Mini-LR "Junges Licht" von Ralf Rothmann

  • Ich höre jetzt auf damit in Minischritten durch das Buch zu marschieren. Sonst verhungerst du mir hier noch am ausgestreckten Arm, Doc! :lache Fertig bin ich mit dem Buch allerdings noch nicht. Aktueller Stand: Seite 150.


    Bisher sehe ich den Roman noch nicht als Geschichte über eine Vater-Sohn-Beziehung. Erst auf Seite 104 wird die Mutter mit der kleinen Schwester zum Bahnhof gebracht und ist (vorerst?) damit aus der Geschichte verschwunden. Und in diesen bisherigen 104 Seiten kam der Vater nur sehr sporadisch vor.


    Im Kontext mit der Familie eigentlich nur einmal, als sie am Sonntag gemeinsam frühstücken. (S. 66 bis 73) Absolut typisch: Der Vater spricht über seine Arbeit, die Mutter hört pflichtschuldigst zu, gibt ein paar nichtssagende Floskeln von sich und gut ist. Genaugenommen habe ich der Erzählung des Vaters nicht großartig folgen können. Die Welt eines Bergmannes ist mir so fremd, dass ich seine Worte und Begriffe nicht verstanden habe. Sätze wie "Wie soll ich bei der Gedingelage den Hobel ansetzten." erzeugen bei mir kein Bild, es ist mir zu exotisch.


    Und ich glaube, symptomatisch für die Zeit ist das große Schweigen, sobald das Gespräch auf den Krieg kommt. Die kleine Sophie fragt den Papa, ob er im Krieg jemanden erschossen hat. Der Vater bleibt ihr die Antwort schuldig, ja noch nicht einmal seine Frau scheint die Wahrheit zu wissen. Vergessen wollen durch Verdrängung? Vielleicht die einzige Möglichkeit damals mit den schlimmen Erinnerungen fertig zu werden.


    Mein Opa hat auch nur lustige Anekdoten aus dem Krieg erzählt. Bei mir entstand als kleines Kind die Vorstellung, dass die Männer in Russland eine Menge Spaß hatten.


    Bisher empfinde ich den Roman als Entwicklungsgeschichte eines Jungen in den 60er Jahren. Er steht am Übergang von der Kindheit ins Jugendalter.

  • Zur Perspektive:


    Der Roman ist ja großteils in der Ich-Perspektive aus Sicht von Julian geschrieben. Allerdings habe ich beim Lesen eher den Eindruck der personellen Perspektive. Die Ich-Perspektive ist für Innenansichten und Gefühlsäußerungen der Hauptfigur prädestiniert.


    Aber gerade diesen Aspekt lässt Rothmann völlig außer Acht. Ich habe das Gefühl, als würde Julian von sich so erzählen, als stünde er neben sich. Irgendwie teilnahmslos. Soll das ausdrücken, dass Julian gefühllos ist? Dass er jetzt schon diesen Kokon undurchdringlicher Stumpfheit um sich hat wie seine Eltern?


    Keinerlei Äußerungen, die seine Wut ausdrücken, als er merkt, die Kumpels haben seinen Hasen geschlachtet, kein Wort darüber, wie traurig er ist, als seine Mutter wegfährt und keine einzige wie auch immer geartete Geste des Abschieds für ihn übrig hat.


    Was wollte der Autor mit dieser Erzählweise bewirken? Wie wirkt sie auf dich, Doc?

  • Zitat

    Original von Rosha
    Aber gerade diesen Aspekt lässt Rothmann völlig außer Acht. Ich habe das Gefühl, als würde Julian von sich so erzählen, als stünde er neben sich. Irgendwie teilnahmslos. Soll das ausdrücken, dass Julian gefühllos ist? Dass er jetzt schon diesen Kokon undurchdringlicher Stumpfheit um sich hat wie seine Eltern?


    Keinerlei Äußerungen, die seine Wut ausdrücken, als er merkt, die Kumpels haben seinen Hasen geschlachtet, kein Wort darüber, wie traurig er ist, als seine Mutter wegfährt und keine einzige wie auch immer geartete Geste des Abschieds für ihn übrig hat.


    Was wollte der Autor mit dieser Erzählweise bewirken? Wie wirkt sie auf dich, Doc?


