'Wir fliegen' - Seiten 057 - 098

  • Der Titel erinnert mich an Bücher von Thomas Bernhard, und auch wenn Peter Stamm einen ganz anderen Stil hat als Bernhard, ist auch dieser Versuch ein Gefühl auszudrücken, dass nicht so einfach fassbar ist, für mich ähnlich gut gelungen.
    Geprägt wird die Geschichte auch durch den Schauplatz in den Bergen, in denen Luzia wohnt und der Proptagonist als Lehrer beginnt.
    Nach der ersten Gecshichte dieses Bandes schafft es Peter Stamm wieder, mich einer Figur sehr Nahe zu fühlen, obwohl ich nie so viele Bücher verbrennen würde.

  • Die Protagonisten sind diesmal deutlich älter als in den anderen Geschichten. Das Paar ist lange zusammen, die Verhaltensweisen routiniert, eingespielt, und in dieser Routine zwischen Olivia und Bruno drückt sich in dieser Situation doch eine Distanz zwischen den beiden aus. Bruno lässt nicht zu, dass Olivia erfährt, welche Beklemmungen in seinem inneren vor sich gehen. Selbst wenn sie ihm eventuell Anteilnahme und Trost bieten könnte. Ein Eingestehen der Angst würde auch gleichzeitig ein Akzeptieren der möglichen Erkrankung bedeuten.


    Das Erzähltempo ist auch sehr verlangsamt, fast minutiös. So erinnert sich Bruno in der kürze der Geschichte ausführlich zurück, als zum Beispiel seine Kinder noch klein waren, stellt sich vor, wie ihm der Arzt den Befund mitteilen wird.
    Verstärkt wird die Verlangsamung auch noch durch Brunos Arbeit im Hotel, wo nicht viel passiert.
    Fast schmerzhaft muss der Leser mit ihm die Zeit abwarten.


    Dies war eigentlich die erste Geschichte, die ich dann doch deprimierend empfinde.
    Trotzdem ist es beeindruckend, wie Peter Stamm mit der Beschreibung der Zeitabläufe in seinen Geschichten umgehen kann.

  • Die Verletzung und Der Befund haben mich erst einmal staunend zurück gelassen, da ich das Verhalten der Figuren in beiden Geschichten sehr befremdlich fand. In Die Verletzung verliebt der Protagonist sich in eine Ferienbekanntschaft und zieht vier Jahre später als Lehrer zu ihr in ein Bergdorf. Wer würde das schon tun ... zu jemandem ziehen, mit dem man seit vier Jahren eigentlich keinen Kontakt mehr hatte? Nur allein aufgrund des Versprechens wieder zurückzukommen irgendwann. Es war ja irgendwie klar, dass das schief gehen musste und das der Protagonist dann auch noch seine Bücher verbrennt, hat ihn mir nicht sympathischer gemacht.


    Wie Herr Palomar auch schon über Der Befund geschrieben hat: die Geschichte ist doch wirklich deprimierend. Obwohl ich mich Bruno noch näher fühlen konnte, als dem Protagonisten in der vorherigen Geschichte. Die Beschreibungen von Brunos Abend im Hotel sind dann typisch für Stamm, zum Beispiel die Tatsache, dass Bruno anfängt Grappa zu trinken, obwohl er den gar nicht mag.


    In der Geschichte habe ich einen Satz gelesen, den ich sehr bezeichnend für alle bisherigen Geschichten fand:
    "Er hatte sich nie viel gewünscht, hatte nur immer gehofft, dass alles so bliebe, wie es war. Aber vielleicht hatte er gerade damit das Schicksal herausgefordert." (S. 82)

  • Es sind oft so einzelne, fast versteckte Sätze in Peter Stamms Prosa, die etwas mehr verraten als die eigentliche, manchmal rätselhafte Geschichte.


    Ich hatte auch schon bei ein paar Sätzen aufgemerkt, die für mich für das "aus der Welt gefallene" der Protagonisten (bei Bruno, aber das ist wohl auch für den Erzähler aus der Verletzung der Fall) stehen.

  • Auf diese Titelgeschichte war ich besonders gespannt.


    Man wird gleich mit der angespannten Situation konfrontiert, dass der kleine Dominic von seinen Eltern nicht aus dem Kindergarten abgeholt wird. Protagonistin ist die Kindergärtnerin Angelika.
    Ihr Besorgnis hat der Autor gut herausgearbeitet, wie sie herumtelefoniert und verschiedene Stadien an Emotionen durchläuft: Besorgnis, Verärgerung, Wut.


    Schließlich nimmt sie ihn mit nach Hause. Auch ihr Freund kommt vorbei und es folgt eine fast familiäre Atmosphäre. Benno kann gut mit Kindern umgehen, spielt mit Domnic das Spiel „wir fliegen“. Angelika denkt sehr genau über diese Konstellation nach, wertet plötzlich vieles anders, zum Beispiel ihre sehr ordentliche, kinderfremde Wohnung, die auch ihr Freund ungemütlich findet.


    Am Ende, als die Eltern Dominic endlich abgeholt haben, entlädt sich das Gefühlschaos bei Angelika.


