Britt Reißmann: Nur ein Sterbenswort, Kriminalroman, Berlin 2025, Saga Egmont Verlag, ISBN 978-3-98750-080-0, Softcover, 399 Seiten, Format: 12,5 x 2,9 x 19 cm, Buch: EUR 13,99, Kindle: EUR 8,99, auch als Hörbuch lieferbar.
„Es war leicht, Menschen zu verurteilen, ohne die Gründe für ihr Verhalten zu kennen.“ (Seite 387)
Neustart in Stuttgart
Weil die Mordkommission in Stuttgart personell unterbesetzt ist, hat Kommissar Severin Scholl (44) kurzerhand seine Cousine Meike Masur (39) von der Kripo in Stralsund „abgeworben“. Ihr kam ein beruflicher und privater Neustart gerade recht,
und nun versucht sie – nach eigenem Bekunden -, sich von einem „Fischkopp“ in einen „Stäffelesrutscher“ zu verwandeln. Ihr Cousin hat da leicht lachen: Er lebt schon seit über 30 Jahren in Baden-Württemberg.
Meike hat noch nicht einmal alle Umzugskartons ausgepackt, da muss sie auch schon eine Mordermittlung leiten. In der Stuttgarter Hölderlinstraße wurde die junge Schauspielschülerin Katarina „Katie“ Swoboda tot in ihrer Wohnung gefunden – erwürgt! Ihr verpeilter Nachbar Tim hatte am Abend bei ihr erst Streit und Lärm gehört und danach nichts mehr. Weil das so ungewöhnlich war, hat er schließlich von seinem „Notfallschlüssel“ Gebrauch gemacht und die Tote entdeckt.
In der Wohnung sieht es aus wie nach einem Wirbelsturm. Es hat also wirklich ein Kampf stattgefunden. Worum es dabei gegangen ist, hat der Nachbar leider nicht mitgekriegt.
Eine Tote und ein toxisches Umfeld
Meike und ihre neuen Kolleg:innen nehmen das Umfeld der Toten unter die Lupe. Das scheint ziemlich toxisch gewesen zu sein. In der privaten Schauspielschule, die Katie besucht hat, ist der Konkurrenzdruck hoch. Es herrscht ein Hauen und Stechen um die verfügbaren Rollen. Mobbing, Intrigen und Erpressung sind keine Seltenheit.
Bei Katies Nebenjob, dem Synchronisieren einer Trickfilmserie, geht es nicht besser zu. Die Firma, für die sie da gearbeitet hat, ist eine kleine Klitsche mit einem despotischen Chef und, oh Wunder, ständig wechselnden Mitarbeitern.
Das Geschäftsgebaren des Inhabers Simon Weselka ist mehr als suspekt. Ich werde sicher nicht die einzige Leserin sein, die diesem Mann kein Wort glaubt. Viel zu leichtgläubig waren dagegen Katie Swoboda und ihre Kollegin Jennifer Steinfeld. Simon Weselka hat die unerfahrenen Frauen auf perfide Weise ausgenutzt und gegeneinander ausgespielt.
Freundschaft, Missbrauch und Gewalt
Könnte auch eine Frau Katie ermordet haben? Oder verrennen sich die ermittelnden Beamten da? Liegt das Mordmotiv vielleicht in einem ganz anderen, sehr privaten Bereich? Zwischen die Kapitel eingestreut sind nämlich die Kindheitserinnerungen einer unbekannten Person, die in der Ich-Form von einer unverbrüchlichen Freundschaft, von Gewalt und Missbrauch erzählt.
Sollte das Katies Geschichte sein, müsste die Polizei auch in dieser Richtung ermitteln. Doch davon wissen die Beamten nichts.
Als es im Umfeld der Schauspielschule zu einem Suizidversuch kommt, sieht die Sache wieder ganz anders aus. Ist das ein Schuldeingeständnis?
Im Verlauf der Ermittlungen stoßen Meike und ihre Kolleginnen und Kollegen auf ein kompliziertes Geflecht aus Abhängigkeiten.
Man neigt dazu, manche Menschen hier für ihr erschreckend irrationales Verhalten zu verurteilen. Damit ist man schnell bei der Hand, wenn man ihre Geschichte nicht kennt.
