Seidenraupenträume - Åsa Gan Schweder

  • Seidenraupenträume
    "Silkeormdrømmer", Åsa Gan Schweder, 2006

    Übersetzung aus dem Norwegischen: Maike Dörries, 2008
    Mit Illustrationen der Autorin.
    Freies Geistesleben, ISBN: 978-3772520723
    Altersempfehlung laut amazon: ab 10 Jahren


    Als ich das Buch im letzten Jahr auf der Homepage des zu meinen erklärten Kinderbuchlieblingsverlagen zählenden Verlag Freies Geistesleben entdeckte, war ich sofort Feuer und Flamme. Chinesische Gedichte haben eine unglaubliche Anziehungskraft, viele zumindest. Und ein Kinderbuch über einen chinesischen Dichter – das musste ich unbedingt haben. Ich hab bei arvelle gleich zugreifen müssen.


    Wir befinden uns auf einer kleinen Insel hinter einem Hauptbahnhof, in einem Häuschen, aus dem man durch die Fenster auf vorbeifahrende Züge sehen kann. Dort lebt Josefin mit ihrer Mutter Anemone. Sie haben nicht viel Geld, dafür aber eine Vorliebe für Tomatensuppe mit Käsebrot und chinesische Literatur. Vor allem für den Dichter Li Po, der mir aus diesem Buch schon als Li Tai Po ein Begriff war, anscheinend aber unter dem Namen Li (Tai) Bai bekannt ist und neben Du Fu zu den wichtigsten Dichtern der Tang-Epoche zählt.


    Es ist eine eigene kleine Welt, in der die beiden leben, neben den Personen an Anemones Arbeitsplatz an der Hotelbar (unter der Josefin kurioserweise sich eine Höhle bauen und die Arbeitstage ihrer Mutter verbringen darf) kommt zu Beginn niemand vor, im ganzen Buch gibt es keine gleichaltrigen Freunde. Aber die beiden haben sich, den Stapel Bücher aus der Stadtbücherei und bilden eine vollkommen harmonische, zurückgezogene, glückliche Einheit.


    Doch dann verwandelt sich der Garten, dicke Fäden bilden sich an den Büschen, Seidenraupenfäden, und eines Tages hockt Li Po, auf den Bildern entzückend alt und verschrumpelt, auf der Veranda. Josefin erkennt ihn sofort. Die Annäherung erfolgt langsam, doch schon bald ist der schweigsame Dichter ins Haus gezogen und bringt Josefin nebenbei ein wenig traditionell-chinesische Gelassenheit und Lebensart bei. Seine Vorliebe für Alkohol (die ihm schon zu seiner Zeit zugesprochen wurde) übernimmt sie dabei glücklicherweise nicht.


    Mit diesem Frühling nimmt ein wundervolles Jahr seinen Lauf. Li Po und Josefin treffen auf Scheu-Vogel, lustig struppig-rot, der sein Nest auf einem Sessel gebaut hat, und erkunden auf einem Holzkahn die Kanäle der Stadt. Li Po, woher er auch gekommen sein mag, hat keinerlei Probleme, sich zurechtzufinden, spricht Norwegisch – und er schreibt weiterhin Gedichte. Auf Josefins Zeichenblättern finden sie sich – aber auch auf Brückenmauern in der Stadt tauchen graffitiähnliche chinesische Zeichen auf. Es werden Feste gefeiert, Li Po wird ständiger Begleiter.


    Doch schon im alten China war er viel auf Wanderschaft, und so kommt mit dem Ende des Jahres die Zeit der Trauer, wenn alles ein Ende nimmt. Das Haus wurde ihnen gekündigt, die romantische Atmosphäre macht Bürotürmen Platz, Li Po ist verschwunden und hinterlässt ein gebrochenes Herz. Doch wie die Jahreszeiten ein ständiger Kreislauf sind, ist auch das Ende ein Neuanfang.


    Thematisch und atmosphärisch schwingt in diesem ungewöhnlichen Kinderbuch immer die melancholische Gelassenheit, die ich in chinesischen Gedichten so schätze, mit, obwohl es in der modernen Zeit spielt und auch Laptops und Graffitisprayer ihre Gastauftritte haben. Beides, die Hektik der modernen Zeit, aber auch wie unpassend Teezeremonien in einem Hotel wirken, bilden leise, ganz versteckte Kritiktöne, die aber nicht unbedingt dem kindlichen Leser sofort auffallen. Es ist ruhig, auch die Illustrationen, die vom runden Schönheitsideal von Kinderbuchbildern abweichen, und buntstiftkindlich ausdrucksstark wirken, unterstreichen die sonderbare Atmosphäre.


    Sprachlich ist das Buch schlicht, aber schön und fällt besonders durch gelungene Vergleiche und Überlegungen von Josefin auf. Die sporadisch auftauchenden Gedichte Li Pos stechen sehr hervor, geben den letzten Schliff und machen das Buch zu einem ungewöhnlichen, nachdrücklichen Leseerlebnis.


    Und so möchte ich meine Rezension mit einem Gedicht Li Pos schließen:


    10/10 Punkten


    :wave barti


    Edits: Korrekturen; Namensschreibweise angepasst,

  • Oh ja, danke schön schon mal im Vorraus. Ich habe mich jetzt auch schon ein bisschen über Li Bo & chinesische Dichtkunst informiert und ich glaube, ich habe ein neues Interessengebiet für mich entdeckt :chen

  • Ich hoffe nur, das Buch enttäuscht dich nicht, Paulchen, du liegst ja altersmäßig auch schon über der Zielgruppe, es ist eher Kinder- als Jugendbuch. Amazon empfiehlt es ab 10 Jahren.


