur in diesem Fall als übersteigerte Selbstoptimierung.

    Und in gewisser Weise wird es auch thematisiert in der kurzen Passage, in der Marie explizit darauf verzichtet, Khaled irgendwelche Wundermittelchen anzupreisen. (Und was wird nicht alles an Zuckerkügelchen in Kita-Kids reingeworfen, sobald sie sich mal hingelegt haben. Dabei enthält das klassische Küsschen auf den blauen Fleck doch den viel besseren Wirkstoff... ;))

    Die "fehlende" Trauer nach Bollos Tod bzw. die fehlende Auseinandersetzung im Buch damit. Hm, da hab ich mir zum Beispiel überhaupt keine Gedanken gemacht. Dass die beiden das trifft, steht ja außer Frage.

    Das ging mir genauso. Zumal Clemens sich ja 4 Wochen frei genommen hat. Und Trauer ist ja häufig auch eine stille Sache ist, nicht etwas, über das man viel redet.
    Mal davon abgesehen, kam diese Trauer in nachfolgenden Szenen ja auch immer wieder hoch.
    Und auch Jahrzehnte später...
    Aber Du liest ja noch...

    :gruebel Diese Überbesorgnis ist vielleicht entstanden, weil die Eltern meist nur noch ein Kind haben. Ab drei Kindern sehen Eltern das Ganze unverkrampfter.

    Wahrscheinlich spielen auch die Medien mit ihren Krimis, die von entführten Kindern handeln, und Berichten über zu Drogen verführten Jugendlichen eine Rolle.

    Interessante Frage, wie es zu diesem starken Helikopterismus gekommen ist.

    Ich vermute, es hat auch mit der Informationsüberflutung zu tun, in der wir leben. Die suggeriert, das man auch immer alles irgendwie in der Hand hat, Einfluss hat.

    Das findet sich an vielen Stellen wieder:
    - Ein Kind, das schlecht einschläft? Muss an der Erziehung liegen. Es gibt genug Erziehungsratgeber, die erklären, wie das anders geht.
    - Ein Kind, das in der Grundschule nicht mitkommt? Was ist da im Kleinkindalter schiefgelaufen? Nicht genügend spielerisch erzieherische Ideen mit dem Kind umgesetzt?

    Der Helikopterismus wird verstärkt durch die Normierung der Kinder bereits im Kindergartenalter. Jedes dieser Kinder entwickelt sich seinen Vorlieben gemäß unterschiedlich. Bei den Elterngesprächen bekommt man diese unterschiedliche Entwicklung dann aber meist als Defizite erklärt, die aufzuholen ist. Und es wird damit in gewisser Weise auch eine Schuld suggeriert.

    Diese Schuldfrage hört bei der Kinderserziehung lange nicht auf. Das typische Wort, das z.B. im Zusammenhang mit einer Krebserkrankung verwendet wird, ist Kämpfen und zwar meist vom Erkrankten gegen die Krankheit. Und suggeriert damit in gewisser Weise auch eine Schuld des Erkrankten am Krankheitsverlauf.
    Und auch an der Entstehung: Nicht geraucht, kein Alkohol getrunken? Dann muss es wohl zu wenig Sport sein, falsche Ernährung oder zu viel Stress. Jedenfalls irgendwie selbst Schuld.

    Wer möchte schon schuld sein, dass es seinen Kindern schlecht geht...
    Also Optimierung der Kindeserziehung so gut es geht...

    Dabei geht's grob gesagt den Kindern gut, wenn es ihren Eltern gut geht und die Kinder ihre eigenen Interessen entwickeln und ausleben können. (Ok, ich blende gerade die ganze problematische Smartphone/Konsolen/Computergeschichte inkl. Pandemie aus...)

