Peter Wawerzinek: Rabenliebe

  • Peter Wawerzinek: Rabenliebe
    Galiani 2010
    428 Seiten
    ISBN-13: 978-3869710204
    22,95€


    Zum Autor:
    Peter Wawerzinek wurde unter dem Namen Peter Runkel 1954 in Rostock geboren. Er wuchs in verschiedenen Heimen und bei verschiedenen Pflegefamilien auf. Seit 1988 betätigt er sich neben vielem anderen als freier Schriftsteller, Regisseur, Hörspielautor und Sänger. Er ist Autor der Bücher Moppel Schappiks Tätowierungen (1991), Das Kind, das ich war (1994) und Das Desinteresse (Hasenverlag 2010). Für Rabenliebe erhielt er 2010 den Ingeborg-Bachmann-Preis und den gleichnamigen Publikumspreis.


    Verlagstext:
    Ein Buch wie ein Erdbeben


    Über fünfzig Jahre quälte sich Peter Wawerzinek mit der Frage, warum seine Mutter ihn als Waise in der DDR zurückgelassen hatte. Dann fand und besuchte er sie. Das Ergebnis ist ein literarischer Sprengsatz, wie ihn die deutsche Literatur noch nicht zu bieten hatte.


    Ihre Abwesenheit war das schwarze Loch, der alles verschlingende Negativpol in Peter Wawerzineks Leben. Wie hatte seine Mutter es ihm antun können, ihn als Kleinkind in der DDR zurückzulassen, als sie in den Westen floh? Der Junge, herumgereicht in verschiedenen Kinderheimen, blieb stumm bis weit ins vierte Jahr, mied Menschen, lauschte lieber den Vögeln, ahmte ihren Gesang nach, auf dem Rücken liegend, tschilpend und tschirpend. Die Köchin des Heims wollte ihn adoptieren, ihr Mann wollte das nicht. Eine Handwerkerfamilie nahm ihn auf, gab ihn aber wieder ans Heim zurück.
    Wo war Heimat? Wo seine Wurzeln? Wo gehörte er hin?


    Dass er auch eine Schwester hat, erfuhr er mit vierzehn. Im Heim hatte ihm niemand davon erzählt, auch später die ungeliebte Adoptionsmutter nicht. Als Grenz sol dat unternahm er einen Fluchtversuch Richtung Mutter in den Westen, kehrte aber, schon jenseits des Grenzzauns, auf halbem Weg wieder um. Wollte er sie, die ihn ausgestoßen und sich nie gemeldet hatte, wirk lich wiedersehen?


    Zeitlebens kämpfte Peter Wawerzinek mit seiner Mutterlosigkeit. Als er sie Jahre nach dem Mauerfall aufsuchte und mit ihr die acht Halbgeschwister, die alle in derselben Kleinstadt lebten, war das über die Jahrzehnte überlebens groß gewordene Mutterbild der Wirklichkeit nicht gewachsen. Es blieb bei der einzigen Begegnung. Aber sie löste – nach jahrelanger Veröffentlichungspause – einen Schreibschub bei Peter Wawerzinek aus, in dem er sich das Trauma aus dem Leib schrieb: Über Jahre hinweg arbeitete er wie besessen an Rabenliebe, übersetzte das lebenslange Gefühl von Verlassenheit, Verlorenheit und Muttersehnsucht in ein großes Stück Literatur, das in der deutschsprachigen Literatur seinesgleichen noch nicht hatte.


