Lea - Pascal Mercier

  • Während im „Nachtzug nach Lissabon“ ein Professor sein altes Leben verlässt, indem er sich nach einer Eingebung in den Zug setzt, werden einige Figuren aus der Novelle „Lea“ das Gleiche erleben, mit einem Unterschied: Sie tun diesen Schritt nicht freiwillig, weil dieser Zug mit tödlicher Geschwindigkeit gen Fels rast.


    Nach einer eher zufälligen Begegnung zweier Fremder im Straßencafé der Provence werden sie zu Verbündeten, entdecken Parallelen zwischen ihren Existenzen und werden sich nach kurzer Zeit ihrer Rolle bewusst, nisten sich dort ein und folgen ihrer Bestimmung während der gesamten Heimfahrt nach Bern. Adrian Herzog als Zuhörer, ein an sich zweifelnder Chirurg und ebenso zweifelnd als Familienvater. Martijn van Vliet, als erfolgreicher Kybernetiker und Erzähler. Erzähler der Geschichte seines Lebens, seines Schicksals und allem voran das seiner Tochter Lea.


    Lea, nachdem sie durch den Tod der Mutter verstört durchs Leben stolpert, wird eines Tages von Geigenklängen aus der Bahnhofshalle aufgerüttelt, ihre Augen leuchten, findet wieder einen Platz im Leben, nimmt Geigenunterricht, probt Tag und Nacht, bis sie mit dreizehn ihren ersten öffentlichen Autritt hat. Martijn ist von der Entwicklung wenig begeistert. Anfangs unterstützte er noch ihre aufflammende Lebensfreude, doch mit jedem weiteren Tag entfernt sich Lea von ihm, flüchtet in ihrem Raum von Klängen, den sie sich mit rasendem Ehrgeiz errichtet hat und sich darin abschottet, in dem Martijn sich ausgeschlossen fühlt. Und doch nährt ihn die Eifersucht, Verletztheit und Liebe, wird Sklave ihrer Wünsche, vernachlässigt seine eigenen Bedürfnisse, wird zu Leas Marionette, verliert die Zügel seines Verstandes, taumelt durch seine Machtlosigkeit in den Abgrund, in den sie ihn hineinzieht, sie, die vom Druck des Erfolges gepeinigt wird und zerbricht.


    Die Geschichte, die sich als Klischee anhört, rettet sich durch Merciers ausgefeilte Sprache, die eindringlich, bedrückend, meisterhaft komponiert ist und sich mit ihr in die Tradition alter Meister einreihen darf. Melancholisch, hoffnungslos, zerschmetternd. Manchmal erhalten diese Sätze einen pathetischen Anstrich, der dem Genuss jedoch keinen Abbruch tut. Wer sich an verregneten Tagen also in seinem Trübsinn baden möchte, dem sei das Buch ans Herz gelegt


    Gruß,
    chip

  • Leider konnte ich mich für dieses Buch bis zur letzten Seite nicht begeistern und es ist meiner Meinung nach in keinster Weise mit dem "Nachtzug nach Lissabon" vergleichbar. Hat "Nachtzug nach Lissabon" schon phasenweise Platitüden und aufgewärmte Klischees vermittelt, so schießt dieses Buch meiner Meinung nach den Vogel ab.


    Über 250 Seiten werden nichts als Banalitäten beschrieben. Jeder versinkt in Selbstmitleid, besonders der Protagonist und Vater von Lea sieht sich sehr gerne in der "Opfer- und Märtyrerrolle". Mit solchen Menschen habe ich "im wirklichen Leben" ein Problem, und auch im "Buchleben". Merciers ausgefeilte Sprache versinkt hier im Melodramatischen, Trübsinnigen, Sentimentalen und Pathetischen.
    Außerdem hätte ich mir gewünscht, ein bisschen mehr von Adrians Schicksal zu erfahren. Er bleibt zu sehr im Hintergrund und seine Vergangenheit wird nur angedeutet.


    Für mich war es leider ein Flop.

  • ...witzig, für mich ist es völlig anders. Ich hab den "Nachtzug" bis Heute immer noch nicht gelesen. Eigentlich kann ich mir das kaum leisten... Aber "Lea" hat mich begeistert!


    Na ja, zum Glück sind wir alle verschieden.


    Schönen Sonntag! :wave


    lesefieber

  • "Lea" erzählt die Geschichte einer Obsession fürs Geigenspiel, die anfangs wie ein Rettungsanker für die nach dem Tod ihrer Mutter verstörten Tochter wirkt, sich aber mehr und mehr als Entfremdung zwischen Vater und Tochter herausstellt. Das ganze Buch über ist klar, es wird kein gutes Ende nehmen, so liegt über all dem Erzählten eine tiefe Hoffnungslosigkeit, Melancholie und Trübsinnigkeit, die Mercier mit einer unglaublichen Sprachvirtuosität und Wortgewalt an den Leser weitergibt. Gestört hat mich teilweise der Pathos; alle Gefühle wurden in der Erinnerung des Vaters als extrem dargestellt, seien es nun die Höhenflüge oder die tiefen Stürze. Es gibt keine Normalität in den Emotionen, alles äußert sich in Superlativen und wirkt rückblickend als deutlicher Hinweis auf das unabwendbare Schicksal. Mir war es stellenweise einfach zu dick aufgetragen, was aber nicht darüber hinwegtäuschen soll, daß "Lea" ein sprachlich außergewöhnlich ausgeklügeltes, finessenreiches Werk ist, das ich mit großem Vergnügen gelesen habe. "Nachtzug nach Lissabon" hat mir einen Tick besser gefallen, doch auch die vorliegende Novelle wird mir in guter Erinnerung bleiben.
    Sehr interessant auch das Nachwort des Autors in der Taschenbuchausgabe, in der er berichtet, wie er mit unterschiedlichen Erzählperspektiven experimentiert hat, bis er sich schließlich auf die Begegnung zweier Fremder und die in der Folge entstehende Intimität festgelegt hat.

  • Ein ungewöhnliches Buch, das ich trotz des melancholisch-tränendrüsedrückerischen Grundthemas nicht in die Kitsch-Ecke verbannen werde.
    Mit der Figur des Vaters bin ich - ebenso wie andere vermutlich auch - nicht so wirklich warm geworden. Was das Buch gerettet hat, war die ungewöhnliche Perspektive. Es ist interessant, dass das Nachwort hier bereits erwähnt wurde, sonst hätte ich es jetzt ins Spiel gebracht. Wenn ich mir vorstelle, die Novelle wäre aus der Sicht des Vaters oder der Tochter geschrieben worden, glaube ich nicht, dass es so gut funktioniert hätte. Merciers Leistung ist nicht, eine anrührende Geschichte erzählt zu haben, sondern sie durch diesen Schachzug von einer Selbstmitleids-Geschichte in eine Mitleids-Geschichte verwandelt zu haben.
    Ich gebe 9 von 10 Punkten.


    EDIT: Ich hatte übrigens diese Ausgabe:

    Logisch: Wer immer den anderen hinterherläuft, wird niemals Erster sein.

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Eny ()

  • Richtig, ein ungewöhnliches Buch. Aber ich habe es sehr gerne gelesen, nicht zuletzt deshalb, weil "Musik" dort von einer anderen Perspektive beleuchtet wird, als sonst häufig.
    In gewisser Weise IST es kitschig, ja. Für mich dennoch faszinierend.
    8 von 10 Punkten gibt's von mir.

    "Ich bin dreimal angeschossen worden – was soll man da machen." (Robert Enke)


    "Accidents" happen in the dark.