'Die Nebel des Morgens' - Seiten 097 - 202

  • Für sogenannte Bankerte, Kegel oder Bastarde gab es keine Unterhaltszahlungen - wo kämen wir denn dahin? Denn Gibichs Kinderzahl ist eher durchschnittlich. Sind ja sehr viele Frauen zur Verfügung auf so einer Burg und verweigern dürfen die sich nicht. Ob sie's wollten, ist eine unlösbare Frage. Hatte vielleicht auch das Versprechen von einem Vorteil, was mit dem König gehabt zu haben.
    Hagens Goldlösung ist also noch sehr human und schlau, denn auch nicht anerkannte Kinder strebten häufig und gewaltsam nach Macht.
    Das hat so manches "echte Königskind" nicht überlebt.


    Interessant, was Ihr zu den Kursiv-Teilen sagt.
    Mein einziges Argument: Beim zweiten Lesen erhöht sich dann der Genuß! :-]
    Aber das ist vielelicht nur Autorenwunsch!


    Viola

  • Zitat

    Original von Viola Alvarez
    Interessant, was Ihr zu den Kursiv-Teilen sagt.
    Mein einziges Argument: Beim zweiten Lesen erhöht sich dann der Genuß! :-]
    Aber das ist vielelicht nur Autorenwunsch!


    Ich lese sehr, sehr, sehr selten ein Buch zweimal. Wenn, dann in anderer Sprache. :grin
    (Obwohl ich hier in diesem Fall schon geneigt bin, eine Ausnahme zu machen. :-) )


    Btw, gibt es schon Überlegungen, dass Buch in anderen Ländern auf den Markt zu bringen?

  • Auch diesen Abschnitt habe ich voller Begeisterung beendet und nur schweren Herzens schaffe ich es, das Buch mal zur Seite zu legen!
    Ich bin mittlerweile voll und ganz in dieser Geschichte gefangen!
    Sprachlich begeistert mich das Buch immer noch. Vieles könnte ich rausschreiben, da es so schön formuliert ist!


    Die Einschübe der Erinnerungen machen langsam Stück für Stück einen Sinn und finde sie mittlerweile auch fast so spannend wie die Geschichte Bryndts.


    Bewegend finde ich Bryndts Emotionen, wenn sie mal aus ihm herausbrechen. Ich kann seinen Schmerz, seine Trauer regelrecht spüren und leide still mit ihm, auch wenn ich ja noch gar nicht weiß, was genau wie geschehen ist!


    Den Aufbau der Geschichte weiß ich immer mehr zu schätzen. Es unheimlich spannend und packend geschrieben. Die kleinen Häppchen der bekanntesten Ereignisse der Sage, die man immer wieder zu lesen bekommt, lassen einen atemlos weiterlesen, denn wie war es "wirklich"? Ich hoffe, Ihr versteht, was ich mit dieser merkwürdigen Satzkonstruktion sagen will!


    Siegfried bekommt seinen Auftritt in diesem Abschnitt und gerade die Schilderungen seiner Person haben mich als Siegfried-Fan natürlich außerordentlich interessiert.
    So wie ich ihn mir vorgestellt habe ist er nicht (mehr), aber dennoch halte ich (noch) an meiner Zuneigung für ihn fest, auch wenn ich ihn nicht mehr mit meinen "kindlichen" Augen sehe. :grin


    Hagen mochte ich als Kind nie, mittlerweile schätze ich ihn sehr und ich weiß jetzt schon, dass ich an seinem Ende Rotz und Wasser heulen werde. Ich mag den alten Kerl mittlerweile sehr!
    Bei Hagen interessiert mich derzeit am brennendsten, ob er mit Dankwart wirklich verwandt ist und was er aus seiner Vergangenheit, bezüglich seiner Familie verheimlicht.


    Gunther scheint irgendwie immer noch ein Kind zu sein, Krimhild kommt kaum zur Sprache und das, was erzählt wird, läßt sie für mich nicht mehr schön sein! Gernoth ist absolut einfältig und weckt bei mir irgendwie nur Abscheu.
    Giselher scheint noch der liebenswerteste der drei Brüder zu sein.


