Mini-LR "Junges Licht" von Ralf Rothmann

  • Kleine Mädchen sind evtl. nicht Rothmanns Welt. Sie hätte wohl gesagt Erdbeermilch aber ohne Schmand oder ohne Schicht oben drauf. Das auf der Milch Schwimmende fanden viele Kinder eklig, als die Milch noch nicht pasteurisiert war.


    S. 39 bis 44
    Julian geht einkaufen, trifft die Brüder Maronde und lässt sich in einen Ladendiebstahl hineinziehen. Er wirkt sehr wenig selbstbewusst in dieser Szene.
    Der "Konsum" hakt bei mir auch. Gab es schon Supermärkte 1960 mit Getränkeabteilung oder war Spar, davor mal ein Konsum, ein einfaches Lebensmittelgeschäft? Die Diebstahlsszene würde nicht funktionieren, wenn der Inhaber persönlich die Waren über den Tresen verkauft.

  • Ja, Kaba oder Pudding "mit Haut" fand und finde ich auch eklig. :grin


    Nachtrag zu Szene 3: Ich bin über den Begriff "Shorts" gestolpert. Wurde dieser Begriff damals schon benutzt? Ich würde eher "kurze Hose" vermuten.


    Diese Stelle im Text muss ich jetzt auch noch zitieren:


    Sie drehte sich um und drückte die Zigarette aus, die im Aschenbecher qualmte. ihr Blick kriegte etwas Starres, Stieres, als sähe sie mich gar nicht, und dann griff sie mir auch schon in den Nacken, legte mir die Hand wie eine Zwinge ums Genick.

    Danach folgt die Prügelsszene, Raserei der Mutter, mich hat es geschüttelt. Die Prügel waren der Tat des Jungen (Schuleschwänzen) überhaupt nicht angemessen. Mir kommt es so vor, als würde die Mutter die "Verfehlungen" des Sohnes dazu benutzen, sich ihrer Frustrationen und Unzufriedenheiten zu entledigen. Irgendwie "Opfer schlägt Opfer".

  • Würde dich die für Julian bedrückende Atmosphäre vom Weiterlesen oder Empfehlen des Buches abhalten?


    Sozialgeschichtlich sind die 60er superinteressant. Bis dahin hatte der Lehrer immer Recht, Eltern hätten nicht gewagt, gegen prügelnde Lehrer vorzugehen. "Das Kind wird schon etwas getan haben, wenn es in der Schule geprügelt wird."


    Vermutlich haben damals noch nicht viele Eltern über ihr Verhalten nachgedacht - Hauptsache die Kinder sind satt und sauber. Das Verhalten der Mutter bringt uns zu der Frage, wer sie ist und wie sie in diese Rolle geraten ist. Mangels Wahlmöglichkeiten, aus Naivität, oder Mädchen heiraten eben und bekommen Kinder?

  • Szene 6, S. 39 bis 45


    Genau wie du bin ich ebenfalls über das Wort "Konsum" gestolpert. Es hört sich für mich nach einer DDR-Vokabel an. Über die Existenz von Supermärkten in der Zeit weiß ich leider auch nichts. Aber sie scheinen "dort" (Ruhrgebiet?) damals schon insgesamt recht fortschrittlich gewesen zu sein. Waschmaschine, Fernseher, Urlaubsfahrten - warum dann nicht auch ein Supermarkt?


    In einem Artikel habe ich gelesen, dass 1962 der erste Aldi-Supermarkt in Dortmund eröffnet hatte. Ganz unmöglich ist dieser Sparladen also nicht.


    Julian verhält sich in dem Laden wirklich sehr schüchtern und auch dumm. Warum reißt er nicht sofort die Süßigkeiten wieder aus seinem Hemd oder schlägt gleich die Hand des Maronde-Jungen weg, als dieser ihm das Zeug in die Tasche stecken will? Ein so naiven Eindruck hatte er bis dahin nicht gemacht.


    Die Szene an der Kasse habe ich auch nicht ganz kapiert. Julian bezahlt die Zwiebeln und holt dann unaufgefordert die Schokoriegel aus der Tasche. Hätte er nicht einfach damit abziehen können? Die Verkäuferin hatte die Riegel doch gar nicht gesehen, oder?


    Einer, der schon mal die Schule schwänzt, kann doch in so einer Situation nicht plötzlich übermoralisch sein. Diese Szene fand ich nicht ganz schlüssig.

  • Zitat

    Original von Buchdoktor
    Würde dich die für Julian bedrückende Atmosphäre vom Weiterlesen oder Empfehlen des Buches abhalten?


    Nein, ganz und gar nicht. Ich glaube, dass es damals vielen Kindern so ergangen ist. Ich habe den Eindruck, tatsächlich ein Stück Zeitgeschichte zu erleben. Oft sind es die Bücher, die beim Lesen "ein bisschen weh tun", diejenigen, die nachhaltig in Erinnerung bleiben, die den eigenen Geist emporwachsen lassen, von denen man etwas lernt.

