Sarah Shun-lien Bynum: Die überaus talentierte Miss Hempel

  • Sarah Shun-lien Bynum: Die überaus talentierte Miss Hempel
    S. Fischer 2012. 233 Seiten
    ISBN-13: 978-3100096395. 19,99€
    Originaltitel: Ms. Hempel Chronicles
    Übersetzer: Andreas Heckman


    Verlagstext
    Ihre Schüler lieben sie über alles. Nicht, weil sie Sexualkunde so plastisch unterrichtet. Sondern, weil Beatrice Hempel die erste Lehrerin ist, die sie als eigenständige Menschen begreift. Miss Hempel weiß, wie es ist, jung zu sein, aber vor allem, was es bedeutet, es immer weniger zu sein. Deshalb rät sie ihren Schülern, die Sterne vom Himmel zu pflücken. Denn nur in der Jugend kann man alles sein: Astronom, Bühnenstar oder Athlet. Und danach? Miss Hempel wird auch geliebt, weil sie ihren Schülern ins Erwachsensein hilft, in dieses undefinierbare Dasein, das verführerisch von Ferne leuchtet. Sie macht ihnen Mut, das Jungsein in sich zu bewahren und auch dann noch die Butthole Surfers zu hören, wenn sie schon lange nicht mehr angesagt sind.


    Die Autorin
    Sarah Shun-lien Bynum steht auf der Liste des New Yorkers der 20 Besten unter 40. Ihr erster Roman "Madeleine schläft" war auf der Shortlist des National Book Awards. Sarah Shun-lien Bynum lehrt an der University in San Diego, Kalifornien. "Die überaus talentierte Miss Hempel" ist ihr zweiter Roman.


    Inhalt
    Am Tag der Schulaufführung summt es in der Schule wie vor einem Bienenkorb. Dennoch gelingt es Miss Beatrice Hempel in dem allgemeinen Gewusel, ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Miss Hempel wirkt anfangs wie eine unscheinbare Englischlehrerin in mittleren Jahren. Eine Frau, die eine Puderdose benutzt, eine Boa Constrictor hält und auf eine Jugend mit blauen Haaren und Punk-Outfit zurückblickt? Miss Hempels Gedanken zeigen indes ihre Leidenschaft für die Englische Sprache und ihr bemerkenswertes Talent, Heranwachsende selbst in schlimmsten Zeiten pubertärer Sinnsuche zu fördern und zu ermutigen. Selbst wenn Beatrice ihre Grenzen kennt und sich aus Diskussionen über das Tagesgeschehen mit ihren Achtklässlern klugerweise heraushält, gewann sie meine ganze Sympathie durch ihre unaufgeregte Art, aus jedem Schüler das Beste herauszuholen. Beatrice ist wohl deshalb eine so außergewöhnliche Lehrerin, weil sie sich an manchem Tag selbst durch den Schulalltag schleppt und spürt, wie ihre Talente ihr im Alltag abhandenkommen. Die eingeschobene leicht ironische Betrachtung ihrer Motivation für den Lehrerberuf lässt in einigen Szenen ganz wie zu Beginn der Geschichte eine Person am Rande der Midlife-Krise vermuten. Doch Beatrice versteht es, Schüler und Romanleser zu verblüffen. Wie Pralinen verteilt sie ungewöhnlich schillernde Adjektive an ihre Schüler, von denen sie sicher ist, dass die sie erst nachschlagen müssen. In der Tradition ihrer eigenen Englischlehrerin wirkt sie bei den Jugendlichen als Sprachverführerin. Was ist beispielsweise umgänglich oder inspirierend - raffinierte Kritik oder Kompliment? Sicher ist, dass Beatrice das Denken und den Wortschatz ihrer Schüler infiltriert, auch wenn sie sich nur schwer vorstellen kann, dass ihre "Vollspacken" eines Tages zu verlässlichen Mitgliedern der Gesellschaft heranwachsen werden.


    Geradezu anarchisch lebt Ms Hempel ihren rebellischen Geist aus, indem sie ihre Schüler die Wortgutachten selbst schreiben und frohgemut ihre Unterschrift darunter fälschen lässt, um - April, April! - nur kurze Zeit später die Eltern über die schriftstellerischen Talente ihrer Sprösslinge zu informieren. Wer Bücher liebt, wird sich nur zu gern davon hinreißen lassen, wie Ms Hempel mit Schülern, die normalerweise keine Bücher mögen, "Das Blaue vom Himmel - This Boy's Life" von Tobias Wolff liest. Dass diese Schüler einmal selbst über ihr Leben schreiben werden, scheint keine unrealistische Vorstellung mehr. Beatrice verliert sich in Erinnerungen und Träumen, die sich so überlappen, dass man sich nicht immer sicher sein kann, ob man gerade Beatrices Leben folgt oder von ihr zu einer in die Handlung eingeschobenen Geschichte verführt wird. Zwischen Begegnungen mit einem Mann namens Amit, mit Beatrices Jugendfreundinnen, ihrer Großmutter als Einwanderin und ihrem phantasievollen Bruder Calvin bleibt Raum für die Idee, Schule könnte für die noch überraschend junge Lehrerin auf Identitätssuche auch Flucht in ein sicheres Arbeitsverhältnis sein.


