Gabriela Jaskulla: Glückstadt

  • Johannes - Diagnose: Muskeldystrophie Typ Duchenne - Lebenserwartung 20 Jahre


    Die Autorin:
    Gabriela Jaskulla wurde 1962 in der Nähe von Würzburg geboren. 1989 ging sie zum Norddeutschen Rundfunk. 2003 erschien ihr hoch gelobter Debütroman ›Ostseeliebe‹, 2005 ihr zweites Buch ›Glückstadt‹, im gleichen Jahr wurde ihr Theaterstück ›Chet Baker/Song‹ uraufgeführt. Heute arbeitet sie bei einem großen Hamburger Verlag.


    Zum Buch:
    Ein toter junger Mann wird im Müll gefunden, dessen Körper von zahlreichen Operations-Narben bedeckt ist. Sein Name: Johannes Grundig, seine Mutter: Sabine Harms. Die Erklärung für den von schwerer Krankheit gezeichneten Körper: Johannes litt an Muskeldystrophie vom Typ Duchenne, einer unheilbaren Erbkrankheit, die zur Verhärtung und Verkümmerung aller Muskeln führt. Die Erkrankten haben eine Lebenserwartung von ungefähr 20 Jahren. Johannes Grundig hat zuletzt ohne Kontakt zu seinen Eltern in einer Behinderteneinrichtung gelebt. Der Fund des Toten trifft Sabine Harms unvorbereitet – sie ahnte nicht, dass ihr Sohn in Glückstadt lebte. Sabine arbeitet hier im Druckzentrum der Tageszeitung. Johannes wurde als kleines Kind zunächst von seinen Großeltern in Bremen betreut und kam dort später zu Pflegeltern. Niemand wagte es damals auszusprechen, dennoch fühlte die Mutter des Behinderten deutlich den Vorwurf „Sabine, die Tüchtige, hat als Mutter versagt“. Als Trägerin des defekten Gens wurde ihr die Schuld an Johannes Behinderung zugeschoben.


    Bei der Räumung von Johannes Zimmer im Heim findet Sabine im PC ihres Sohnes eine Reihe von Dateien mit dem Titel „Das Dreamteam“, die den Dialog des Schwerkranken mit seinem Pfleger Stephan dokumentieren. Johannes Mutter sieht sich in den Aufzeichnungen damit konfrontiert, wie ihr behinderter Sohn der Welt allmählich verloren ging. Sabine, die Außenstehenden gegenüber nie zu erkennen gab, dass sie einmal ein Kind hatte, liest nun, was sie nie wissen wollte. Kurz vor Johannes Tod waren seine an Stephan gerichteten Texte möglicherweise der einzige Weg, auf dem er sich noch mitteilen konnte. Als Journalistin und ehemalige Setzerin, die am Arbeitsplatz täglich mit Texten zu tun hat, ist Sabine mit Johannes hinterlassenen Texten besonders zu verletzen.


    Gabriela Jaskulla legt unscheinbare Köder aus, die als kritische Anmerkungen zur Mutterrolle verstanden werden könnten. Sie weist kaum verschlüsselt auf Marianne Bachmeier hin, die den Mörder ihrer Tochter erschoss, und auf Monika Widmer, die beschuldigt wurde, ihre Töchter ermordet zu haben. Auch wenn die Autorin den Ausdruck abgebende Mutter verwendet, taucht im Kopf des Lesers der Begriff Rabenmutter aus dem Märchen auf. Wie war es möglich, dass eine Mutter so komplett den Kontakt zu ihrem Kind verlieren kann wie Sabine? Man fragt sich, wie Johannes Vater seinen Sohn völlig ignorieren kann und warum wir keinen Begriff für Väter kennen, die ihre Frau und und ihr behindertes Kind verlassen; ein in betroffenen Familien sehr häufiges Ereignis.


    Johannes erträumt sich in seinen Dreamteam-Texten eine Phantasiewelt, in der es eine Familie samt Vater gibt und das behinderte Kind von allen geliebt wird. In seinen getippten Gesprächen mit Stephan zeigt Johannes ein gnadenlos kritisches Urteil über andere, analysiert seinen „unperfekten“ Körper in provozierender Art. Stephan, der gutmütiger Pfleger, Johannes rhetorisch kaum gewachsen, wird durch radikale Äußerungen zu seiner Religion und zur männlichen Rolle provoziert. Johannes nützt Stephans Schwächen gnadenlos aus. Er möchte kein beliebter, bescheidener Heim-Bewohner sein. Man fragt sich, wer in diesem aneinander geketteten eigenartigen Dreamteam der Hilfebedürftige ist, wer hier wen manipuliert.


    Aus den Erinnerungen des Pflegepersonals an Johannes und den von ihm hinterlassenen Texten trägt Sabine Harms allmählich mosaikartig das kurze Leben ihres Sohnes zusammen. Wer sich nicht mehr bewegen kann, muss mit dem Kostenträger um die Finanzierung jeder kleinsten Handreichung kämpfen, hat aber auch unendlich viel Zeit, absurden Ideen nachzuhängen. Sabine sieht sich damit konfrontiert, wie ein Behinderter durch körperliche Einschränkungen und seine Pflegebedürftigkeit zum Objekt wird. „Ein Objekt, das für die anderen auf einem Objektträger zugerichtet wird“, nennt es Johannes. Wie kann ein Körperbehinderter seine Intimsphäre wahren und wie hat jemand, der sich nicht einmal selbst am Kopf kratzen kann, Sex? Die Auflösung des Rätsels, wie Johannes aus seinem Leben verschwand und ausgerechnet in den Müll gelangte, fügt sich schließlich in seine unangepasste, unwillkommene Existenz.


    Fazit:
    „Glückstadt“ habe ich als verstörenden Roman über einen unheilbar kranken, sehr schwierigen Mann und seine Mutter empfunden. Die Lebensbedingungen von körperbehinderten Heimbewohnern hat Gabriela Jaskulla beeindruckend exakt recherchiert. Ihre Danksagungen an ihre Informanten vermitteln eine Ahnung davon, wie eine gesunde Autorin sich der Gedankenwelt eines Körperbehinderten annähern kann. Keine der Figuren macht es dem Leser in ihrer Unangepasstheit leicht. Dass Gabriela Jaskulla mir die zunächst so unnahbar wirkende Sabine in ihrer Rolle als Nicht-Mutter im Laufe der Handlung sehr nahe brachte, macht ihr Buch zu einem unvergesslichen Erlebnis – wie auch ihre ungeschminkte Darstellung der Sexualität eines Behinderten.