    Zum Inhalt:
    Als Erwachsener erinnert sich der Mann an sich als kleinen Jungen, der aus dem Fenster Raben und Schnee beobachtete. Schnee - in den wichtigen Momenten in Wawerzineks Leben muss es immer geschneit haben. Bilder - das Kind spricht von sich in der dritten Person, es beschreibt was es sieht und nicht was es fühlt. Die Mutter war eines Tages verschwunden, hatte ihre Kinder unversorgt zurückgelassen. Das Kind sprach nicht; denn mit ihm wurde nicht gesprochen. Die Erwachsenen sprachen nur über ihn, er wurde transportiert, abgeliefert, mit Essen versorgt. Essen war damals wichtig, gut genährt wurde mit gesund gleichgesetzt. So war es auch die Köchin des staatlichen Kinderheims, die dem viel zu dünnen kleinen Peter Extraportionen zusteckte, die bemerkte, dass er als einziges Kind keinen Besuch und keine Pakete von Zuhause erhielt. Die Köchin machte den ersten mißlungenen Versuch, den kleinen Jungen selbst aufzuziehen. Ein weiterer Versuch misslingt, weil die adoptierenden Eltern den langersehnten Stammhalter erwarten, ein perfektes Kind, und nicht darüber nachgedacht hatten, wie ein Heimkind ihren Ansprüchen genügen soll. Auch die dritte Familie hatte ein Bild, dem sich das Kind fügen musste. Hier lernt Peter "das Handwerk des Adoptivsohnes". Der Junge verweigert sich durch seine Wortwahl, indem er grundsätzlich nicht von Adoptivmutter und -vater, sondern von Adoptionseltern spricht. Das Lehrerehepaar verbietet dem Jungen jeden Kontakt zu anderen Kindern aus dem Heim und nimmt dem, der keine Wurzeln hat, seine Identität. Auch hier wird Beziehung durch Essen hergestellt, die Großmutter, die den Haushalt führt, ist Peters wichtigste Bezugsperson. Dass man Kinder wie Peter damals über ihre leiblichen Eltern belog, war nicht ungewöhnlich.


    Wawerzinkes Kindheitserinnerungen gehen abrupt in Kinderverse über, die für ihn damals nur auswendig gelernte Worte gewesen sein werden, ohne Bezug zu seinem Leben. Aus dem, was dem kleinen Peter in seiner Kindheit gefehlt hat, lässt sich ableiten, was ein Kind braucht, um glücklich heranzuwachsen. Unterbrochen wird der Text von Pressemeldungen über vernachlässigte und von den Eltern getötete Kinder. Jeder einzelne Fall von Vernachlässigung der letzten 10 Jahre wird hier aufgeführt, jeder dieser Fälle wird Wawerzinek persönlich getroffen haben. Die Auflistung demonstriert, dass nicht nur Mütter wegen Vernachlässigung vor Gericht gestellt werden, sondern auch Väter oder Partner der Mütter. Die Dokumentation von Vernachlässigung muss auch dem Autor deutlich gezeigt haben, dass seine lebenslange Suche nach der Mutter das vaterlose Aufwachsen in den ersten zehn Lebensjahren ignoriert. Versorgt und erzogen wird entweder vom staatlichen Heim oder von Mutti. Als ein Mitpatient im Krankenhaus Wawerzinek Jahre später mitteilt, sein Lebenstier sei der Kolkrabe, schließt sich für ihn ein Kreis.


    Fazit:
    Peter Wawerzinek hat das treffende Stimmungsbild einer deutschen Kindheit in den 50ern komponiert, Kohlenkeller, Einmachgläser, mit dem Finger angetaute Löcher in den zugefrorenen Fensterscheiben, Teppichklopfer - Ost und West waren sich damals noch sehr nahe. Erst mit dem Bau der Mauer, den Grenzposten, die er an der Ostsee trifft, und dem Wehrdienst des Autors entsteht das Bild einer DDR-Jugend. Ein bewegendes Symbol war für mich das Salz, das Peter auf den Lippen spürt. Obwohl die Heim-Kinder in Sichtweite des Meeres aufwuchsen, wussten viele von ihnen noch nicht, was Meerwasser ist. Sprachlich ist Rabenliebe ein Buch mit Ecken, Kanten und kräftigen Widerhaken, das es dem Leser nicht leicht macht.


    Dass man mit Kindern sprechen muss, damit sie sprechen lernen, dass jede Persönlichkeitsentwicklung unbedingt das Wissen über die eigene Kindheit und Familiengeschichte voraussetzt, sind allgemeingültige Einsichten. Die Allgemeingültigkeit in "Rabenliebe" versöhnt damit, dass hier ein verlassenes Kind in seinem biografischen Roman die Auseinandersetzung mit dem Vater bewusst vermeidet, die Grundlage der Reflektion seiner eigenen Vaterrolle hätte werden können.

  • Titel: Rabenliebe
    Autor: Peter Wawerzinek
    Verlag: Galiani Berlin
    Erschienen: August 2010
    Seitenzahl: 428
    ISBN-10: 3869710209
    ISBN-13: 978-3869710204
    Preis: 22.95 EUR


    Peter Wawerzinek hat ein wirklich beeindruckendes Buch geschrieben, ein echtes Lesehighlight. Der Autor wurde 1954 unter dem Namen Peter Runkel in Rostock geboren. Er wuchs in verschiedenen Heimen und bei verschiedenen Pflegefamilien auf.