  • Konsum war einfach eine genossenschaftlich organisierte Ladenkette, die vermutlich später von Spar o. a. aufgekauft wurde. Auf dem Ladenschild an alten Häusern/West stand manchmal lange noch der alte Konsumschriftzug, auch wenn unten drin ein anderer Inhaber regierte. Die Leute sagen wohl noch 10 Jahre später aus Gewohnheit, dass sie zum Konsum gehen, so wie in den HO oder die Kaufhalle. :-)

  • Zitat

    Original von BuchdoktorVermutlich haben damals noch nicht viele Eltern über ihr Verhalten nachgedacht - Hauptsache die Kinder sind satt und sauber. Das Verhalten der Mutter bringt uns zu der Frage, wer sie ist und wie sie in diese Rolle geraten ist. Mangels Wahlmöglichkeiten, aus Naivität, oder Mädchen heiraten eben und bekommen Kinder?


    Ja, die Figur der Mutter ist sehr interessant. Mich würde ihre Vorgeschichte sehr interessieren. Warum ist sie so, wie sie ist? Ich vermute mal, dass sie ebenfalls eine lieblose Kindheit erlebt hat und auch verprügelt worden ist.

  • Der Ladendiebstahl im Verhältnis zu der Gewalt, der Julian ausgesetzt ist, lässt natürlich fragen, wie soll ein Kind lernen, sich zu wehren und "falsche Freunde" zu erkennen, wenn es sich aus Angst vor Strafe immer duckt? Du musst Neinsagen erst einmal in sicherer Umgebung üben, bevor du dich draußen selbstbewusst verhalten kannst.

  • Zitat

    Original von Buchdoktor
    Der Ladendiebstahl im Verhältnis zu der Gewalt, der Julian ausgesetzt ist, lässt natürlich fragen, wie soll ein Kind lernen, sich zu wehren und "falsche Freunde" zu erkennen, wenn es sich aus Angst vor Strafe immer duckt? Du musst Neinsagen erst einmal in sicherer Umgebung üben, bevor du dich draußen selbstbewusst verhalten kannst.


    Da hast du natürlich recht. Julian hat bisher nur gelernt, dass er bestraft wird. Ob es nun gerechtfertigt ist oder nicht. Die Mutter, die Verkäuferin, für ihn vermutlich ein und dieselbe Kategorie.


    Noch eine Frage zu Szene 3: Meinst du, Frau Gorny kam aus Mitleid mit Julian an die Wohnungstür der Colliens um sich eine Tasse Mehl auszuleihen? Um damit der Prügelei ein Ende zu setzen?

  • Zitat

    Original von Rosha
    Noch eine Frage zu Szene 3: Meinst du, Frau Gorny kam aus Mitleid mit Julian an die Wohnungstür der Colliens um sich eine Tasse Mehl auszuleihen? Um damit der Prügelei ein Ende zu setzen?


    Wie vieles andere wissen wir das nicht genau. Absicht würde voraussetzen, dass sie gegen Prügel ist und sich lange vorher eine Taktik überlegt hätte. Frau Gorny und Julians Mutter sind Nebenfiguren; auffällig viel läuft in diesem Roman zwischen Männern, Vätern, Söhnen ab.

  • Szene 7, S. 45 bis 48


    personale Erzählperspektive, Mann im Stollen


    Hier wird wieder ein wenig vom Arbeitsalltag eines Bermannes berichtet. Rothmann schildert sehr eindringlich die Enge, die Dunkelheit, die Schwere der Arbeit, die Anstrengungen und die Einsamkeit. Umso zarter erscheint die Szene, als der Mann den Abdruck eines Vogelskeletts in einer Kohleschicht entdeckt. So zart und vergänglich, das hatte beinahe etwas Poetisches.

  • Bisher glänzt der Vater in der Geschichte noch sehr durch Abwesenheit. Wir hatten nur losgelöst von dem ganzen Alltagsgeschehen die zwei Bergwerksszenen. Und dass wir da Herrn Collien über die Schulter schauen, ist auch nicht gewiss. Ich nehme es einfach nur an.

  • S. 48 bis 56
    Erzählt von Julian in der Ichperspektive


    Der Tierclub in einem alten Bauwagen setzt eine zuverlässige Organisation des Fütterns und Putzens voraus. Die Kinder, zu denen die Brüder Maronde gehören, halten Tauben Meerschweinchen, Kaninchen und einen Hund. Einige Mitglieder sind wohl in Urlaub. Der Bauwagen steht auf dem Grundstück des alten Pomrehns, der Opfer des Strukturwandels ist. Wo er früher Landwirtschaft betrieb, wird heute Kohle abgebaut. Den Club duldet er offenbar. Auch der alte Pomrehn raucht. Mein Eindruck ist, dass die Eltern nicht wissen, wo ihre Kinder spielen und mit wem sie Kontakt haben.

