110 - Ein Bulle hört zu - Cid Jonas Gutenrath

  • Anmerkung: Ich habe vorher die gekürzte Hörbuch-Version gehört, rein inhaltlich gibt es kaum Unterschiede, deshalb habe ich weite Teile meiner Hörbuch-Rezension auch für die Buch-Version übernommen!



    Kurzbeschreibung:
    Ein Freigänger erschlägt seine Frau mit einer Axt, eine verzweifelte Mutter sucht Rat in Erziehungsfragen, ein Yacht-Besitzer empört sich, weil er auf dem Landwehrkanal geblitzt wurde: Wenn Cid Jonas Gutenrath Notrufe entgegennimmt, kommt er den Menschen sehr nahe. Ob er eine Frau zum Weiterleben überredet oder einen kleinen Jungen tröstet, dessen Mutter gerade gestorben ist: Gutenrath begegnet ihnen allen auf seine ganz persönliche Art. Beim Hören dieser authentischen Geschichten lacht man Tränen oder es stockt einem der Atem.



    Über den Autor:
    Cid Jonas Gutenrath, *1966, war Heimkind, Türsteher, Marine-Taucher, Bundesgrenzschützer, Streifenpolizist und Zivilfahnder, bevor er ein Jahrzehnt lang Notrufe in der Berliner Einsatzzentrale entgegennahm. Er lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern vor den Toren Berlins.



    Meine Rezension:
    Wenn ein Unfall oder Unglück passiert ist, eine Straftat begangen wurde oder man sich selbst in Gefahr befindet, soll man die 110 wählen - das weiß jedes Kind. Doch kaum jemand macht sich Gedanken darüber, wer am anderen Ende der Leitung sitzt und dass dieser Jemand einen ausgesprochen wichtigen Job macht. Das ändert sich mit dem vorliegenden Buch.


    Cid Jonas Gutenrath gibt in "110 - Ein Bulle hört zu" einen ebenso eindringlichen und menschlichen wie tragischen und komischen Einblick in seine Arbeit als Polizist in der Notrufzentrale der Berliner Polizei. Die Anrufe, die hier landen, kommen von den unterschiedlichsten Menschen und werden aus den unterschiedlichsten Gründen getätigt. Vom kleinen Jungen, der seine verstorbene Mutter vermisst über eine junge Frau, die sich aus Liebeskummer das Leben nehmen will, bis hin zu dem durch Stichwunden lebensgefährlich verletzten Homosexuellen und Mann, der auf Freigang seine Frau mit einer Axt erschlägt - sie alle landen am Telefon von Gutenrath, der stets die richtigen Entscheidungen treffen und während des schwierigen Gesprächs entsprechende Maßnahmen einleiten muss. Gutenrath gibt die Gespräche direkt wieder, beschönigt nichts und vermittelt dem Hörer nicht nur ein breites Bild von seiner Arbeit, sondern durch die immer wieder eingestreuten, themenrelevanten persönlichen Erlebnisse und Anekdoten aus seiner Vergangenheit auch einen guten Eindruck von ihm selbst. Gegen Ende des Buches nehmen die persönlichen Erinnerungen des Autors deutlich zu und sind mir persönlich an der ein oder anderen Stelle auch etwas zu detailliert (z.B. wenn es um seine Erfahrungen als Marinetaucher geht), aber das mag Geschmackssache sein.


    Bezogen auf seine Arbeit in der Notrufzentrale gilt: Nicht jeder Anruf ist gleichermaßen tragisch, mancher sogar eher amüsant, doch Gutenrath nimmt jeden von ihnen wichtig und bemüht sich um jeden Anrufer, solange der nicht so unverbesserlich ist, dass selbst der Autor selbst mit seiner Meinung nicht mehr hinterm Berg halten kann.
    "110 - Ein Bulle hört zu" ist mitten aus dem Leben gegriffen und erzählt die große Bandbreite des Lebens so menschlich und auf spannende, sympathische und teilweise auch humorvolle Art und Weise, die aber nie den Respekt gegenüber dem Menschen auf der anderen Seite der Leitung vermissen lässt. Cid Jonas Gutenrath hat mein Bewusstsein geweckt für die Menschen, die in der Notrufzentrale der Polizei arbeiten und Tag für Tag mit solchen Anrufern und ihren Schicksalen konfrontiert werden. Hut ab und großen Respekt vor dieser Arbeit!


    Für das Buch vergebe ich 9 Punkte!