    Er wurde vor über 50 Jahren von seiner Mutter verlassen, die in den Westen übersiedelte und ihn in der DDR zurückließ. Er war noch ein Kleinkind als die Mutter ihn im Stich ließ. Seit dieser Zeit sucht Peter Wawerzinek Antworten auf die Frage, warum seine Mutter ihn so handelte.


    In einer außergewöhnlichen Sprache beschreibt Peter Wawerzinek sein Leben. Auch wenn es sich bei diesem Buch um einen Roman handelt, so dürfte es sich aber in jedem Falle um einen autobiographischen Roman handeln. Die Sprache des Autors ist anfangs gewöhnungsbedürftig, aber schnell lernt man als Leser ihre ganz besondere Intensität zu schätzen. Man hat den Eindruck, als hätte der Autor jedes der Wörter genauestens angepasst, als hätte er sprachlich nichts dem Zufall überlassen. Es passt einfach. Jedes Wort genau da wo es hin gehört.


    Aber nicht nur die Sprache besticht durch ihre Intensität auch die ganze Geschichte ist von einer sehr emotionalen Tiefe, ohne dabei aber weinerlich über überbordend sentimental zu sein. Vielleicht könnte man hier von einer rationalen Emotionalität sprechen. Peter Wawerzinek lässt den Leser teilhaben an seiner zerrissenen Gefühlswelt, an seinem stetigen Suchen nach Antworten. Dabei biedert er sich nicht an, ganz im Gegenteil.


    Ein Kind auf der Suche nach Mutterliebe. Ein Kind auf der Suche nach Antworten, ein Kind das nicht begreifen kann, warum er ohne Mutter aufwachsen muss und das aber trotzdem unbewusst begreift, dass nur die leibliche Mutter auch die eingeforderte Mutterlieben geben könnte.


    Kurz nach dem Mauerfall traf er dann seine Mutter. Aber dann war er diesem „Mutterbild“ nicht gewachsen, zu viel stürzte auf ihn, zu viel musste verkraftet werden. Weitere Begegnungen gab es nicht.


    Ein sehr lesenswertes Buch, ein Buch das aufwühlt, ein Buch das es wert ist gelesen zu werden und sei es nur wegen der sehr intensiven Sprache. Peter Wawerzinek hat ein wunderbares Stück deutscher Literatur geschaffen. Sehr, sehr lesenswert.


    10 Punke - ohne Wenn und Aber.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • "Ich bin die Waise, gegen all die Bemühung nicht reperabel."


    Jetzt habe ich es gelesen und mein Urteil fällt zwiespältig aus. "Rabenliebe" habe ich als ein großes Experiment empfunden. Der Text ist durchzogen von einer poetischen Sprache, Sprachspielen, eingebetteten Gedichten und Erzählungen und nüchternen Zeitungsartikeln. Eins war "Rabenliebe" auf jeden Fall: aufregend und interessant zu lesen.
    Ich hatte aber leider doch Schwierigkeiten damit, mich dem Erzähler zu nähern. Vor allem im zweiten Teil des Buches war ich teilweise genervt von seiner Jammerei und dem von mir sehr stark empfundenen Selbstmitleid. Es ist schrecklich, dass er in ein Heim gegeben wurde - die "Mutterfindung" nimmt aber für mich dann doch manchmal ein weinerliches Maß an.


    Eine schöne, poetische Sprache, die mich aber nicht ganz überzeugen konnte.
    7 Punkte.

  • Ich muss mich leider meinem Vorschreiber anschließen. Als ich Peter W. in Klagenfurt aus seinem Buch lesen hörte/sah, wusste ich, dass ich es mir kaufen würde, was ich auch sofort tat, als es auf dem Markt war. Mich hatte die sehr poetische, die mit vielen Metaphern durchsetzte hochliterarische Sprache fasziniert. Nun, als ich das Buch las, gefiel mir der Stil überhaupt nicht mehr. Zu aufgesetzt, durchzogen von Selbstmitleid. (Dem Kind ist in den Kinderheimen nichts wirklich "Schlimmes" widerfahren. Keine Misshandlung, kein Missbrauch.) Kann die kaum vorhandene Erinnerung an eine abwesende Mutter wirklich so leidbesetzt sein, wie es der Autor beschreibt? Kann man derart vermissen, was man gar nicht kennt?