    Siegfried und alle Nachkommen Gilbichs sehe ich als Opfer der falschen Erziehung ihrer Eltern, vor allem Siegfried und Krimhild. Ich habe Mitleid mit den beiden, denn wären sie nicht so verhätschelt bzw. so abgeschoben worden, hätten aus ihnen andere Menschen werden können. (Ihr seht, hier spricht die Mutter aus mir. ;-))


    Zitat

    Original von milla
    Als die beiden riesigen Kämpfer der Sachsen als Boten eintreffen und voller kindlicher Begeisterung Hagen begegnen, musste ich laut lachen. Diese harten Kämpfer benehmen sich wie Fans bei der Begegnung ihres Idols, welch herrliche Szene! :lache


    Ja, da ging es mir genau wie Dir! Köstlich!


    Aber auch die Szene am Sterbebett von Siegfrieds Mutter hätte ich lauthals lachen können, wäre es nicht so traurig gewesen, wie wenig sie scheinbar Wert war, ausgenommen für Siegfried selber.


    Zitat

    Original von Grisel
    Schön gemacht, wie die sagenhaften Elemente größtenteils durch Siegfrieds blühende Fantasie selbst eingebracht werden. Da haben wir den "Schmied" Mime, wir haben einen namenlosen "Zwerg", der von schnell zu unsichtbar wird, also Alberichs Gegenstück, und Schatz und Drache haben wir auch. Schön gemacht. Vor allem die Überlegung seiner Umgebung, naja, Riesen, Zwerge, große und kleine Menschen gibt es, aber wie war das mit dem Drachen? :grin


    :write :write :write


    Ich finde, in vielen kleinen Momenten der Geschichte gibt es Hinweise auf die Sage, z.B. habe ich die Reaktion Uotes auf Krimhilds Traum, dass man ihren zukünftigen Mann besonders schützen müsse, mit der einzig verwundbaren Stelle Siegfrieds und der Markierung auf dessen Wams (vorgeblich ja zum Schutz, was letztendlich aber sein Verhängnis wurde) in Verbindung gebracht.


    Viola, das hast Du wirklich ganz, ganz wunderbar gemacht! :anbet

  • Was das Rätselraten um die Figuren angeht, ist ja schon mehr als alles gesagt worden. Ich wundere mich etwas, weil erzähltechnisch so gar nichts aufzufallen scheint, und frage mich schon, ob ich mir die Mehrschichtigkeit dieses Romans vielleicht doch nur einbilde ...??? :wow


    Den Hauptteil der Geschichte bildet Bryndts Erzählung, die er als Ich-Erzähler vorträgt. Er erzählt auch von den Ereignissen, die weit vor seiner Geburt liegen, kommentiert sie, färbt die Charakterisierung jeder Figur. Bryndt ist (bislang) nicht einmal handelnde Person, er ist eine Art Chronist, der rekapituliert, woher er und alle die, die in der Geschichte handeln, jeweils kommen -- im genealogischen Sinne.
    Die Dialoge all der Personen, die Bryndt oft genug gar nicht kennen kann, sind sehr salopp, geradezu zeitgenössisch. Und wenn er die Herkunft seiner Mutter, seine müttelichen Ahnen in den hellsten Farben schildert, die Ahnen der ihm verhaßten Burgunderkönige sowie Siegfried und seine Sippe finster zeichnet und bis ins Lächerliche karikiert, dann werde ich als eine, die sich selbst unter die Erzähler zählt und mit den Mitteln dieses "Handwerks" vertraut ist, in gewissem Sinne argwöhnisch.


    Zugegeben: ich bin immer wieder fasziniert von Ich-Erzählern. Ein Schriftsteller wählt den ja nicht ohne Grund. Es geht um eine scheinbar unmittelbare Nähe zwischen Erzähler und Leser, die interessanteste List, die ein Autor anwenden kann; denn vielfach wähnt sich der Leser dabei auch in unmittelbarer Nähe zum Autor und glaubt, den Autor selbst aus dem Text sprechen zu hören.


