Joyce Carol Oates: Die unsichtbaren Narben

  • Joyce Carol Oates: Die unsichtbaren Narben
    dtv 1995. 588 Seiten
    ISBN-13: 978-3423120517.
    Originaltitel: You must remember this (1987)
    Übersetzer: Rüdiger Hipp


    Inhalt
    Enid Maria Stevick hatte schon als kleines Mädchen Todesgedanken gehabt. In der Bibliothek informierte sie sich ausfürhlich über Selbstmord und wurde in den Zeitschriften ihres Vaters mit dem Sterben im Krieg und in Vernichtugslagern konfrontiert. Enid ist eine gehorsame, fleissige Schülerin und sehr gute Sportlerin, die keine gleichaltrigen Freundinnen hat. Sie wächst in der erste Hälfte der 50er Jahre mit drei Geschwistern in einer katholischen Familie auf. Der ältere Bruder Warren ist sichtbar von seinen Verletzungen gezeichnet aus dem Koreakrieg zurückgekehrt. Geraldine, die älteste Tochter, wurde ungeplant schwanger und eilig unter die Haube gebracht, "ehe man etwas sieht". Lizzi träumt von einer Karriere als Sängerin und Tänzerin, für die Ausbildung verdient sie entschlossen selbst. Vater Lyle lehnt das Showgeschäft als Gefährdung der Moral seiner Tochter ab. Das Ehepaar Stevick (die überängstliche Mutter spielt im Roman nur eine Nebenrolle) kann sich nur schwer damit abfinden, dass ihre heranwachsenden Kinder eigene Wege gehen wollen. Nach einer kurzen Phase, in der Enid mit ihrem zweiten Ich "Engelchen" Kontakt pflegt, würde sie in der Pubertät am liebsten nicht mehr wachsen und nicht mehr essen. Lizzie findet ihre Schwester nach einem Selbstmordversuch bewusstlos. Obwohl der behandelnde Arzt vor einem weiteren Versuch warnt und Warren das Gespräch mit seiner Schwester sucht, schweigen die Stevicks über Enids "Unfall"; die Eltern lehnen eine Therapie für ihre Tochter eisern ab. "In unserer Familie gibt es keine Geisteskrankheit." Ihre Ängste, Enid könnte in die Psychiatrie eingewiesen werden oder die Versicherung könnte die Zahlung der Krankenhausrechnung ablehnen, sind auch aus heutiger Sicht nachvollziehbar. Lyles Bruder Domenic lehnt als katholischer Priester Psychotherapie sogar als atheistisch ab.


    Die Stevicks wissen nicht, dass Enid von ihrem Onkel Felix, dem jüngeren Bruder ihres Vaters, missbraucht wurde. Enid glaubt, dass sie Felix so liebt, um dafür zu sterben. Nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus führt die Fünfzehnjährige in aller Heimlichkeit die illegale Beziehung zu ihrem Onkel weiter. Offiziell tritt Felix als Förderer seiner Nichte auf, der ihren Klavierunterricht finaziert. Enid dient Felix in dieser obsessiven Beziehung ohne jede Selbstachtung als Objekt, sie lässt sich von ihm einreden, was sie zu fühlen hat. Felix, von Beruf Profiboxer, verkörpert das klassische Beispiel eines Gewalttäters, der seinem Opfer die Schuld zuschiebt. Er selbst hat stets seinen Trainern und Förderern die Verantwortung über den eigenen Körper überlassen. Logisch, dass immer Enid Schuld ist. Auch Felix ist Kriegsveteran, er kämpfte im Zweiten Weltkrieg im Südpazifik und fühlte sich sich schon mit 23 Jahren um sein Leben betrogen. Felix traut niemandem, wie im Ring sorgt er stets für Deckung.


    Fazit
    Joyce Carol Oates zeichnet ein umfangreiches, bis in winzige Details sorgfältig recherchiertes Sittengemälde der frühen Fünfziger. Selbst der harmlose Lyle Stevik wird Opfer der hysterischen Kommunisten-Jagd während der McCarthy-Ära, als ihn ein Kunde denunziert, nur ein Verschwörer würde so genau über die Fläche der Sowjetunion Bescheid wissen wie Lyle. Das Todesurteil gegen die Rosenbergs war damals Thema, man interessierte sich für UFOs, Warren wird im Wahlkampf Adlai Stevensons gegen Eisenhower aktiv und der Bau eines Schutzbunkers gegen atomare Angriffe wurde als patriotischer Akt betrachtet. Die illegale Beziehung zwischen Felix und seiner minderjährigen Nichte, das Schweigen und Verschweigen innerhalb der Failie Lyle und - sehr ausführlich - der Boxsport stehen im Mittelpunkt des Romans.


    Textauszug
    In seinem Oberkörper schwabbelte das schlaffe Fleisch, doch sein Bizeps war nach wie vor hart, sein Hals immer noch mächtig verdickt; die frischen, blutenden Platzwunden auf seiner Stirn gaben ihm ein wildes und zorniges Aussehen, ließen ihn aber auch seltsam intakt und unbeugsam erscheinen. Mit überraschender Gewandtheit duckte er sich sich unter einem von Jo-Jos kühnen rechten Cross-Schlägen weg und feuerte im Hochkommen selbst einen ab, auf den er sofort einen linken Haken folgen ließ. Da taumelte Jo-Jo plötzlich rückwärts in die Seile, konnte nicht zu Boden gehen, und McCord hämmerte auf ihn ein: in die Hezgegend, auf den Bauch, an den Kopf. In Sekundenschnelle fügte er ihm an den Augen und am Mund offene Wunden zu, als hätte er dort ein Rasiermesser angesetzt. (S. 337)


    10 von 10 Punkten

  • Ganz prima, dass du dieses Buch "ausgegraben" hast, das ja nicht gerade Anspruch auf Tagesaktualität erheben kann. Allein deine Zusammenfassung des Inhalts und dein Fazit jedoch sind schon spannend genug, um das Buch zu bestellen. Das hab ich gerade getan - für unter 3 EUR incl. Versand ein preiswerter Spaß, auf den ich mich schon freue! :wave

  • Aufgrund dieser Rezi war definitiv nichts anderes möglich: Buch habe ich soeben bestellt.


    Besten Dank für diese Buchvorstellung. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Ich habe erst ein einziges Buch von Joyce Carol Oats gelesen ("Du fehlst"), würde aber gern weitere lesen. Leider gibt es von ihr gar nichts für den Kindle, aber ich muss wohl mal ein paar Taschenbücher für nen Zehner einkaufen...


    Ich mochte ihren Stil sehr, auch die Themen finde ich sehr interessant. Meiner Ansicht nach ist sie doch sehr unterschätzt. Danke für die Rezension eines "älteren" Buches!


    LG,
    Babs