    Was mich am allermeisten genervt hat, waren die - für mich völlig willkürlich eingestreuten und im Text selbst nicht mal abgegrenzt, so dass sie völlig im Fließtext eingegangen waren - Einschübe von Texten aus Kinderliedern und -reimen. Und fast noch mehr die eingeschobenen Zeitungsberichte von den getöteten und misshandelten Kindern. Denn mir war der Zweck dieser Einschübe überhaupt nicht klar. Was wollte der Autor damit sagen in Bezug auf sein eigenes Schicksal? Eigentlich wäre für mich nur eine Folgerung logisch: Seht her, diesen Kindern ging es noch schlimmer als mir! Das wiederum würde seiner (von mir vermuteten Intention), sein eigenes Schicksal als ein grausames darzustellen aber komplett zuwiderlaufen. Also ich bin ratlos über den Sinn und Zweck dieser Einschübe, habe sogar den Verdacht, er tat es aus dem Motiv, den Leser durch diese drastischen, teilweise marktschreierisch sensationslüsternen Wiedergaben bzw. Inhalte "bei der Stange zu halten". Denn letztendlich hat mich irgendwann dieser ganze Kinderheimtagesablaufserzählungsbrei unsäglich gelangweilt.


    Und ich muss sogar gestehen: es war mir nicht möglich, das Buch zu Ende zu lesen. Und das geschieht wirklich nicht oft.


    Mein Fazit also: poetische Sprache genügt nicht, wenn der Inhalt als Elaborat einer verletzten Seele und getränkt in Selbstmitleid daherkommt.


    LG Cornelia

  • Rabenliebe – Peter Wawerzinek


    Mein Eindruck:
    Mir ist Peter Wawerzinek das erste Mal aufgefallen, als ein Auszugstext aus diesem Buch den Ingeborg Bachmann-Wettbewerb 2010 gewann.


    Es ist ungewöhnlich einen so langen Text, der überwiegend als Monolog gestaltet ist, zu lesen. Es erinnert mich an autobiographische Bücher von Thomas Bernhard, insbesondere an „Ein Kind“.


    Die Länge der Klage lässt das Buch auf die Dauer manchmal schwer verdaubar werden, die Klage ist ausufernd, andererseits überzeugt die Dichte und Intensität. Die Entwicklung des Kindes ist schlüssig beschrieben. Die Szenen im Heim oder bei den gescheiterten Adoptionsversuchen sind nachvollziehbar. Der Abschnitt mit den Adoptionseltern, bei dem der Junge 4 Jahre verbrachte, hätte eine Chance darstellen können, doch das Scheitern war frühzeitig angelegt.
    Die Methode immer wieder Zeitungsartikeln über verlassene oder misshandelte Kinder einzublenden, treibt Peter Wawerzinek ziemlich weit.
    Mir gefallen die Szenen besser, die entsprechend Zeitkolorit, z.B. durch Musik transportieren.


    Der vielleicht noch stärkere Teil 2 setzt zeitlich deutlich später an, er hat inzwischen schon als Schriftsteller veröffentlicht und die Suche sowie das Treffen mit der Mutter bahnen sich an.
    Ich empfinde den Ton in diesem zweiten Teil verhaltener, der Autor arbeitet verstärkter mit Assoziationen und Imaginationen.
    Hier ist auch zum ersten Mal von seiner kleinen Schwester die Rede, die ebenfalls wütend ist, allerdings auf den Staat. An einem Wiedersehen mit der Mutter hat sie kein Interesse.
    Wie dann die Reise in den Odenwald mit der abschließenden Begegnung nach 50 Jahren beschrieben ist, gehört zu den stärksten Abschnitten. Beeindruckend! 9 von 10 Punkten von mir!

  • Die Mutterfindung nimmt in diesem autobiographischen "Monolog" des Autors den größeren Raum ein, wie wahrscheinlich auch in seinem Leben.