    Die Frage bleibt bestehen: Stimmt die Sicht der Autorin wirklich vollends mit der Bryndts überein?

  • Für mich hat sich diese Frage nicht gestellt.
    Unglaubwürdige Erzähler gibt es in der Literatur zuhauf. Ich finde es ist ein interessantes und erlaubtes Stilmittel.
    Vielen ist es verhasst, auch bekannte Literaturkritiker behaupten zufrieden und erleichtert, der postmoderne Roman sei tot.


    Eine Mehrschichtigkeit ist meiner Meinung mit Sicherheit vorhanden.
    Dabei ist es für mich nicht so wichtig, ob der Autor im Erzähler auftritt, außer es geht um einen deutlich autobiographisch gefärbten und beeinflussten Roman.
    Hier ist es für mich als Leser die spannende Aufgabe, die Glaubwürdigkeit des Erzählers in Frage zu stellen. Das macht letztendlich bei diesem Stil den Lesereiz zu einem großen Maße aus und da die gängige Interpretation eine andere ist, genieße ich eine Version aus anderer (teils vielleicht auch verzerrter) Sicht umso mehr.

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Für mich hat sich diese Frage nicht gestellt.
    Unglaubwürdige Erzähler gibt es in der Literatur zuhauf.


    Von "unglaubwürdig" war bei mir nie die Rede! :wow


    Zitat

    Hier ist es für mich als Leser die spannende Aufgabe, die Glaubwürdigkeit des Erzählers in Frage zu stellen.


    Nur bei autobiographisch gefärbten Texten?


    Mir geht das immer so. Man darf doch nicht Autor und Erzähler verwechseln (ebensowenig wie Dichter und lyrisches Ich -- da weiß es jeder und macht es meist -- vermutlich aufgrund der Unmengen an Betroffenheitslyrik, die im Netz kursieren -- trotzdem).


    Wenn die Haltung des Autors und die des Erzählers nicht übereinstimmen, ist das für mich noch lange kein Zeichen für Unglaubwürdigkeit -- im Gegenteil! Es ist die Begabung, auch dem anderen, dem Fremden gerecht zu werden, es in seiner Eigenart aufzuzeigen, so daß sich der Leser ein eigenes Bild machen kann und die Geschichte wirklich als eigene, neue in ihm entsteht.
    Erst auf diese Weise kann man als Leser in einen Diskurs zumindest mit der Stimme des Erzählers treten -- im besten Falle sogar mit der des Autors, die sich vielleicht sogar unbemerkt, weil "perspektivisch verzerrt" (= subjektiv durch die Brille des Erzählers geschildert) durch eine der Figuren äußert.


    Oder glaubst du im Ernst, die Positionen "meiner" Erzählhaltungen wären bis ins kleinste meine eigenen? ;-)

  • Zitat

    Original von Iris
    Und wenn er die Herkunft seiner Mutter, seine müttelichen Ahnen in den hellsten Farben schildert, die Ahnen der ihm verhaßten Burgunderkönige sowie Siegfried und seine Sippe finster zeichnet und bis ins Lächerliche karikiert


    Wenn Brynd die Figuren so zeichnet, kann er auch unglaubwürdig sein.
    Das muss ich als Leser mir bewusst sein und selbst herausfinden, ob seine Beschreibungen stimmen oder nicht.


    Zitat

    Original von Iris


    Nur bei autobiographisch gefärbten Texten?


    ich meinte nur den Unterschied bei einem autobiographischen Text, indem der Autor einen Alten Ego benutzt und einem fiktiven Text.


    Zitat

    Original von Iris
    [Oder glaubst du im Ernst, die Positionen "meiner" Erzählhaltungen wären bis ins kleinste meine eigenen? ;-)


    Nein! :grin

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Wenn Brynd die Figuren so zeichnet, kann er auch unglaubwürdig sein.