    Diese Szene im Kindergarten wollte mein Lektor auch eingedampft und verändert haben, aber ich habe mich durchgesetzt, allerdings muss ich zugeben, dass die Szene als Szene möglicherweise besser funktioniert als als Bestandteil der Geschichte der beiden. Sie soll natürlich zeigen, wie sehr Clemens und Marie im Gleichtakt schwingen, wenn es um bestimmte Dinge und Herausforderungen geht, und dass sie sich durchaus auch etwas überlegen fühlen (aufgrund dieser Tatsache), aber ich kann nachvollziehen, wenn das ein bisschen arrogant und herablassend rüberkommt. Zumal sie ja auch nur zu zweit im Käsekuchen sind, weil Marie das Losen verloren hat und Clemens sie nicht alleine gehen lassen konnte. Sie sind nicht besser als die anderen. Sie gehen nur etwas besser mit tradierten Rollenerwartungen um. Das ist eine Pro-Clemens-Szene, obwohl Marie erzählt. Nein, weil.

    Ich mag diese Szene sehr gerne.
    Allerdings glaube ich auch, dass diese Szene insbesondere Menschen, die sich in den Helikoptereltern zumindest teilweise wiederfinden, entgleisen lassen kann.
    Und Helikopterismus ist sehr verbreitet, vermutlich auch unter Deiner Leserschaft...

    Teil 1 ist schon sehr untypisch für eine Liebesgeschichte:
    Erzählt wird nicht bis zum klassischen HappyEnd des Zusammenkommens, sondern eigentlich erst die Geschichte ab dem Zusammenkommen. Die normaerweise in einer Liebesgeschichte ausgelassen wird, da die rosarote Phase der Verliebtheit irgendwann mit den Schwierigkeiten des Alltags kollidiert. Wenn nicht, wird es eine langweilige Geschichte, oder? Schließlich sind es die Konflikte, die eine Geschichte spannend machen.
    Erstaunlicherweise nicht in dieser Geschichte: Tom hält es tatsächlich durch im ganzen ersten Teil über eine äußerst harmonische Beziehung zu erzählen. Es gibt keinen einzigen Konflikt in dieser Beziehung in dieser Zeit (zumindest keinen, von dem er uns erzählt. Im Off wird es sicherlich schon den ein oder anderen gegeben haben. Es taucht ganz kurz in einem Nebensatz bei der Besichtigung der Wohnung auf, dort wird in der Aufzählung von Marie, was sie in dieser Wohnung in Zukunft erleben werden, auch 'Streiten' erwähnt.)

    Der zweite Teil setzt da noch einen drauf:
    Ok, sie trennen sich. Aber selbst das geschieht auf liebenswürdige, harmonische Weise. Clemens versucht weiterhin Maries Bedürfnisse zu erkennen, bevor sie sie ausspricht. Für ihn ist klar, dass er die Wohnung verlässt und Marie dort bleibt.
    Und Marie denkt weiterhin für ihn mit, berät ihn bei seinen Entscheidungen. Z.B. wenn es darum geht den Schaden durch den Shitstorm abzuwehren.

    (Nebenbei: Bin ich der Einzige, der den Klinkerbau 'Irgendwann' als eine Art goldenen Kerker sieht?)

    Ich finde die Reaktionen auf diesen zweiten Teil spannend, meine eigenen, die hier und auch die in der Lovelybooks-Leserunde, in die ich auch mal reingelesen habe:

    Es gibt nach dem Lesen des zweiten Teils bisher nur ein einziges Thema (obwohl das Buch ein zweites sehr deutlich hervorhebt). Und auch bei mir ist es dieses Thema, das mich mehr beschäftigt, also fange ich auch hier an:
    Emotional lehne ich diese Trennung schlicht ab - und das scheint mir eine durchgehende Reaktion aller zu sein - und suche, wie andere auch, nach Begründungen dafür.
    Diese Begründungen fallen spannenderweise sehr unterschiedlich aus (Lovelybooks-Leserunde: Narzissmus seitens Marie? Ehrlich? Müsste dann nicht wenigstens einer, wenn auch noch so winziger Hinweis im Buch dazu vorkommen?)