    Fazit
    Ms Hempels Eskapaden sind eng mit dem amerikanischen Schulsystem verknüpft und erfordern deshalb von lehrplangestählten deutschen Lesern eine ungestutzte Phantasie. Sarah Shun-Lien Bynum knüpft aus charmanten Einzelszenen das Portrait einer Lehrerin mit ansteckender Begeisterung für die Sprache. Ms Hempels Idealismus und die liebevoll bis rührselig gezeichneten Schülerpersönlichkeiten werden Leser begeistern, die gern Entwicklungsgeschichten lesen.


    Textauszug
    Ein paar Jahre zuvor waren Gedichte in U-Bahnen und Bussen aufgetaucht, wo sonst Werbung für Bonitätsverbesserung und Hautärzte gehangen hatte. Und sobald ein neues Gedicht hing, ersann Ms Duffy [Beatrices Kollegin] einen Plan, es zu besorgen. Sie kundschaftete leere U-Bahn-Wagen aus, erkletterte die verschrammten Sitze, fummelte das Gedicht aus der gekrümmten Plastikhülle und versteckte es unter ihrem langen Wintermantel. Und all das zum Wohl ihrer Fünftklässler! Jeden Tag konnten sie aufsehen und über die Worte nachdenken. Oder auch nicht, und darin lag die Schönheit der Osmose. (S. 172)


    7 von 10 Punkten

  • Als ich den Klappentext zu diesem Buch gelesen habe, war ich mir sicher, dass dies ein Buch exakt für mich ist. Ich bin selber Lehrerin und hoffe, meinen Schülern ein bisschen davon mit auf den Weg zu geben, was auch Miss Hempel in ihren Schülern sieht.


    Nachdem ich den etwas holprigen und abrupten Anfang in die Geschichte überwunden habe, kam ein Abschnitt des Buches, den ich wirklich sehr genossen habe. Ich mag den Umgang von Miss Hempel mit den Jugendlichen, ich mag, welche Gedanken sie sich macht und wie begeisterungsfähig sie ist.
    Ihre Behandlung und Beschreibung des Romans „This Boy’s Life“ hat mich eben diesen auf meine Wunschliste setzen lassen.


    Zitate wie diese hier habe ich geliebt:


    „[Ms Hempel erklärt:] ‚Jeder tut als Kind interessante Dinge.’
    ‚Und schlechte Dinge – wie Toby'
    ‚Und schlechte Dinge. Wie wir alle – auch wenn es nicht alle zugeben.’
    Die Kinder warteten kurz, als müssten sie der Höflichkeit halber so tun, als verdauten sie die Information erst.
    ‚Haben Sie schlechte Dinge getan, Ms Hempel?’
    Das hätte sie kommen sehen müssen.
    ‚Nun. Denkt logisch. <Alle> schließt mich mit ein, oder nicht?’
    Gierig beugten sich die Kinder vor: ‚Welche schlechten Dinge denn?’ Die Hinterbeine ihrer Stühle hoben sich.“
    (S. 50)


    Doch Miss Hempel unterstützt nicht nur die Jugendlichen im Erwachsenwerden, sondern muss sich auch selber noch damit auseinander setzen. Und genauso wie Miss Hempel schwebt auch die Handlung – wenn man denn überhaupt von einer solchen sprechen kann – in der Luft: es war mir oft unklar, in welche Richtung sich die Geschichte entwickeln sollte und würde. Die unterschiedlichsten Themen wurden angesprochen und dies zumindest für mein Dafürhalten zu zusammenhangslos. Einige Themen haben mich kaum bis gar nicht interessiert.


    Vielleicht habe ich das Buch auch nicht in seiner vollen Komplexität verstanden, denn es ist doch mehr „höhere Literatur“ als ich sonst lese.


    Im Großen und Ganzen stehe ich dem Buch nach dem Lesen sehr zwiegespalten gegenüber: In den Passagen, in denen es um die Lehrerin Miss Hempel und ihr Verhältnis zu ihren Schülern ging, habe ich das Buch förmlich in mich aufgesogen, musste schmunzeln und habe einmal fast meine Haltestelle in der Bahn verpasst. Der Rest des Buches konnte mich allerdings so gar nicht begeistern und hat mich streckenweise sogar gelangweilt. Und so vergebe ich 5 von 10 Sternen.