    Das ist mitnichten unglaubwürdig, sondern der natürlichen, dem Menschen nun mla wensenhaften Subjektivität geschuldet. Bryndt kann die Menschen nun mal nur so sehen, wie er sie erlebt hat, bzw. wie man ihm von ihnen erzählt hat -- und prompt stehen die Vorfahren seiner Mutter in einem hellen Licht und die der Burgunderkönige etc in dreckiger Finsternis. Daß er das so sieht, macht ihn als Erzähler keineswegs unglaubwürdig und als Mensch schon gar nicht! Ich verabscheue geradezu diejenigen, die einem beständig was von "objektiven Wahrheiten" vorfaseln und einen absoluten Standpunkt einnehmen -- genau das tut Bryndt nicht.
    Er versucht ja auch immer wieder, der anderen Seite trotz seines Abscheus gerecht zu werden, was ihn in meinen Augen zu einer sehr ehrenwerten Person macht -- aber keineswegs zu einem objektiven Erzähler.
    zumal es ohnehin keine objektiven Erzähler gibt -- das ist m.A.n. nur die billigste Form der Täuschung!


    Zitat

    Original von Herr Palomar


    Nein! :grin


    Auf nichts anderes will ich hinaus. :grin



    Und ich schätze diese Doppelbödigkeit in Violas Roman sehr. Mich stört auch überhaupt nicht die moderne Dialogführung oder die ebenso moderne hochreflektierte Erzählweise. Ich bin der Überzeugung, daß das Geschichtliche hier so gut wie überhaupt keine Rolle spielt und daß das völlig beabsichtigt ist, zumal es sehr kunstvoll verarbeitet ist.
    Das Ganze erinnert mich ständig an die klassische attische Tragödie (Aischylos, Sophokles, Euripides), an die Methode, einen Stoff, den man als bekannt voraussetzen kann, mit neuen Motivationen zu unterlegen. Auch die mythischen Stoffe dieser Dramen wurden für damalige Verhältnisse modern erzählt. Das mythische Gewand diente der Verfremdung; es sollte eine Distanz schaffen, um das eigentlich wichtige Element an diesem Stoff deutlich herauszuarbeiten.


    Aber ich sag mal, das sollte man erst am Schluß behandeln, sonst muß ich noch vorgreifen ...

  • Ich habe in meinem Schlußpost das ganze als durchaus modernes Thema, als Parabel, bezeichnet und bin gespannt, ob icht dazu dann etwas sagt.


    Ich hatte im ersten Teil ja schon den Satz von Byrndt herausgehoben, in dem er erklärt um Siegfreid und Gunther zu einseitig verurteilen wisse er zuviel.

    Nemo tenetur :gruebel


    Ware Vreundschavt ißt, wen mahn di Schreipfelerdes andereen übersiet :grin


    :lesend  :lesend

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  • Zitat

    Original von Iris
    Er versucht ja auch immer wieder, der anderen Seite trotz seines Abscheus gerecht zu werden, was ihn in meinen Augen zu einer sehr ehrenwerten Person macht


    Dem stimme ich zu und habe es im ersten Abschnitt wie auch Beowulf auch schon so ähnlich gesagt.

    Zitat

    Original von Herr Palomar
    [Bryndt trägt den Roman als Erzähler, ist aber emotional stark betroffen von den Ereignissen, die auch ihn geprägt haben, nehme ich an.Er verteilt seine Sympathien trotzdem gerecht, ein Zeichen von Charakter.


    Zitat

    Original von beowulf
    Ich hatte im ersten Teil ja schon den Satz von Byrndt herausgehoben, in dem er erklärt um Siegfreid und Gunther zu einseitig verurteilen wisse er zuviel.




