Peter Wawerzinek: Rabenliebe
Galiani 2010
428 Seiten
ISBN-13: 978-3869710204
22,95€
Zum Autor:
Peter Wawerzinek wurde unter dem Namen Peter Runkel 1954 in Rostock geboren. Er wuchs in verschiedenen Heimen und bei verschiedenen Pflegefamilien auf. Seit 1988 betätigt er sich neben vielem anderen als freier Schriftsteller, Regisseur, Hörspielautor und Sänger. Er ist Autor der Bücher Moppel Schappiks Tätowierungen (1991), Das Kind, das ich war (1994) und Das Desinteresse (Hasenverlag 2010). Für Rabenliebe erhielt er 2010 den Ingeborg-Bachmann-Preis und den gleichnamigen Publikumspreis.
Verlagstext:
Ein Buch wie ein Erdbeben
Über fünfzig Jahre quälte sich Peter Wawerzinek mit der Frage, warum seine Mutter ihn als Waise in der DDR zurückgelassen hatte. Dann fand und besuchte er sie. Das Ergebnis ist ein literarischer Sprengsatz, wie ihn die deutsche Literatur noch nicht zu bieten hatte.
Ihre Abwesenheit war das schwarze Loch, der alles verschlingende Negativpol in Peter Wawerzineks Leben. Wie hatte seine Mutter es ihm antun können, ihn als Kleinkind in der DDR zurückzulassen, als sie in den Westen floh? Der Junge, herumgereicht in verschiedenen Kinderheimen, blieb stumm bis weit ins vierte Jahr, mied Menschen, lauschte lieber den Vögeln, ahmte ihren Gesang nach, auf dem Rücken liegend, tschilpend und tschirpend. Die Köchin des Heims wollte ihn adoptieren, ihr Mann wollte das nicht. Eine Handwerkerfamilie nahm ihn auf, gab ihn aber wieder ans Heim zurück.
Wo war Heimat? Wo seine Wurzeln? Wo gehörte er hin?
Dass er auch eine Schwester hat, erfuhr er mit vierzehn. Im Heim hatte ihm niemand davon erzählt, auch später die ungeliebte Adoptionsmutter nicht. Als Grenz sol dat unternahm er einen Fluchtversuch Richtung Mutter in den Westen, kehrte aber, schon jenseits des Grenzzauns, auf halbem Weg wieder um. Wollte er sie, die ihn ausgestoßen und sich nie gemeldet hatte, wirk lich wiedersehen?
Zeitlebens kämpfte Peter Wawerzinek mit seiner Mutterlosigkeit. Als er sie Jahre nach dem Mauerfall aufsuchte und mit ihr die acht Halbgeschwister, die alle in derselben Kleinstadt lebten, war das über die Jahrzehnte überlebens groß gewordene Mutterbild der Wirklichkeit nicht gewachsen. Es blieb bei der einzigen Begegnung. Aber sie löste – nach jahrelanger Veröffentlichungspause – einen Schreibschub bei Peter Wawerzinek aus, in dem er sich das Trauma aus dem Leib schrieb: Über Jahre hinweg arbeitete er wie besessen an Rabenliebe, übersetzte das lebenslange Gefühl von Verlassenheit, Verlorenheit und Muttersehnsucht in ein großes Stück Literatur, das in der deutschsprachigen Literatur seinesgleichen noch nicht hatte.