    Der Vater als Verdiener ist der Mittelpunkt der Familie. Dass er Kriegsteilnehmer war, ist ein wichtiges Detail, um ihn zu verstehen. Verdrängen ist der allgemein anerkannte und übliche Weg, mit den Kriegserlebnissen umzugehen. Der Vater müsste wissen, dass seine Frau sein Fachchinesisch nur schwer versteht. Es ist ihm gleichgültig; denn es ist ihre Aufgabe, als Blitzableiter zu dienen. Die Mutter lässt an den Kindern ihre Laune aus, kann sich nicht per Ich-Botschaft ausdrücken. Damals war es vermutlich noch nicht üblich, zu Kindern zu sagen: ich habe mich über dich geärgert, sie wurden geschlagen, bestraft. Julian verhält sich so, wie er es in der Familie gelernt hat.

  • Zitat

    Original von Buchdoktor
    Der Vater als Verdiener ist der Mittelpunkt der Familie.


    Ja, genau wie die Sonne im Zentrum unseres Sonnensystem steht. Und ähnlich weit weg sehe ich den Vater auch in dieser Familienkonstellation. Seine Aufgabe ist es, Geld heran zu schaffen. Er funktioniert und die anderen haben gefälligst auch zu funktionieren.


    Ob die Leiden der Mutter tatsächlich nervös bedingt sind? Warum ist sie so unglücklich/unzufrieden? Weil der Mann sie wenig beachtet?


    Mir erscheinen die Eltern so gefühllos. Warum haben sie eigentlich Kinder? Fehlende Möglichkeiten zur Verhütung? Weil jeder Kinder hat, weil das schon immer so war? Ich kann nicht erkennen, dass sie ihre Kinder mögen.


    Auf dem Bauernhof waren Kinder willkommene Arbeitskräfte. Dieses Argument entfällt im Wohnungsdasein.

  • Über die Motive erfährt man nichts und ich kann mir gut vorstellen, dass sie den Colliens und anderen zu der Zeit selbst nicht klar waren. Die Sichtweise, dass die Kriegsteilnehmer und die Kinder dieser Generation ihre Emotionen nicht ausgesprochen haben, damit der Deckel nicht vom Kessel fliegt, ist ja noch sehr neu. Wir haben heute gut reden, weil uns die Distanz zwischen den Familienmitgliedern aufällt, für die Beteiligten war es vermutlich normal so.


    Auf Seite 76 begegnen sich Julian und Herr Gorny im Keller, eine ungeheuer eklige Situation. Ob Julian das selbst schon klar ist?

  • Zitat

    Original von Buchdoktor
    Auf Seite 76 begegnen sich Julian und Herr Gorny im Keller, eine ungeheuer eklige Situation. Ob Julian das selbst schon klar ist?


    Ich glaube nicht. Mit seinen 12 Jahren ist er noch ein liebes, unverdorbenes Kind. Die ganze Thematik um Pädophile war damals noch kein Tagesgespräch, oder? Heutzutage hat man in der Hinsicht viel feinere Antennen. Es wird den Kindern auch schon anders vermittelt.


    Ich habe bereits die noch ekligere Szene auf den Seiten 154 bis 161 gelesen, als Gorny im Beisein Julians im Bauwagen masturbiert. Ich bin mir nicht einmal sicher, dass Julian hier genau kapiert hat, was abgeht.

  • Durch ein Kinoplakat (Ursus der Rächer) lässt sich eingrenzen, dss der Roman 1960 spielt (oder später, falls jemand das Kinoplakat hängen ließ). Eine interessante Zeit, in der die Deutschen sich nach und nach gutes Essen, neue Möbel, größere Wohnungen, einen fahrbaren Untersatz und erste Urlaube in Italien gönnten. Es gibt im Bergwerk, in dem "der Mann" und der Vater des Icherzählers Julian arbeiten, schon italienische und portugiesische Begleute, die in einem Wohnheim wohnen.


    In der Fachsprache des Bergmanns wird die Welt unter Tage beschrieben, Wörter, die wie Fremdsprache wirken und doch leicht verständlich sind für die, die nur die Erdoberfläche kennen, wie z. B. Julians Mutter. Der Arbeitsplatz im Bergbau wirkt düster, man spürt die Beklemmung durch das Eingeschlossensein unter Tage sehr nah, aber auch die Schönheit bestimmter Einzelheiten. Z. B. findet der Bergmann ein Stück Kohle mit dem Abdruck eines prähistorischen Tiers.