Meike weiß das nur zu gut – aus leidvoller Erfahrung mit ihrer eigenen Familie. Zu verstehen, warum jemand etwas tut, bedeutet natürlich nicht, dass man das auch gutheißen muss. Die Gründe und Zusammenhänge zu begreifen, bringt aber schon viel. Auch manch ein Schweinepriester hat mal als arme S*u angefangen.
Nachvollziehbar und doch überraschend
Dieser Fall ist für Meike Masur kein leichter Einstieg. Sämtliche Verdächtigen scheinen sich untereinander zu kennen und jeder hat was zu verbergen. Wie alles zusammenhängt und wer wirklich für Katie Swobodas Tod verantwortlich ist, ist für den Leser zwar nachvollziehbar, aber doch eine Überraschung.
Bei Britt Reißmanns Stuttgart-Krimis habe ich immer einen Heimvorteil:
Straßen, Kneipen, Schauplätze, Bahnstrecken … kenn‘ ich! Neugierige Nachbarinnen, die sich unter dem Vorwand der schwäbischen Kehrwoche im Treppenhaus herumdrücken, um mitzukriegen, was bei den anderen Hausbewohnern passiert, die kenn‘ ich auch. Und nun zieht die Romanheldin auch noch bei mir in den Nachbarort! 😉 Bei dieser Gelegenheit: Schöne Grüße an Meikes Chef: Neuhausen auf den Fildern ist eine eigenständige Gemeinde und kein Stadtteil von Ostfildern! Im Stuttgarter Speckgürtel kennt sich Rudolf Joost offenbar nicht so gut aus.
Das ist der nette Nebeneffekt eines Regionalkrimis: Als Einheimischer hat man bei der Erwähnung eines beliebigen Handlungsorts sofort ein Bild vor Augen. Wer sich in der Region nicht auskennt, hat aber keine Nachteile. Auch den Dialekt muss man als Leser nicht zwingend beherrschen. Nur die eine oder andere Zeugin schwäbelt ein bisschen.
Amüsanter Kulturclash
Den Kulturclash zwischen Nord und Süd fand ich sehr amüsant geschildert. Und Meikes Cousin, der seine Akklimatisierungsphase ja schon hinter sich hat, lacht mit ihr und nicht über sie.
Sollte man beim Lesen das Gefühl haben, dass es da eine Vorgeschichte gegeben haben muss und NUR EIN STERBENSWORT unmöglich der erste Band einer neuen Reihe sein kann: Die Polizisten und den aufdringlichen Staatsanwalt kann man aus Britt Reißmanns Verena-Sander-Krimis kennen, die 2014 – 2016 im Diana-Verlag erschienen sind. Oder, noch länger zurückliegend, aus der Thea-Engel-Reihe (Emons Verlag, 2005 – 2009).
Als Neuling im eingespielten Team
Wer die Vorgänger-Reihen gelesen hat und sich an einzelne Personen und Ereignisse erinnern kann, darf sich als Insider fühlen. Alle anderen müssen sich, genau wie Team-Neuling Meike Masur, die relevanten Details von ihren Kollegen erklären lassen. Kein Problem! Dass ein eingespieltes Team gemeinsame Erinnerungen hat, ist normal.
Wenn die Meike-Masur-Krimis bei Saga/Egmont in Serie gehen, haben wir ja nun alle Chancen, selbst zum Insider zu werden. Ich wäre gern bei MMs weiteren Ermittlungen in Stuttgart und Umgebung dabei!
Vielleicht kommt sie ja sogar mal in Neuhausen zum Einsatz. Die „Fasnet“ (Fasching, Karneval) ist hier zum Beispiel ein sehr ernstes Thema …
Die Autorin
Britt Reißmann, geboren 1963 in Naumburg/Saale, war Intarsienschneiderin und Sängerin, bevor sie für die Mordkommission Stuttgart zu arbeiten begann. Seitdem veröffentlichte sie zahlreiche Krimis, die u. a. mit dem Delia-Literaturpreis ausgezeichnet wurden.
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ASIN/ISBN: 3987500808 |