Mordecai Richler: Wie Barney es sieht

  • Weil ich Richlers Erstling, der gerade erst - vierzig Jahre nach der Erstveröffentlichung - in Deutschland erschienen ist, so abgestraft habe, möchte ich zur Ehrenrettung des Schriftstellers eine Rezension zu seinem wunderbaren "Wie Barney es sieht" nachreichen, die ich vor einigen Jahren geschrieben habe:


    Der achtundsechzigjährige Kanadier Barney Parnofsky blickt auf sein Leben zurück, die drei Ehen, die Sturm-und-Drang-Zeit im Paris der frühen Sechziger, verstorbene Freunde, leichtfertige Eheschließungen, künstlerische Ambitionien - und einen reichhaltigen Fundus über die Zeit angehäufter Feinde, allen voran Initmus Terry McIver, dessen erfolgreiche Autobiographie sich insbesondere Barneys Verfehlungen widmet. Parnofsky selbst hat viel Geld mit Schund-Fernsehserien gemacht, und er hadert neben der Einsamkeit hauptsächlich mit zwei Dingen: Dem vermeintlichen Mord an seinem besten Freund Boogie, von dem er zwar freigesprochen wurde, der ihm aber über dreißig Jahre anhängt wie ein Furunkel am Gesäß - und der Tatsache, daß ihn Miriam, seine dritte Frau, verlassen hat - der einzige Mensch, der ihm je wirklich etwas bedeutet hat. Parnofsky ist nicht gerade ein Altruist, sondern ein saufender, spitzfindiger, gemeiner, lustiger, verfressener Kerl, der pausenlos dicke Zigarren raucht und seine Widersacher mit überaus komischen anonymen Briefen traktiert. Der schreibende Barney hat Alzheimer im Frühstadium; die Lebensgeschichte ist gespickt mit Gedächtnisaussetzern, die sich mit Beschönigungen (Originaltitel des Buches: "Barney's Version") abwechseln. Mit Dutzenden Fußnoten hat Parnofsky-Sohn Mike das Manuskript korrigiert - eine stilistische Feinheit, die dem Buch eine sehr persönliche, anrührende Note verleiht.


    Richler schreibt fantastisch, stilistisch vergleichbar mit Updike und Roth; "Wie Barney es sieht" hat viel mit "Sabbaths Theater" gemein, wirkt aber persönlicher und verletzlicher, eben wie die authentische Offenbarung eines sehr eloquenten alten Mannes, der rückblickend vor allem Fehlentscheidungen diagnostiziert, aber nicht bereit ist, diese zu bereuen - wozu auch? Das Buch strotzt vor Originalität und Lakonik, der sprunghafte Aufbau wirkt perfekt komponiert - sehr unterhaltsame Lektüre.

  • Wahnsinn! Solche Bücher kauft man sich in der gebundenen Ausgabe und hütet sie wie einen Schatz - ich habe mir eben die anderen Amazon-Besprechungen angesehen und kann nicht fassen, dass ich nie davon gehört habe. Das kriegt der Liebste zum Geburtstag.

  • So, nun habe ich Barney aus dem SUB gezogen, 33 Seiten gelesen, und trau mich gar nicht, weiterzulesen.
    Zum einen ist es derartig brillant, dass ich mich frage, ob ich es mir nicht doch noch ein wenig aufsparen sollte. Zum anderen steckt es schon jetzt so voller witziger Ideen und famoser Formulierungen, dass ich mich schon im vorraus darueber aergere, mir am Ende nur einen Bruchteil gemerkt haben zu koennen :help

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Richler vom Feinsten, kann ich zu diesem Roman nur sagen.


    Wie der Titel es sagt, es geht um Barney. Der ist ein versoffener alter Kerl mit einem untrüglichen Instinkt dafür, wie man Partys sprengt, Leute vergrätzt und sich selbst in die Scheiße reitet. Als einziger seiner Künstlerclique hat er seine intellektuellen Ideale über Bord geworfen, ist Fernsehproduzent für lausige Serien und dabei reich geworden.
    So sehen es zumindest die anderen. Als sich erste Anzeichen einer Demenz zeigen, beschließt er, den Spieß umzudrehen und aufzuschreiben, wie Barney es sieht.
    Denn denn es gibt zwar so einige dunkle Flecken in seiner Vergangenheit, aber offenbar sind die Dinge nicht so wie sie scheinen. Das Verschwinden seines Freundes Boogie etwa, das ihm eine Mordanklage einbrachte, die mangels einer Leiche mit einem Freispruch endet. Und doch, keiner glaubt an seine Unschuld. Oder das tragische Schicksal seiner ersten Frau, seine katastrophale zweite Ehe.
    Voll teilweise brutaler Selbstironie erzählt Barney seine Version der Geschichte, offen und selbstkritisch, aber dennoch gestattet er sich selbstbewusst, ein Arschloch zu sein. Ob seine Sicht der Dinge nun der Wahrheit entspricht, bleibt fraglich. Nicht nur, weil seine fortschreitende Krankheit zunehmend Gedächtnislücken und Verwirrung mit sich bringt, sondern auch weil ein solcher Stinkstiefel wie Barney sein Umfeld nur durch eine dunkelgraue Brille betrachten kann.


    Der Roman spielt größtenteils in Montreal und ist ein Kaleidoskop der kanadischen Gesellschaft und seiner Konflikte im zwanzigsten Jahrhundert: Rassendiskriminierung, die Separierungsbemühungen des frankophonen Quebec, die Konflikte zwischen Juden und WASPs: es gibt nichts, wozu Barney nicht seine ganz eigene, zynische Meinung hätte. Denn genauso gnadenlos, wie er mit seinen eigenen Fehlern und Verfehlungen umgeht, betrachtet er auch seine Umwelt.


    Das alles ist, wie Tom es ausdrückte, perfekt komponiert: Die langsame Enthüllung des Geheimnisses um Barneys verschwundenen Freund erfolgt in meisterhaft getimeten Häppchen, und die Wahrheit kommt buchstäblich in den letzten paar Sätzen des Romans ans Licht. Barneys Demenz beginnt schleichend, spiegelt sich in Sprache und Text, ist zunächst nur ein wenig lästig, stellenweise sogar lustig, wird aber zunehmend tragisch. Aber dennoch behält Barney bis zum Schluss seine Würde, denn trotz allem: es gibt Menschen, die diesen Kotzbrocken bis zum Ende lieben.


    Ein rundherum tolles Buch!

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)