    Zitat

    Original von Iris
    Und wenn er die Herkunft seiner Mutter, seine müttelichen Ahnen in den hellsten Farben schildert, die Ahnen der ihm verhaßten Burgunderkönige sowie Siegfried und seine Sippe finster zeichnet und bis ins Lächerliche karikiert, dann werde ich als eine, die sich selbst unter die Erzähler zählt und mit den Mitteln dieses "Handwerks" vertraut ist, in gewissem Sinne argwöhnisch.


    Zitat

    Original von Iris
    Er versucht ja auch immer wieder, der anderen Seite trotz seines Abscheus gerecht zu werden, was ihn in meinen Augen zu einer sehr ehrenwerten Person macht


    Iris, ich verstehe dann leider immer noch nicht so ganz, warum du dann trotzdem argwöhnisch wurdest. :gruebel


    Zitat

    Original von Iris
    Die Frage bleibt bestehen: Stimmt die Sicht der Autorin wirklich vollends mit der Bryndts überein?


    Ich bin gespannt, wie Viola diese Frage beantworten wird. :-)

  • Liebe Iris,


    die Frage würde ich auch gern mal stellen. Denkt Bryndt, wie ich denke?
    Und wenn dem nicht so wäre, was sagt es über die Erzählweise aus?
    Ich werde nächste Woche ein abschließendes Statement zum Roman schreiben, da werde ich mich sicher auch dazu noch mal äußern.


    Viola

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    [Bryndt trägt den Roman als Erzähler, ist aber emotional stark betroffen von den Ereignissen, die auch ihn geprägt haben, nehme ich an.Er verteilt seine Sympathien trotzdem gerecht, ein Zeichen von Charakter.


    "Gerecht" gefällt mir persönlich nicht, weil der Begriff in unserer Welt immer einen Anschein von Objektivität hat. Bryndt urteilt aus seiner subjektiven Sicht, geprägt von seinen Erfahrungen und der Art, wie er sie verarbeitet hat. Eine andere Person hätte die betreffenden Ereignisse und Personen anders beurteilt -- und das hätte keineswegs "ungerecht" oder besser gesagt unlauter gewesen sein müssen. Es wäre allein der Tatsache geschuldet, daß eine andere Person eine andere Person ist, die andere Erfahrungen macht.


    Bryndt rekapituliert aus einer ganz speziellen Sicht: Jemand (ich verpetz jetzt nicht, wer es ist, auch wenn ich es schon weiß) hat ihn verschleppen lassen, um ihn zu töten. Dieser Jemand stammt aus der verhaßten Sippschaft.
    Zuvor hat Bryndt viele Jahre als Barde immer wieder die "andere" Variante der Geschichte gehört, die als eine Art "offizielle Wahrheit" gilt. Seine Mutter ist an der Tragödie irre geworden (das ist aus ihrem Charakter auch vollkommen logisch, wenn ich mal mir Aristoteles' Poetik daherkommen darf). Als Kind hat Bryndt die Tragödie miterlebt.
    Und das alles soll seine Erinnerungen nicht gefärbt haben?


    Wo doch jeder von uns die Erfahrungen macht, daß Erinnerungen sich verändern. Schlimme Erlebnisse, Verlust, Unglück, relativiert sich aus der zeitlichen Distanz oder verschlimmert sich, wenn es immer wieder neu heraufbeschworen wird.


    Außerdem kennt er alles, was er nicht selbst schon so bewußt erlebt hat, daß er es aus dem eigenen Gedächtnis erzählen kann, ausschließlich aus den Erzählungen anderer, vornehmlich denen seiner Mutter -- und die sollen nicht verfärbt sein? Oder soll er tatsächlich in der Lage sein, trotz seiner eigenen subjektiven Einstellung, diese Erzählungen in "neutrale" Erinnerungen umzuwandeln?


    Das wäre mir dann doch zu simpel. Dazu ist der Roman zu klug gewoben. ;-)


    Ich bin nicht in ethischer Hinsicht argwöhnisch was die Person Bryndts angeht, ich mißtraue nicht seiner Lauterkeit, aber ich "mißtraue" der "Authentizität" seiner Erinnerung. Es ist eine Sicht der Dinge. Eine plausible und lautere -- aber eben eine von vielen möglichen.