    Chinesische Gedichte sind wirklich was Feines. Ich kenne mich zwar kaum aus, aber ich lese sie sehr gerne. Wobei es ja immer sehr auf den Übersetzer bzw. Nachdichter (die Übersetzung in eine europäische Sprache erfordert immer eigenes Dichten und Interpretieren, das geht manchmal schief) ankommt.


    Woher der Name Li Tai Pe (=Li Po) auch dem ein oder anderen dunkel bekannt vorkommen könnte, ist übrigens James Krüss' "Mein Urgroßvater und ich" mit der Geschichte über den "Pavillon aus Porzellan", die sich auf ein Gedicht Li Pos stützt. Habe ich heute durch Zufall entdeckt, weil mir ein Gedicht so bekannt vorkam.


    :wave bartimaeus

  • Danke für die Infos, bartimaeus!
    Was die Altersempfehlung betrifft: Grundsätzlich ist es natürlich so, dass mich ein Buch ab 10 nicht mehr anspricht (beispielsweise "normale" Kinderbücher). Ich habe jedoch auch schon ab und zu tolle "Kinder"bücher entdeckt, die über das empfohlenen Alter hinaus faszinierten...ich hoffe, dieses Buch ist ein ähnlicher Schatz :-] und bei unserer Buchhandlung kann man in z.B. bestellte Bücher auch immer noch mal rein schauen und so hält sich das Risiko einer Enttäuschung glaube ich in Grenzen :grin

  • Zitat

    Original von Paulchen
    Danke für die Infos, bartimaeus!
    Was die Altersempfehlung betrifft: Grundsätzlich ist es natürlich so, dass mich ein Buch ab 10 nicht mehr anspricht (beispielsweise "normale" Kinderbücher). Ich habe jedoch auch schon ab und zu tolle "Kinder"bücher entdeckt, die über das empfohlenen Alter hinaus faszinierten...ich hoffe, dieses Buch ist ein ähnlicher Schatz :-] und bei unserer Buchhandlung kann man in z.B. bestellte Bücher auch immer noch mal rein schauen und so hält sich das Risiko einer Enttäuschung glaube ich in Grenzen :grin


    Ich wollte nur vorsichtshalber warnen - aber ich selbst lese ja auch noch gerne das ein oder andere Kinderbuch :-]
    Und wenn du das Buch erstmal zur Ansicht bestellst, ist das Risiko wirklich gering.


    :wave bartimaeus

  • Zitat

    Original von bartimaeus
    Ich wollte nur vorsichtshalber warnen - aber ich selbst lese ja auch noch gerne das ein oder andere Kinderbuch


    Danke :wave
    :groehl Ja, genau, das ein oder andere "Kinder"buch ist manchmal eine angenehme Entspannung (und ein gutes Kontrastprogramm zur manchmal nicht so tollen Schullektüre :zwinker)


    So, morgen werde ich mir "Seidenraupenträume" dann mal zur Ansicht bestellen :-] ...ich bin doch schon zu gespannt :schuechtern

  • Juhu, ich war gerade in der Stadt und habe es vorbestellt---morgen wird es dann da sein. Ich freue mich schon sehr ;-) :freude :lesend


    Edit: 5.5. Ich habe es! :chen :freude So, ich werde dann gleich auch mal ein bisschen weiter lesen :-] :lesend

  • So, ich habe das Buch nun auch gelesen und bin schlichtweg begeistert! :anbet :anbet :anbet
    Ich habe schon lange nicht mehr ein so bezauberndes "Kinder"buch gelesen, das durchaus auch für Ältere geeignet ist!
    Allein schon die besonderen Bilder faszinieren. Sie sehen wirklich aus wie spontane Buntstiftzeichnungen auf einem Skizzenblock und passen gut zu der Geschichte.
    Die Gedichte Li Pos sind sehr schön und lassen einem nach dem Lesen kurz innehalten, da sie einen gewissen Zauber ausüben.
    Die Sprache ist angenehm klar, teilweise auch poetisch und nachdenklich.
    Die Geschichte überzeugt vollends. Wunderschöne Ideen wie die Scheu - Vögel ziehen einen gänzlich in Josefins Leben hinein und man fühlt mit ihr. Li Po ist geheimnisvoll und man macht sich viele Gedanken über ihn - auch nach der Lektüre. Die Art, wie Josefin ihre Umwelt sieht, verändert auch ein bisschen die eigene Sicht auf die Dinge, hier fällt mir spontan eine Stelle ein, die ich gerne zitieren würde:

    Zitat

    Die Pappeln am Rand des Kanals spiegeln sich mit ihrem hellgrünen Blätterkleid im Wasser. In den hohen Fenstern der Häuser an dem Kanal spiegeln sich die Wolken am Himmel. Alles spiegelt sich in etwas anderem, denkt Josefin. Es ist, als befände sich ein Teil des Himmels in den Häusern und als würden die Bäume kopfüber unter Wasser wachsen.


    Das Ende mutet zwar traurig an, stimmt zugleich jedoch hoffnungsfroh.


    Alles in allem möchte ich mich nochmal bei bartimaeus für diesen wundervollen Tipp bedanken, da ich sonst diesen Schatz vielleicht nie gelesen hätte. Von mir gibt es 10 von 10 Eulenpunkte für eine Geschichte wie ein wirklicher Traum, die ich sicherlich noch öfters lesen werde! :-] Ich kann es nur empfehlen :lesend