    Mit 2 Jahren von der Mutter, die in den Westen floh, verlassen.
    Erste Erinnerungen im Alter von 4 Jahren, woran er sich genau erinnern kann - es hat geschneit an jenem Tag als er vom Kleinkindheim ins Vorschulheim gebracht wurde. Adoptionsversuche scheitern.
    Mit 7 Jahren wechselt er ins Schulkindheim.
    Er ist 10 Jahre alt, als es erneut zu einem Adoptionsversuch durch eine Lehrerfamilie kommt. Leider kann er nie eine Beziehung zu den Adoptiveltern aufbauen. Einzig zu der Großmutter der Familie kann er eine kleine Beziehung knüpfen.
    Als es viele Jahre später zu einem einmaligen Treffen mit der Mutter kommt, bleiben alle Fragen und Sehnsüchte unbeantwortet. Aber er schreibt sich den Nebel (alles Unklare in seinem Leben) und den Schnee ( die Einsamkeit und Kälte sowie die daraus resultierende eigene Bindungsunfähigkeit) mit diesem Roman ein wenig von der Seele.


    An Stellen wo ich sprachlos war, besticht Peter Wawerzinek durch eine stille, nachhaltige Sprache und spricht stellvertretend für alle Kinder ohne Worte was dieses Buch für mich besonders macht.

  • Ich habe es jetzt doch noch mal hervor gekramt und bin auch schon ein gutes Stück weitergekommen. Es gefällt mir jetzt ein wenig besser, die Erfahrungen bei der letzten Adoptionsfamilie, sein Rückzug als Erwachsener, sein Warten, seine Angst vor der Begegnung, auf die das ganze Buch zusteuert. (Allerdings kann ich es nicht so ganz nachvollziehen, dass jemand so lange wartet, der sich sein ganzes Leben nach der Mutter gesehnt hat.)


    Was mich immer noch stört, ist die doch noch über allen liegende Larmoyanz, so ein unterschwelliges Anklagen, auch eine gewisse Unfähigkeit, sein Leben aktiv zu gestalten bzw. die Unfähigkeit, nach vorn zu schauen und das Beste aus der Misere zu machen, nein, das gefällt mir nicht, macht mir den Autor nicht sympathisch. Andere haben in ihrem Leben weit Schlimmeres erlebt und versinken trotzdem nicht im "Nebel" der Vergangenheit. Ich möchte ihm immer wieder zurufen: Mensch, jetzt reichts aber! Es gibt noch anderes als Selbstmitleid. Es kommt mir manchmal vor, als buhle er beim Leser um Mitleid und da fühle ich mich irgendwie auch instrumentalisiert.


    LG Cornelia

  • Was jemand als traumatisch oder schwer erträglich findet, kann ja sehr verschieden sein.
    Mir fehlt bei Wawerzinek, der inzwischen längst erwachsen und selbst Vater ist, die Versöhnung mit der Vergangenheit. Dass sich jemand über Jahre mit dem Schreiben seines eigenen biografischen Romans beschäftigt, ohne dabei andere Menschen mit ihren Fehlern so zu nehmen wie sie sind, fand ich für einen Mann seines Alters enttäuschend.


    Die erste Adoptivfamilie mag sich ja extrem ungeschickt verhalten haben und hat damals wohl auch keine fachliche Begleitung der Adoption erlebt. Vermutlich wird es anderen Heimkindern und anderen Adoptiveltern nicht viel anders ergangen sein.


    Ein weiterer für mich unbefriedigender Punkt war das Fehlen des Vaters als die Mutter die Kinder verließ. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob W. weiß, warum sein Vater nicht bei ihnen lebte. Wenn es einen Vater gegeben hätte, wäre sein Leben evtl. völlig anders verlaufen.

  • Zitat

    Original von Buchdoktor
    Mir fehlt bei Wawerzinek, der inzwischen längst erwachsen und selbst Vater ist, die Versöhnung mit der Vergangenheit. Dass sich jemand über Jahre mit dem Schreiben seines eigenen biografischen Romans beschäftigt, ohne dabei andere Menschen mit ihren Fehlern so zu nehmen wie sie sind, fand ich für einen Mann seines Alters enttäuschend.


    Genau das meine ich, lieber Buchdoktor, dieses so völlig unangemessene Verhalten eines Erwachsenen, der lieber in der Vergangenheit leidet, als die Gegenwart anzupacken (in der es ja Menschen gibt, die sich um ihn sorgen, die ihm gut sind, die ihn helfen können, das von ihm als Trauma Erlebte zu vergessen/verarbeiten) und die Zukunft besser zu gestalten. Vielleicht ist er auch ein Masochist?