    Ich glaube nicht, daß Erinnerung Wirklichkeit wiedergibt, sondern "Bild" der sich wandelnden Realität ist, die jede Person sich durch ihre Erkenntnisse, ihre Erlebnisse und Handlungen erschafft (mit dieser Auffassung kommt man in den Ruf ein "beinharter Aristoteliker" zu sein :lache).


    Die Kriterien "wahr" und "falsch" gelten in der Logik und in der Mathematik -- für die Realität sind sie unangemessene Kriterien. Hier gelten eher Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit und Plausibilität.



    Zitat

    Original von Herr Palomar


    Ich bin gespannt, wie Viola diese Frage beantworten wird. :-)


    Wenn es nach mir geht, darf sie das auch gerne für sich behalten, wenn sie das Geheimnis wahren will. Jeder von uns wird da ohnehin seine eigenen Schlüsse ziehen. Ich finde allein die Möglichkeit dieses Spannungsfeldes viel interessanter als dessen Auflösung.

  • Zitat

    Original von Viola Alvarez
    Ich habe hin und wieder herausgelesen, dass sich die kuriven Erinnerungen aus dem "Land der Untergegangenen" nicht so leicht erschließen. Macht es das Lesen - und Raten - spannender? Oder behindert es, der Handlung flüssig zu folgen?
    Ich liebe solche Einschübe, habe bis jetzt kein Buch ohne geschrieben und würde mich gerne belehren lassen.


    Vielen Dank,


    Viola



    Meinen Lesefluss behindern diese eingeschobenen Erinnerungen nicht, im Gegenteil, mir gefällt diese Art, langsam immer mehr zu erfahren. :-)

  • Rosenstolz, ja so geht es mir auch! Vor allem wird eine unheimliche Tragik damit hervorgerufen, je weiter wir in den Erinnerungen kommen. Gerade hier laufen mir die meisten Schauer über den Rücken und sie bedrücken mich am meisten....

  • Da wird er nun vom Sockel gestoßen der liebe Siegfried, aber auf eine Art und Weise, daß er trotzdem noch Sympathiepunkte sammeln kann.


    Siegfried erinnert mich ja stark an Bernard Cornwells Lancelot in der Arthur-Trilogie (was meinst Du, Grisel?), allerdings hat Lancelot wirklich keine Sympathiepunkte mehr bekommen.


    Grundsätzlich finde ich es sehr schön, daß man durch den Aufbau der Geschichte nicht nur die Charaktere kennen lernt, sondern auch durch was sie geprägt sind.


    Beowulf hat, glaube ich, im ersten Teil erwähnt, daß er jeden zweiten Satz unterstreichen könnte. Jeder zweite ist es nicht gerade, aber es sind so viele interessante Sätze gerade zur Thematik Erinnern, Vergessen etc. enthalten, daß ich diesen Abschnitt sofort nochmal lesen könnte und mich jetzt schon auf die vielen humorvollen Passagen freuen würde. À propos Humor, diesbezüglich gefällt mir sehr gut, wie Anachronismen eingesetzt sind und zu besonders humorvollen Passagen führen.


    Historischer Roman? Das Prädikat oder Genre ist egal. Für mich ist das Buch bisher einfach nur märchen- und traumhaft.

  • Zitat

    Original von Pelican
    Siegfried erinnert mich ja stark an Bernard Cornwells Lancelot in der Arthur-Trilogie (was meinst Du, Grisel?), allerdings hat Lancelot wirklich keine Sympathiepunkte mehr bekommen.


    Stimmt, die Herangehensweise ist ähnlich, der strahlende Held, der trotzdem, wie Siegfried immer mindestens einen dunklen Fleck hat (der Ehebruch), wird komplett demontiert. Wie mich das bei Cornwell gefreut hat, da ich Lancelot noch nie leiden konnte. :-]
    Und natürlich die Selbstverliebtheit. Das meintest Du, oder?