    Ich verstehe das so, dass sie durch den Abend mit Benno und Dominic ihre eigene Situation überdenkt, mit der sie nicht zufrieden ist und nicht wirklich an eine Zukunft mit Familie und Verantwortung glauben kann. Es fehlt mir aber noch ein entscheidendes Element um die Geschichte vollends zu verstehen.
    Wie so oft spart Peter Stamm etwas aus, um seinen Geschichten eine langzeitige Wirkung zu verleihen. Er bietet keine offensichtliche Lösung an, einerseits weil es sie vielleicht nicht gibt und andererseits, damit der Leser sich besser in die Verlorenheit und Verzweiflung der Figuren hinein versetzen kann. Daher sind seine Geschichten so intensiv.

  • Auch mir hat Wir fliegen - die Titelgeschichte des Erzählbandes - wiederum etwas besser gefallen, als die beiden vorangegangen. Wieder einmal gelingt es Peter Stamm die unterschiedlichen Figuren sehr gekonnt zu zeichnen und ich fühlte mich direkt hineingezogen in die Geschichte. Die Verzweiflung von Angelika darüber, das Dominik nicht abgeholt wird, ist förmlich spürbar.

    Zitat

    Original von Herr Palomar
    Schließlich nimmt sie ihn mit nach Hause. Auch ihr Freund kommt vorbei und es folgt eine fast familiäre Atmosphäre.


    Die famliäre Atmosphäre würde ich so nicht unterschrieben ... schließlich versucht Benno mit Angelika, vor den Augen von Dominik, zu schlafen - zumindest gibt es Annäherungsversuche. Befremdlich finde ich bei fast jeder der Geschichten bisher, dass die Figuren von Stamm immer alles hinnehmen und versuchen zu ertragen, anstatt sich zu wehren.

  • Zitat

    Original von buzzaldrin


    Die famliäre Atmosphäre würde ich so nicht unterschrieben ... schließlich versucht Benno mit Angelika, vor den Augen von Dominik, zu schlafen - zumindest gibt es Annäherungsversuche.


    Angelika schämt sich ja auch deswegen.


    Anderseits denkt sie: Er ist selbst wie ein Kind.


    ... Sie konnte ihn sich nicht als Vater vorstellen.


    Es kommt ihr bestimmt in diesem Moment so vor, als hätte sie zwei Kinder. :grin


    Möglicherweise ist dass das Problem, da sie auch die anderen Väter, die ihre Kinder aus der Krippe abholen, nicht als richtige Väter empfindet.
    Sie sieht diese Situation als unbefriedigend, denke ich!


  • Sie schämt sich, aber zu Beginn lässt sie es zumindest trotzdem geschehen. Auf jeden Fall denke ich, dass ihr in dem Moment schon klar wird, dass sie in dieser Beziehung und mit ihrer Situation unzufrieden ist. Wahrscheinlich nicht nur die Situation ihrer Beziehung, sondern ihre ganze Arbeit mit den Kindern empfindet sie in diesem Moment als Last.


    Bei diesen Geschichten von Stamm würde es mich manchmal sehr interessieren, wie es weitergeht: wird Angelika irgendwann aus der Toilette in der sie sich am Ende einschließt herausgekommen und ihr Leben, ihre Beziehung und ihre Arbeit ändern oder wird sie so weiter machen wie bisher. Aber das werden wir wohl leider nie erfahren. ;-)

  • Die Verletzung:
    Diese Erzählung fand ich deprimierender als die nachfolgende. Vielleicht, weil der Erzähler beinahe sein ganzes Leben zerstört, bevor er dann in den Zug steigt, um etwas Neues zu beginnen. Dabei war im ersten Absatz (Geschichte von Luzias Mutter) ja schon angelegt, dass die Beziehung mit Luzia nicht würde glücklich enden können.


    Der Befund:
    Die Erzählung hat mir gefallen, weil sie gut geschrieben ist. Aber irgendwie finde ich sie "gewöhnlicher" als die anderen Erzählungen.


    Wir fliegen:
    So ganz verstanden habe ich die Erzählung nicht, gefallen hat sie mir aber trotzdem. Mit vielen Erzählungen von Peter Stamm geht es mir so.

  • Zitat

    Original von taki32
    Die Verletzung:
    Diese Erzählung fand ich deprimierender als die nachfolgende. Vielleicht, weil der Erzähler beinahe sein ganzes Leben zerstört, bevor er dann in den Zug steigt, um etwas Neues zu beginnen. Dabei war im ersten Absatz (Geschichte von Luzias Mutter) ja schon angelegt, dass die Beziehung mit Luzia nicht würde glücklich enden können.


    Das fand ich auch sehr deprimierend an der Geschichte! Als Leser ahnt man ja eigentlich schon relativ früh, dass das einfach nicht funktionieren kann, aber der Protagonist zerstört ja wirklich fast sein gesamtes Leben, bevor auch ihm klar wird, dass er etwas verändern muss und aus dem Dorf abreist.

  • Zitat

    Original von taki32
    Der Befund:
    Die Erzählung hat mir gefallen, weil sie gut geschrieben ist. Aber irgendwie finde ich sie "gewöhnlicher" als die anderen Erzählungen.


    Da stimme ich vollkommen zu, diese Geschichte wirkt wesentlich konventioneller als die anderen.