  • Szene 8, S. 48 bis 56


    Ich bin erstaunt, dass der Tierclub doch das zu sein scheint, was der Name ausdrückt: eine Interessengemeinschaft. Die Tiere werden gut gepflegt und versorgt. Allerdings bin ich als Meerschweinchenfreundin etwas betrübt. Sie halten von diesen extremen Rudeltieren nur ein Exemplar.


    Ich hatte die Marondes und den Dicken nicht unbedingt als tierliebende Kinder eingeschätzt. Eher als grobmotorische Rabauken.


    Ich habe nicht den Eindruck, dass die Eltern nicht wissen, wo der Tierclub ist. Ich glaube, damals hatte man noch nicht die Angst vor so "Sonderlingen" wie dem alten Pomrehn. Die Eltern haben mit diesem alten Kauz gleich zwei "Probleme" ausgelagert: das Quengeln der Kinder nach einem Haustier und den damit verbundenen Schmutz, den ein Haustier macht.


    Für Pomrehn bietet der Tierclub vermutlich regelmäßigen sozialen Kontakt, auch wenn es sich "nur" um Kinder handelt. Ich vermute mal, dass nicht gerade viele Erwachsene mit dem alten Mann zu tun haben wollen.

  • Szene 9, S. 56 bis 66


    Ich-Perspektive, aus Sicht von Julian


    Julian wacht nachts auf, ihm ist heiß. Er geht in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. Er ist sehr darauf bedacht, niemanden zu wecken. Hat er im Bett noch überlegt, das Blumenwasser aus der Gießkanne zu trinken, nimmt er nun ungeniert die Teeflasche seines Vaters und trinkt sie restlos aus. Er füllt sie mit Zucker und Wasser wieder auf.



    Fortsetzung folgt...

  • Fortsetzung zu Szene 9:


    Als Julian auf die Toilette gehen will, stößt er dort auf Marusha (die das Bad mitbenutzen darf, wenn sie will). Sie nimmt ihn mit in ihr Zimmer. Leise knisternd liegt Teenagererotik in der Luft. Marusha spielt mit Julian. Aber die beiden unterhalten sich auch ernsthaft. Über die Lehrstelle, die Marusha anstrebt oder was Julian mal machen will.


    Marusha bringt die prügelnde Mutter von Julian ins Gespräch. Sie findet deren Verhalten maßlos übertrieben. Es wird noch deutlicher, dass Marusha ein mit allen Wassern gewaschener Teenager ist, die ohne Probleme Grenzen überschreitet, bzw. sehr genau weiß, was sie will und was nicht.


    Mir gefällt die Figur der Marusha. Selbstbewusst und ich habe den Eindruck, sie kann sich wehren.

  • Zitat

    Original von Rosha
    Julian wacht nachts auf, ihm ist heiß. Er geht in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. Er ist sehr darauf bedacht, niemanden zu wecken. Hat er im Bett noch überlegt, das Blumenwasser aus der Gießkanne zu trinken, nimmt er nun ungeniert die Teeflasche seines Vaters und trinkt sie restlos aus. Er füllt sie mit Zucker und Wasser wieder auf.


    Die Teeflasche sehe ich als zentrales Symbol für die Arbeit des Vaters. Die Zeche, der Schichtplan, der Tee, das Frühstück sind unverrückbare Fixpunkte des Familienlebens. Julian geht in der Nacht am Fernsehapparat vorbei und sieht aus dem Fenster das - neue - Auto der Nachbarn. Der Kühlschrank bei Julian ist fast leer. Vergisst die Mutter einzukaufen? Marusha wirkt im Vergleich zu Julian erwachsen. Ihre Lehrstellensuche muss für ihn noch eine völlig fremde Welt sein. Vielleicht ist Julian hier zum ersten Mal damit konfrontiert, dass Frauen menstruieren.

  • Stimmt, der Kühlschrank ist mager bestückt. Aber das Fläschchen Nagellack, das darin liegt, ist eine weitere Markierung der Ehefrau. Oberflächliche Frau, die Wert auf Äußerlichkeiten legt und gefühllos den Sohn schlägt. Kein schönes Frauenbild. :gruebel


    Allerdings scheint Frau Collien den Haushalt ziemlich gut im Griff zu haben. Immer ist alles ordentlich. Auch hier wird wieder das bereist gespülte Geschirr erwähnt.


    Die Szene mit Marusha auf der Toilette ist wirklich ... besonders? Ich weiß gar nicht so genau, wie ich es nennen soll. Eine Stimmung, wie sie nur mitten in der Nacht herrschen kann in der Abgeschiedenheit der Dunkelheit und der Stille.


    Doch wo sonst die Bikinihose saß, war Marusha weiß, und ihre kleine dichte Behaarung glänzte wie ein Maulswurfsfell. Reglos blickte sie mich an, als wartete sie darauf, daß ich mich zurückzöge.