    Und eines muss man (bzw. werde ich) natürlich auch sagen: man muss schon sehr selbstverliebt und extrem selbstbezogen sein, wenn man sein Leben bzw. das, was einem widerfahren ist, für so wichtig nimmt, dass man einen großen Teil dieses Lebens damit verbringt, noch in den letzten Winkel, die letzte Falte der ach so geschundenen Seele vorzudringen und alles bis ins Letzte für die unwissende Um(Nach)welt festzuhalten.


    Klingt vielleicht ein wenig provokativ, aber für mich haben große Stellen des Romans gerade diese Anti-Gefühle hervorgebracht. Jammern ohne Ende auf hohem literarischen Niveau. Der Welt- und Mutterschmerz wird sozusagen veredelt und salonfähig gemacht durch wohlgesetzte Worte und Metaphern. Immer noch als sehr störend empfinde ich dieses Hineingewurstele von Kinderliedversen oder Reimen oder anderen, manchmal bis zur Unerträglichkeit unpassendenden Zitaten. Das ist für mich Manierismus! Der Versuch, etwas aufzuwerten, interessanter zu machen (genau wie die manchmal doch sehr gestelzte und gekünstelte Sprache), was so und viel, viel schlimmer noch tausenden anderer Kinder widerfahren ist.


    Bei all dem berührt mich das Geschriebene, Erzählte gefühlsmäßig nur sehr mäßig. Allzusehr sehe ich im Vordergrund die Motivation des Autors.
    Das Heischen um Aufmerksamkeit und Mitleid.


    LG Cornelia

  • Zitat

    Original von Cornelia Lotter


    Genau das meine ich, lieber Buchdoktor, dieses so völlig unangemessene Verhalten eines Erwachsenen, der lieber in der Vergangenheit leidet, als die Gegenwart anzupacken (in der es ja Menschen gibt, die sich um ihn sorgen, die ihm gut sind, die ihn helfen können, das von ihm als Trauma Erlebte zu vergessen/verarbeiten) und die Zukunft besser zu gestalten. Vielleicht ist er auch ein Masochist?


    Und wer entscheidet darüber was angemessen ist? Darüber kann doch nur jeder für sich selbst entscheiden. Und wenn jemand das Erlebte aufschreibt und weiter unter der Vergangenheit leidet, dann ist es mehr als vermessen ihn als "Masochist" zu bezeichnen.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von Voltaire


    Und wer entscheidet darüber was angemessen ist? Darüber kann doch nur jeder für sich selbst entscheiden. Und wenn jemand das Erlebte aufschreibt und weiter unter der Vergangenheit leidet, dann ist es mehr als vermessen ihn als "Masochist" zu bezeichnen.


    Klar entscheide das nicht ich, aber ich empfinde es so und nichts anderes wollte ich gesagt haben.


    LG Cornelia

  • Zitat

    Original von Cornelia Lotter
    ... Immer noch als sehr störend empfinde ich dieses Hineingewurstele von Kinderliedversen oder Reimen oder anderen, manchmal bis zur Unerträglichkeit unpassendenden Zitaten. Das ist für mich Manierismus! Der Versuch, etwas aufzuwerten, interessanter zu machen (genau wie die manchmal doch sehr gestelzte und gekünstelte Sprache), was so und viel, viel schlimmer noch tausenden anderer Kinder widerfahren ist. ... LG Cornelia


    Das ging mir anders. Mir ist auch aufgefallen, dass diese Textausschnitte übergangslos herunterzitiert wurden. Damit will der Autor sicher etwas bezwecken. Mit Kinderliedern und -versen verbinden ja viele Erinnerungen an besonders innige Momente der eigenen Kindheit. Mich erinnern sie z. B. an bestimmte Situationen mit Erziehern oder Lehrern und ich weiß heute zu schätzen, dass nicht alle Lehrer doof waren. Wenn du andere Kinder aus Wawerzineks Heim treffen würdest, hätten evtl. einige von ihnen Erinnerungen an die Märchen und Kinderverse ihrer Zeit und andere nicht. Ebenso hat Wawerzinek nur Erinnerungen an bestimmte - negative - Situationen, an andere nicht. Mich haben diese Zitate auf die Idee gebracht, dass Erinnerungen nicht rational oder überprüfbar sind und dass mancher - aus bestimmten Gründen - Löcher in seinen Erinnerungen hat.