Zum Inhalt:
Als Erwachsener erinnert sich der Mann an sich als kleinen Jungen, der aus dem Fenster Raben und Schnee beobachtete. Schnee - in den wichtigen Momenten in Wawerzineks Leben muss es immer geschneit haben. Bilder - das Kind spricht von sich in der dritten Person, es beschreibt was es sieht und nicht was es fühlt. Die Mutter war eines Tages verschwunden, hatte ihre Kinder unversorgt zurückgelassen. Das Kind sprach nicht; denn mit ihm wurde nicht gesprochen. Die Erwachsenen sprachen nur über ihn, er wurde transportiert, abgeliefert, mit Essen versorgt. Essen war damals wichtig, gut genährt wurde mit gesund gleichgesetzt. So war es auch die Köchin des staatlichen Kinderheims, die dem viel zu dünnen kleinen Peter Extraportionen zusteckte, die bemerkte, dass er als einziges Kind keinen Besuch und keine Pakete von Zuhause erhielt. Die Köchin machte den ersten mißlungenen Versuch, den kleinen Jungen selbst aufzuziehen. Ein weiterer Versuch misslingt, weil die adoptierenden Eltern den langersehnten Stammhalter erwarten, ein perfektes Kind, und nicht darüber nachgedacht hatten, wie ein Heimkind ihren Ansprüchen genügen soll. Auch die dritte Familie hatte ein Bild, dem sich das Kind fügen musste. Hier lernt Peter "das Handwerk des Adoptivsohnes". Der Junge verweigert sich durch seine Wortwahl, indem er grundsätzlich nicht von Adoptivmutter und -vater, sondern von Adoptionseltern spricht. Das Lehrerehepaar verbietet dem Jungen jeden Kontakt zu anderen Kindern aus dem Heim und nimmt dem, der keine Wurzeln hat, seine Identität. Auch hier wird Beziehung durch Essen hergestellt, die Großmutter, die den Haushalt führt, ist Peters wichtigste Bezugsperson. Dass man Kinder wie Peter damals über ihre leiblichen Eltern belog, war nicht ungewöhnlich.
Wawerzinkes Kindheitserinnerungen gehen abrupt in Kinderverse über, die für ihn damals nur auswendig gelernte Worte gewesen sein werden, ohne Bezug zu seinem Leben. Aus dem, was dem kleinen Peter in seiner Kindheit gefehlt hat, lässt sich ableiten, was ein Kind braucht, um glücklich heranzuwachsen. Unterbrochen wird der Text von Pressemeldungen über vernachlässigte und von den Eltern getötete Kinder. Jeder einzelne Fall von Vernachlässigung der letzten 10 Jahre wird hier aufgeführt, jeder dieser Fälle wird Wawerzinek persönlich getroffen haben. Die Auflistung demonstriert, dass nicht nur Mütter wegen Vernachlässigung vor Gericht gestellt werden, sondern auch Väter oder Partner der Mütter. Die Dokumentation von Vernachlässigung muss auch dem Autor deutlich gezeigt haben, dass seine lebenslange Suche nach der Mutter das vaterlose Aufwachsen in den ersten zehn Lebensjahren ignoriert. Versorgt und erzogen wird entweder vom staatlichen Heim oder von Mutti. Als ein Mitpatient im Krankenhaus Wawerzinek Jahre später mitteilt, sein Lebenstier sei der Kolkrabe, schließt sich für ihn ein Kreis.
Fazit:
Peter Wawerzinek hat das treffende Stimmungsbild einer deutschen Kindheit in den 50ern komponiert, Kohlenkeller, Einmachgläser, mit dem Finger angetaute Löcher in den zugefrorenen Fensterscheiben, Teppichklopfer - Ost und West waren sich damals noch sehr nahe. Erst mit dem Bau der Mauer, den Grenzposten, die er an der Ostsee trifft, und dem Wehrdienst des Autors entsteht das Bild einer DDR-Jugend. Ein bewegendes Symbol war für mich das Salz, das Peter auf den Lippen spürt. Obwohl die Heim-Kinder in Sichtweite des Meeres aufwuchsen, wussten viele von ihnen noch nicht, was Meerwasser ist. Sprachlich ist Rabenliebe ein Buch mit Ecken, Kanten und kräftigen Widerhaken, das es dem Leser nicht leicht macht.
Dass man mit Kindern sprechen muss, damit sie sprechen lernen, dass jede Persönlichkeitsentwicklung unbedingt das Wissen über die eigene Kindheit und Familiengeschichte voraussetzt, sind allgemeingültige Einsichten. Die Allgemeingültigkeit in "Rabenliebe" versöhnt damit, dass hier ein verlassenes Kind in seinem biografischen Roman die Auseinandersetzung mit dem Vater bewusst vermeidet, die Grundlage der Reflektion seiner eigenen Vaterrolle hätte werden können.