    Zum Vergleich zwischen Buch und Hörbuch: Im Buch finden sich etwa doppelt so viele (wenn auch nicht doppelt so lange) Episoden wie auf dem Hörbuch wieder, vor allem solche, in denen der Autor viel von sich selbst und früheren Erfahrungen aus anderen Berufen oder seinem Alltag berichtet. Wem es vor allem um einen breiten Einblick in die Arbeit in der Notrufzentrale Berlin geht, der mag das Hörbuch bevorzugen; wer jedoch (nicht nur über den Autor) mehr erfahren möchte, der sollte zur Buchversion greifen!


    EDIT: Hörbuch-Rezi verlinkt

  • Danke für die Rezi!
    Hab den Autor vor einigen Wochen mal in einer TV-Talkrunde gesehen und fand das, was er erzählt hat, hochinteressant. War mir aber nicht sicher, ob ich das Buch lesen möchte...werd's jetzt aber erstmal auf meine Wunschliste packen (und schauen, ob die Stadtbücherei das Buch evtl. anschafft/schon angeschafft hat...).

  • Meine Rezension
    Cid Jonas Gutenrath ist eine der Stimmen am anderen Ende der Leitung, wenn man in Berlin den Polizeitnotruf anwählt. Aus ebenso einfachen wie kunterbunten Verhältnissen stammend, hat er schon einen ziemlich bewegten und turbulenten Lebenslauf hinter sich gebracht, bevor er zu seinem Job in der Notrufzentrale kam.


    Wir erleben hier ein buntes Sammelsurium der Anrufe, mit denen sich der Autor Tag für Tag auseinandersetzen muß. Er hat dabei eine sehr eigene Art, mit den Anrufern umzugehen, was sicher oft auch nötig ist. So gibt er je nach Anlaß eine Mischung aus Bulle, Schauspieler, Komiker und Therapeut. Dennoch kommt mir das ziemlich überzogen vor. Natürlich sind die „klassischen“ Notrufe vielleicht nicht wirklich die spannenden, die in einem Buch „etwas“ hergeben, aber die Anrufer erscheinen mir hier viel zu oft einfach zu freakig. In meinen Augen hat der Autor hier wesentlich mehr mit Spinnern als mit echten Notlagen zu tun – wobei die Auswahl der „tauglichen“ Geschichten für das Buch das bestimmt auch verfälscht. Was mir auch aufgefallen ist: Der Autor arbeitet in der Notrufzentrale, wird aber von vielen Anrufern ohne Ende vollgeschwafelt, als hätten alle Beteiligten alle Zeit der Welt.


    Schade finde ich, daß ich für mich zuwenig über den so wenig alltäglichen Alltag in einer Notrufzentrale erfahren habe, über die Verzahnung mit den Einheiten vor Ort, über die parallel laufenden Recherchen etc. Diese für mich sehr interessanten Punkte werden leider immer nur am Rande angerissen.


    Das Buch selbst ist gut lesbar und sehr unterhaltsam geschrieben, dennoch hatte ich immer mehr den Eindruck, daß nicht die Anrufer im Mittelpunkt stehen, sondern immer nur der Autor und seine kunterbunte Lebensgeschichte. Vor allem zum Ende hin geht es immer mehr nur um ihm und seine Vergangenheit.


    Wie dem auch sei, das Buch hat mich trotz meiner Kritikpunkte gut unterhalten. Ich hatte einfach nur etwas anderes erwartet: einen echten Einblick in den Alltag der Notrufzentrale. Bekommen habe ich einen tiefen Einblick in Vita und Psyche des Autors. Das ist etwas ganz anderes als das, was ich wollte – war aber durchaus auch interessant. Ich kann mir aber vorstellen, daß dies einige Leser des Buches enttäuschen wird.


    Hier würde mich im übrigen sehr interessieren, wie andere Polizisten das Buch bewerten würden.

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Zitat

    Original von Batcat
    Hier würde mich im übrigen sehr interessieren, wie andere Polizisten das Buch bewerten würden.


    Das würde mich allerdings auch mal interessieren.


    Ansonsten finde ich das eine sehr gute Umschreibung des Buches und du bringst es auf den Punkt mit der Aussage:
    Das Buch selbst ist gut lesbar und sehr unterhaltsam geschrieben, dennoch hatte ich immer mehr den Eindruck, daß nicht die Anrufer im Mittelpunkt stehen, sondern immer nur der Autor und seine kunterbunte Lebensgeschichte. Vor allem zum Ende hin geht es immer mehr nur um ihm und seine Vergangenheit.


    Das ist mir leider bei meiner Meinung nicht eingefallen, aber als ich es gelesen habe, musste ich heftig nicken und zustimmen.