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    Der Icherzähler Julian ist 10, noch nicht in der Pubertät und lebt mit Eltern und seiner jüngeren Schwester Sophie in beengten Verhältnissen. Aus dem Fenster sieht man Gärten und Obstbäume und dahinter die Bagger und Förderbänder des Bergbaus. Der Vermieter hat sich versschuldet für den Hausbau und vermietet die Wohnung an Julians Familie. Die Gornys haben vier Kinder. Ein Zimmer auf Julians Etage wird von der 15-jährigen Tochter der Vermieter, Marusha bewohnt, die schon eine sexuelle Beziehung zu einem sehr viel älteren Mann hat. Marushas Lover wirkt auf Julian so alt, dass Julian Sie zu ihm sagt. Im Vergleich zu Marusha ist Julian noch ein Baby. Julian gehört zu einer Kinderbande, mit der er in einer Hütte ein paar Tiere und sogar einen herrenlosen Hund hält.


    Das Familienleben kreist auf der Umlaufbahn der Schichten im Bergbau. Wenn der Vater Schicht hat, braucht er das Fahrrad, wenn er Nachtschicht hatte, muss man auf seinen Schlaf Rücksicht nehmen. Kinder werden noch geprügelt, auch der Lehrer prügelt, und der Verbrauch an Holzlinealen, Kleiderbügeln und Kochlöffeln muss immens sein. In diesem Sommer fährt die Mutter allein mit Julians Schwester an die Ostsee, um sich von ihrer Gallenkrankheit (?) zu erholen, die der Vater nicht als Krankheit anerkennt. Der Vater muss arbeiten. Für Julian sieht es nach einem langweiliger Sommer aus, weil einige seiner Freunde in Urlaub sind. Es wird ein Sommer wichtiger persönlicher und sozialer Veränderungen und der Gelegenheit zu Männergesprächen zwischen Julian und seinem Vater. Eine der emotionalsten Szenen war für mich, als Julian dem Vater Frühstück macht (S. 217). Eines der Gespräche dreht sich darum, dass der Vermieter im Beruf dem Vater in manchen Situationen unterstellt ist und der Vater an seinem Arbeitsplatz sehr anerkannt ist. Offenbar macht sich Julian zum ersten Mal Gedanken über die Areitswelt. Als Vater und Sohn Großvater Jupp in seinem Beerdigungsunternehmen assistieren, könnte sich Julians Blick dafür öffnen, dass er nicht zwangsläufig Bergmann wie sein Vater werden muss.


    Sehr interessant und auch widersprüchlich fand ich die Lebensbedingungen der Familie. In den 60ern dachte noch kaum jemand an partnerschaftliche Teilung der Arbeit in der Familie.


    Bei Julians Familie wirkt der emaillierte, gusseiserne, mit Kohle befeuerte Herd wie ein heimlicher Herrscher. Während schon längst ein Kühlschrank angeschafft wurde, kocht man natürlich weiter mit Kohle, wenn sie gratis ist. Die umständliche Aktion, zuerst Feuer zu machen, nur um den Morgenkaffee zu kochen, erschwert für Julian als Kind, seinen Vater zu versorgen, während die Mutter an der Ostsee ist. Der Herd ist Hohheitsgebiet der Mutter, vielleicht auch, weil "Feuer nichts für Kinder" war. Während die Mutter weg ist, kocht die Vermieterin für Vater und Sohn mit. Solange der Herd bleibt, kann die Mutter jedoch nichts an ihrem Leben ändern! "Die Frau, die mich heiratet, hat immer den Keller voller Kohlen". (S. 177) Rothmanns Figuren wissen zu ihrer Zeit noch nicht, dass sich die Bedeutung des Bergbaus und die Bedeutung der Kohle innerhalb kurzer Zeit ändern wird. Bald werden Frauen nicht mehr heiraten müssen, um im Winter nicht zu frieren.


    Gerätselt habe ich die ganze Zeit, warum es außer dem Fernsehapparat und dem Kühlschrank nichts Wertvolles im Haus gibt, obwohl der Vater vergleichsweise sehr gut verdient. Die Möbel sind auf Abzahlung gekauft. Sollten vier Personen, wenn die Eltern starke Raucher sind, den kompletten Lohn eines Bergmanns verbrauchen, ohne etwas zu sparen?