    Ich lege es mir so zurecht:
    Überholt scheint mir tatsächlich das 'Freitags'-Ritual (was auch daran liegt, dass ich selbst spätestens nach dem 3. Freitag keine Lust mehr darauf gehabt hätte. Es ist einfach viel zu häufig. Aber für diese Konstellation offensichtlich jahrelang stimmig.)
    Aus meiner Sicht hätten die beiden wunderbar das Freitags-Ritual fallen lassen können, Clemens hätte dadurch in seiner Comedian-Karriere voll durchstarten können, Marie in ihrer Politik-Karriere. Dieses persönliche Durchstarten, bei dem sie sich seltener sehen und bei dem ihre Beziehung gleichzeitig ihre sichere 'Homebase' gewesen wäre, hätte beiden gut getan.
    Außerdem: Liebe und Leidenschaft, klar gibt's da einen Zusammenhang. Aber es gleichzusetzen scheint mir dann doch eine sehr starke Vereinfachung. Bei dieser Beziehung scheint mir die Trennung viel damit zu tun zu haben, dass die beiden nicht wirklich verstehen, was für ein Kleinod sie da in Händen halten. Zu einfach ist es ihnen - bei Marie auch noch sehr früh im Leben - vor die Füße gefallen. Es war zu selbstverständlich.

    Und deswegen verstehe ich rational diese Trennung:
    Es sind 2 Ängste, die da gegeneinander antreten:
    Die Angst vor dem Fehlen des Partners, des Seelenverwandten, der persönlichen HomeBase, die einen immer auffangen wird einerseits
    ...und...
    der Angst vor dem Erstarren im Alltag, dem Versiegen von dem was mal war, dem Verpassen neuer Chancen, anderer(!) Chancen, für die überhaupt erst mal Gelegenheit geschaffen werden muss, damit sie eintreten können.

    Es ist ein Abwägen bei dem sich Marie und Clemens in einer anderen Position befinden, als es die meisten Menschen tun. In einer sehr sehr anderen Position als z.B. Nigel Hitchcock.
    Aus dieser Position heraus, in der sie sich befinden, kann ich die Trennungsentscheidung rational nachvollziehen.

    Tom erzählt den weiteren Verlauf so, dass ich als Leser in eine starke Ambivalenz gerate. Es ist die Entscheidung von Clemens und Marie sich zu trennen, sie spüren keine Liebe mehr (und ich würde es gerne formulieren als 'sie behaupten keine Liebe mehr zu spüren, aber sie ist nach wie vor da'). Es ist ihre Entscheidung und nur sie können es beurteilen. Aber wenn die beiden sich trennen, dann stellt es jede Beziehung in Frage. Denn welche Beziehung ist schon so perfekt wie diese (außer meiner eigenen natürlich... ;-) ), die ja der Archetyp der perfekten Beziehung ist, eine Gratwanderung, da sie damit eigentlich schon völlig unglaubwürdig ist. (Es wundert mich, dass es tatsächlich von manchen so gelesen wird, als wäre es nicht die perfekte Beziehung (siehe Lovelybooks-Runde). Wie bitte soll sie denn noch perfekter dargestellt werden? Zumal alle anderen Beziehungen im Roman mäßiger bis zu extrem toxischer Natur sind...)

    Dieser Ambivalenz möchte ich gerne entgehen, die beiden sollen wieder zusammen sein, denn sie gehören verdammt nochmal zusammen!
    Aber es hilft nichts, Tom entlässt uns nicht mehr aus diesem Konflikt, denn das ist ja der eigentliche rote Faden, der sich durch all seine Bücher zieht. Der Aufruf, seine Lebenssituation zu hinterfragen und aktiv daran zu arbeiten sie zum Besseren zu ändern oder eben den Schatz zu erkennen, den man bereits in Händen hält.

    Eine Liebesgeschichte, mit einem Paar, das von der ersten bis zur letzten Seite in jeder Beziehung perfekt harmoniert. Auch in der Trennung. Und dabei nie auch nur ein bisschen langweilig ist:
    Chapeau!

    So viel zum ersten Thema...
    Zum zweiten an einem anderen Tag...