Hanns-Josef Ortheil: Das Kind, das nicht fragte

  • Hanns-Josef Ortheil: Das Kind, das nicht fragte
    Luchterhand Literaturverlag 2012.
    ISBN-13: 978-3630873022. 21.99€


    Verlagstext
    An einem Frühlingstag im April landet Benjamin Merz mit dem Flugzeug in Catania. Merz ist Ethnologe, und er möchte die Lebensgewohnheiten der Menschen in Mandlica, einer kleinen Stadt an der Südküste Siziliens, erkunden. Er freut sich auf das Frage- und Antwortspiel, auf das er sich gründlich vorbereitet, damit er mit den Einheimischen ins Gespräch kommt. Allerdings muss er große Hemmungen überwinden, um diese Gespräche auch tatsächlich zu führen. Denn Benjamin Merz ist zwar ein kluger Ethnologe, aber ihm fällt es ungeheuer schwer, das zu tun, worauf seine ganze Arbeit aufbaut: Fragen zu stellen. Und das hat seinen Grund. Aufgewachsen ist Benjamin Merz mit vier weitaus älteren Brüdern. Seine Kinderjahre verbrachte er in einer aufgezwungenen Spracharmut. Seine älteren Brüder gaben in der Familie den Ton an, und er als Nachkömmling war schon häufig alleine damit überfordert, zu verstehen, worüber gesprochen wurde. Selbst einfachste Verständnisfragen traute er sich dann nicht zu stellen, und später musste er sich das Fragen mühsam antrainieren. Dafür kann er aber ausgezeichnet zuhören. Und diese Fähigkeit macht ihn in Mandlica, der Stadt der Dolci, zu einem begehrten Gesprächspartner – insbesondere bei den Frauen. Sie beginnen ihm Familiengeheimnisse und verborgenste Liebeswünsche anzuvertrauen …
    Mit dem Roman »Das Kind, das nicht fragte« schreibt Hanns-Josef Ortheil an dem großen autobiographischen Selbsterforschungsprojekt seiner Kinder- und Jugendjahre weiter. Nach »Die Erfindung des Lebens« und »Die Moselreise« setzt sich der Autor auch in diesem Roman mit dem großen Themenkomplex des Zusammenhangs von Verstummen und Sprechen, Fragen und Selbstfindung auseinander.


    Der Autor
    Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden, seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.


    Inhalt
    Benjamin als jüngster von fünf Brüdern fühlte sich in seiner Familie stets übergangen und kam selbst kaum zu Wort. Bis heute lebt der Vierzigjährige als Single in seinem ehemaligen Elternhaus, von seinen beruflich erfolgreichen Brüdern immer noch behandelt wie ein Kind. Obwohl er eine Honorarprofessur in Ethnologie innehat, scheint Benjamin nach Meinung der älteren Brüder ohne ihre Ratschläge nicht zurechtzukommen. Für eine ethnologische Untersuchung reist Ortheils Icherzähler in die kleine Hafenstadt Mandlica auf Sizilien. Maria und Paula, die deutsch sprechen und seit Jahren in Mandlica leben, bilden für den ungefähr gleichaltrigen Benjamin den Brückenkopf zu den Einheimischen. Wie hypnotisiert fühlen sich die Bewohner von der Gesprächsführung des deutschen Gasts, begierig darauf, dem "professore" von sich und ihrem Heimatort zu erzählen. Benjamin fragt nicht; seine Probanden sprechen von sich aus und finden Benjamins Intuition in den Gesprächen oft unheimlich. Ein Gleichgesinnter ist offenbar der Buchhändler des Ortes, ähnlich begabt wie Benjamin, im Gespräch die Stärken und Begabungen seines Gegenübers herauszustellen und sich selbst zurückzunehmen. Italien mit seinen strengen Regeln über Sprechen und Schweigen in der Großfamilie scheint für Benjamins Interview-Vorhaben ein ideales Terrain zu sein. Zentrales Thema der Gespräche sind außer Beziehungen und Erinnerungen die Süßigkeiten, von deren Herstellung mehrere Familien leben. Fördergelder für ein üppig dimensioniertes EU-Projekt im Ort sollen mit der dolci-Produktion als Begründung losgeeist werden. Wer könnte das Projekt besser koordinieren als der Professor aus Deutschland?


    Fazit
    Benjamin wirkte auf mich wie ein liebenswürdiger Aufschneider, der seine Motive geschickt verbirgt und es sich in seiner Rolle als Forscher gemütlich macht. Flüchtet er aus den eingefahrenen Strukturen seiner Familie, aus einem Beruf, der ihn offenbar doch nicht ernährt? Die Entwicklung einer zarten Liebesgeschichte deutet sich früh an und die Atmosphäre in dem kleinen sizilianischen Ort lässt den Roman leicht und so liebenswürdig wie seine Hauptfigur wirken. Sinnvoll ist es, Ortheils ersten Roman über ein Kind, das aufhört zu sprechen, und dessen innige Beziehung zum Vater zu lesen: Die Erfindung des Lebens, der mich weitaus stärker berührte als Benjamins Abenteuer in Sizilien.


    7 von 10 Punkten

  • Sehr schöne und aufschlussreiche Rezi. Herzlichen Dank dafür. Ortheil ist in meinen Augen immer einen Buchkauf wert - und so werde ich mir wahrscheinlich auch dieses Buch dann wohl irgendwann kaufen. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Für mich ist dieses Buch eine Art Fortsetzung von "Die Erfindung des Lebens". Hier sind Benjamins vier ältere Brüder am Leben geblieben und bilden eine verschworene Gemeinschaft gegen den jüngeren Bruder. Der zieht sich immer mehr in sich zurück, versteckt sich unter dem Esstisch der Familie und lernt nicht, über sich selbst und seine Gefühle zu sprechen. Stattdessen entwickelt er eine unglaubliche Sensibilität für die Gefühle anderer, lernt intuituv, jede Regung, jede kleine Bemerkung des Gegenübers zu deuten und daraus seine Schlüsse zu ziehen.
    Ideale Voraussetzung für den Beruf des Ethnologen, in dem der erwachsene Benjamin recht erfolgreich ist. Nur leiden seine privaten Kontakte an seiner Unfähigkeit, eine tiefere Bindung zu anderen Menschen einzugehen. Er kann über sich selbst nicht sprechen und vermeidet dies durch immerwährendes Fragen. Kein Wunder, dass er einsam und scheu ein Leben für seine Wissenschaft führt.
    Das ändert sich erst im Laufe seines Forschungsaufenthalts in Mandlica, einer kleinen silzilianischen Stadt. Das Städtchen ist klein und überschaubar und macht es Benjamin durch das geruhsame und geregelte Leben leicht, sich heimisch zu fühlen. Hinzu kommt die Bekanntschaft mit den beiden Schwestern Paula und Maria, in deren Pension er lebt und dem örtlichen Buchhändler. Sie tragen alle dazu bei, dass es Benjamin gelingt, "sein Herz zu öffnen".
    Dies alles ist wunderbar leicht und ohne Pathos erzählt. Ein wenig irritierend waren für mich zunächst die Passagen mit den Fragen und Antworten der Dorfbewohner und der "Selbstinterviews", die Benjamin immer wieder mit sich führt. Nach einer kurzen Gewöhnungszeit passt diese Erzählweise jedoch gut zu den geschilderten Situationen und liest sich dann ganz selbstverständlich.
    Insgesamt hat mich das Buch sehr fasziniert und mich neu darüber nachdenken lassen, wie wichtig es für Menschen ist, ihre Gefühle mit anderen teilen zu können.
    Ich vergebe 8 von 10 Punkten.