    Junges Licht beschreibt auf mehreren Ebenen Momente des Innehaltens, ehe es im Leben der Figuren große Umbrüche geben wird. Julian kommt in die Pubertät, er wird erwachsene Autoritäten infrage stellen müssen (Gorny), seine Moralvorstellungen (die Familie ist katholisch) werden gleich vielfach ins Wanken gebracht (der Fahraddiebstahl, Marusha) - und dann ist da noch der unbekannte Bergmann. Der Roman beobachtet einerseits den Alltag in den 60ern und die Wertvorstellungen jener Zeit sehr genau. Andererseits wird vieles nur angedeutet, so dass ich beim Lesen stets über die Motive der Personen gerätselt habe. Ein großer Teil der Geschichte ist in meinem Kopfkino abgelaufen.


    Sicher können wir gemeinsam noch sehr viel mehr aus den knapp 240 Seiten herausziehen.

  • Zitat

    Original von Buchdoktor
    Durch ein Kinoplakat (Ursus der Rächer) lässt sich eingrenzen, dss der Roman 1960 spielt (oder später, falls jemand das Kinoplakat hängen ließ).


    Was für eine raffinierte Idee von dir! Das zu googeln ist mir nicht in den Sinn gekommen. Allerdings muss es ein altes Plakat gewesen sein, denn auf Seite 178 gibt Lippek (Colliens Freund) Julian einen Bildband mit dem Titel "Oberliga West, 1947 - 1963". Da Lippek ein großer Fan ist, könnte es sich um ein ziemlich aktuelles Buch handeln. Oder höchstens ein Jahr alt, was meinst du?


    Einen Hinweis auf Sophies Alter gibt es auf Seite 101. Dort ist die Rede von Anna und Rita, zwei Freundinnen von ihr: "beide hatten große Lücken zwischen den Zähnen". Die Milchzähne verlieren die meisten zwischen 5 und 7 Jahren. Mein Eindruck vom Alter Sophies habe ich damit bestätigt gesehen.


    Der Roman fordert beinahe mehr detektivische Gedankenarbeit als ein Krimi! :grin

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Franz Kafka

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  • Inzwischen habe ich das Buch ganz gelesen. Zum Schluss hin haben sich noch einige Fragen bei mir aufgelöst. Die Krankheit der Mutter sehe ich seelisch bedingt. Sie kommt nich damit zurecht, dass ihr Mann des öfteren fremdgeht. Und dann anscheinend auch noch mit sehr jungen Mädchen. Dass sie schon wieder umziehen müssen, scheint ja nicht das erste Mal passiert zu sein.


    Was meinst du, hat der Pfarrer sein Beichtgeheimnis gebrochen und Herrn Collien hingehängt? Ich denke schon. Blanker Hohn natürlich die rechtschaffene Wut des Herrn Gorny, der sich als Pädophiler auf noch schlüpfrigerem Boden bewegt. Für Julian bin ich froh, dass er durch den Umzug aus dessen Wirkungskreis verschwindet.


    Die Wut der Mutter auf ihren Sohn hat sich auch erklärt. Julian hat das Pech, seinem Vater außerordentlich ähnlich zu sehen. Die Mutter überträgt die Wut, die sie eigentlich ihrem treulosen Ehemann gegenüber empfindet, auf den Sohn. Stellvertretend für den Vater muss er die Schläge ertragen. Das ist so erbärmlich! Auch wenn die Mutter in gewisser Weise ein Opfer ist, macht es sie keineswegs sympathischer, dass sie die Tritte nach unten weiter gibt. Noch dazu, da es ihr ohnehin nicht hilft. Ihr Seelenzustand wird durch die Prügel am Sohn nicht besser.


    Angerührt hat mich die Szene bei Lippek, als der Vater mit Stolz von seinem Sohn erzählt hat. Dass er gut zeichnen und verständig mit Tieren umgehen kann. Erst da habe ich gemerkt, dass er seine Kinder wahrnimmt, dass durchaus liebende Gefühle vorhanden sind. Das hat mich etwas versöhnt.

  • Den Begriff Stille Feiung auf Seite 199/200 musste ich bei Tante Google nachschlagen. Das kannte ich bislang nicht.


    Stille Feiung (englisch: occult immunization) nennt man in der Medizin eine Immunantwort des Körpers im Rahmen einer symptomlosen (asymptomatischen, inapparenten oder stummen) Infektion mit einem Krankheitserreger.