    Vielen Dank für die Rezi und LG :wave

  • Nachdem ich über meine gestrige Rezi noch einmal geschlafen habe, muß ich doch noch mal nachlegen (was selten vorkommt), weil mir noch ein Punkt eingefallen ist, den ich leider vergesssen hatte zu erwähnen:


    "Es geht nicht um mich. Es geht um uns. Es geht um alle" - so oder ähnlich schreibt der Autor in seinem Vorwort (ich habe den exakten Wortlaut nicht mehr im Kopf), was ich aber nicht bestätigen kann. Denn in seinem Buch geht es fast ausschließlich um ihn, um sein Leben und seine Vergangenheit und wie cool und
    selbstsicher er mit seiner "Kundschaft" umgeht.


    Dennoch hat mir das Buch ganz gut gefallen, aber ein reales Abbild ist es nicht. Eher eine Polizei-Doku-Soap in Buchform. Oder Polizeifantasy. Aber immerhin gut gemachte. :-)


    @ Mercymelli
    nachdem Milla und Du ja das Buch recht unterschiedlich bewertet hattet, war ich ja besonders gespannt darauf, wie ich es empfinde. :-)

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Obwohl sich das Buch wirklich gut weglesen ließ und mir die einzelnen Geschichten gut gefallen haben, bin ich nicht ganz sicher, was ich vom Autor/Erzähler halten soll.


    Irgendwie habe ich die ganze Zeit John McLane ("Stirb Langsam") vor Augen: ein etwas abgehalfterter, megacooler Superheld, der alles schon gesehen und erlebt hat und mit jedem klar kommt - und dabei natürlich immer einen lässigen Spruch auf den Lippen hat.
    Er ist in Clubs auf St. Pauli groß geworden, war quasi Karateprofi, hat bereits mit 16 als Rausschmeißer gearbeitet und hat schließlich die härteste Ausbildung Deutschlands zum Marinetaucher absolviert und dann auch noch bei diversen Polizei-, BGS- und Polizeieinheiten gearbeitet. klingt irgendwie alles ein bisschen sehr viel.


    Die Stories selbst fand ich allerdings gut. Der Erzähler löst die Fälle alle sehr geschickt, warmherzig, nicht auf den Mund gefallen und immer mit Humor. Dabei geht er vor allem auch mit brenzligen Situationen sehr clever um. Ein Herz hat er vor für die vom Leben Benachteiligten: so schützt er Obdachlose, die von Schlägern bedroht werden, hilft einem kranken Schwulen, der in einem Club belästigt wird und hält eine alleinerziehende Hartz IV-Empfängerin davon ab, eine Megadummheit zu begehen. Andererseits nimmt er aber bei so richtigen Unsympathen auch kein Blatt vor den Mund: so nimmt er einen reichen Schnösel, der einen teuren Koi-Karpfen vermisst, nicht so recht ernst und von großklappigen "isch f*ck Deine Mutter"-Jungs lässt er sich schon gar nichts sagen.
    Ob sein Vorgehen tatsächlich im Polizeialltag immer so akzeptiert ist, kann ich mir nicht so richtig vorstellen. Trotzdem wünsche ich mir, dass ich mal so einen warmherzigen Menschen erwische, der immer eine Lösung parat hat, wenn ich mal in Not sein sollte und die 110 wählen muss.

  • Gestern habe ich dieses Buch nun auch beendet und ich kann mich meinen Vorrednern eig nur anschliessen. Die Storys sind wirklich zum Großteil sehr interessant,amüsant und auch schockierend. Allerdings hat es mich auch etwas gestört, dass der Autor doch sehr viel von sich erzählte.Hin und wieder etwas von sich einzubringen ist ja okay,doch zum Schluss hab ich diese Passagen eher überflogen. Doch trotz dieses kleinen Makels liest sich das Buch leicht und flüssig und daher gibt es von mir 8 von 10 Punkten.

  • Zu Beginn war ich noch begeistert von den Geschichten, die der Autor des Buchs, der am Notruftelefon sitzt, zu erzählen hat. Es erinnerte mich an Janine Binders Roman "Seine Toten kann man sich nicht aussuchen".


    Doch im Gegensatz dazu ermüdete mich irgendwann der Erzählstil, so dass ich mit immer größeren Abständen die einzelnen Geschichten las, hinter denen ja nun echte Schicksale steckten.


    Batcat hat es auf den Punkt gebracht:

    Zitat

    Das Buch selbst ist gut lesbar und sehr unterhaltsam geschrieben, dennoch hatte ich immer mehr den Eindruck, daß nicht die Anrufer im Mittelpunkt stehen, sondern immer nur der Autor und seine kunterbunte Lebensgeschichte. Vor allem zum Ende hin geht es immer mehr nur um ihm und seine Vergangenheit.


    Daher von mir nur 6 Punkte und den Tipp, lieber Janine Binders Buch zu lesen ;-)