Soldaten: Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben - Sönke Neitzel / Harald Welzer

  • Taschenbuch: 528 Seiten
    Verlag: Fischer Taschenbuch Verlag; Auflage: 1 (26. September 2012)
    ISBN-10: 3596188733
    ISBN-13: 978-3596188734


    Kurzbeschreibung:
    Dieses Buch legt auf einer einzigartigen Quellengrundlage erstmals eine überzeugende Mentalitätsgeschichte des Krieges vor. Auf der Grundlage von 150.000 Seiten Abhörprotokolle deutscher Soldaten in britischer und amerikanischer Gefangenschaft wird das Wissen um die Mentalität der Soldaten auf eine völlig neue Basis gestellt. In eigens eingerichteten Lagern wurden Kriegsgefangene aller Waffengattungen und Ränge heimlich abgehört. Sie sprachen über militärische Geheimnisse, über ihre Sicht auf die Gegner, auf die Führung und auch auf die Judenvernichtung. Das Buch liefert eine Rekonstruktion der Kriegswahrnehmung von Soldaten in historischer Echtzeit - eine ungeheuer materialreiche Innenansicht des Zweiten Weltkriegs durch jene Soldaten, die große Teile Europas verwüsteten. (Quelle: Amazon)


    Zu den Autoren:
    Sönke Neitzel, geboren 1968, Lehrtätigkeit in Mainz, Karlsruhe und Bern; 2010 Senior Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, ist seit 2012 Inhaber eines Lehrstuhls für International History an der London School of Economics (LSE).


    Harald Welzer, geboren 1958, ist Sozialpsychologe und Direktor von FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit.


    Meine Meinung: Es geht den Autoren dieses Buches weder darum, das Verhalten der deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg zu rechtfertigen noch zu verdammen, sondern dem Leser verständlich zu machen, wie aus Durchschnittsbürgern Werkzeuge der Nazidiktatur und Täter / Mitwisser unbeschreiblicher (Kriegs-)Verbrechen werden konnten. Dazu wurde das vorliegende Material - Abhörprotokolle im Umfang von 150000 Seiten - gesichtet und mittels sozialpsychologischer und anderer geisteswissenschaftlicher Methoden ausgewertet. Besonderes Augenmerk wurde darauf gelegt, herauszuarbeiten, was im Vergleich zu anderen Kriegen und Soldaten anderer Nationen bei Wehrmachts- und SS-Soldaten als "spezifisch deutsch" und "spezifisch nationalsozialistisch" einzustufen ist.


    Den kommentierten Auszügen aus den Protokollen ist eine hochinteressante und erhellende 67-seitige Einleitung mit dem Titel Den Krieg mit den Augen der Soldaten sehen: Referenzrahmenanalyse vorangestellt, in der erläutert wird, wie der deutsche Militarismus und später die totalitäre Ideologie des "Dritten Reiches" zu einer Werteverschiebung im Volk führten, ohne die es kaum zu einer breiten Akzeptanz (und natürlich Täterschaft!) von Kriegsgräueln wie z.B. den Erschießungen von Partisanen und Zivilisten beiderlei Geschlechts und aller Altersgruppen, der millionenfachen Ermordung russischer Kriegsgefangener und extremer, weitverbreiteter sexueller Gewalt gegen Frauen, geschweige denn dem Grauen des Holocausts, hätte kommen können. Obwohl ich mich bereits seit Jahrzehnten mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen beschäftigte, habe ich in diesem Abschnitt durchaus einige für mich neue Erkenntnisse gewinnen können.


    Das Buch, insbesondere die Einleitung, ist mit Fremdwörtern und wissenschaftlichen Fachtermini gespickt, dadurch nicht unbedingt als leichte Lektüre geeignet, aber mit der angemessenen Aufmerksamkeit auch für Laien wie mich komplett verständlich geschrieben. Es hat mich fasziniert, aufgerüttelt, dabei nicht zu knapp schockiert, und lässt mich ein bisschen klüger zurück.


    Fazit: Wer sich für den Nationalsozialismus, die Psychologie von Wehrmachtssoldaten und eine harte Innenschau des Krieges an sich und des Zweiten Weltkriegs im Speziellen interessiert, ist mit diesem Buch gut bedient.


    LG harimau :wave


    -

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von harimau ()

  • Danke, lieber harimau, für diese Rezi. :wave
    Ich fürchte, nun muss ich es doch kaufen.



    Zitat

    Original von harimau
    Den kommentierten Auszügen aus den Protokollen ist eine hochinteressante und erhellende 67-seitige Einleitung mit dem Titel Den Krieg mit den Augen der Soldaten sehen: Referenzrahmenanalyse vorangestellt, in der erläutert wird, wie der deutsche Militarismus und später die totalitäre Ideologie des "Dritten Reiches" zu einer Werteverschiebung im Volk führten, ohne die es kaum zu einer breiten Akzeptanz (und natürlich Täterschaft!) von Kriegsgräueln wie z.B. den Erschießungen von Partisanen und Zivilisten beiderlei Geschlechts und aller Altersgruppen, der millionenfachen Ermordung russischer Kriegsgefangener und extremer, weitverbreiteter sexueller Gewalt gegen Frauen, geschweige denn dem Grauen des Holocausts, hätte kommen können. Obwohl ich mich bereits seit Jahrzehnten mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen beschäftigte, habe ich in diesem Abschnitt durchaus einige für mich neue Erkenntnisse gewinnen können.


    Zum Thema Holocaust/Antisemitismus habe ich ein für mich sehr erhellendes Buch gelesen, das ich sehr empfehlen kann - falls Du es nicht schon kennst:
    Frank Bajohr/Dieter Pohl: Der Holocaust als offenes Geheimnis.
    Besonders der erste Teil von Frank Bajohr über gesellschaftliches Verhalten in Bezug auf die Judenverfolgung habe ich als sehr informativ und konsequent herausgearbeitet empfunden.

  • Bei diesen Abhörprotokollen stellt sich die Frage, wie ernst man sie nehmen sollte.


    Von vielen Seiten wird dieses Buch wegen seinen äußerst unwissenschaftlichen Schlussfolgerungen kritisiert. Man hat aus 150000 Seiten Aufzeichnungen die schlimmsten herausgefischt - Eine Best-Of sozusagen - und diese ohne jegliche Überprüfung übernommen und kommentiert. Ob es sich um Tatsachen handelt (die oftmals durchaus überprüfbar wären) oder ob es sich nur um Lügengeschichten bzw. Übertreibungen handelt, darauf gibt dieses Buch keine Antwort.


    Schlußendlich zeugt auch die Tatsache, dass es fast 50 Jahre gedauert hat, bis diese Protokolle überhaupt von Autoren aufgearbeitet wurden, obwohl es sich doch um hochbrisante Dokumente handeln sollte, nicht gerade von wirklicher, historischer Authentizität.

  • Dennoch hätte man sie beispielsweise in den Nürnberger Prozessen als Beweismaterial anbringen können, um die Wehrmacht als verbrecherische Organisation zu deklarieren. (was nicht geschehen ist)


    Stattdessen wurde nur das Oberkommando der Wehrmacht zur Rechenschaft gezogen.

  • Hallo Moloko :wave


    Ich habe natürlich anhand der Rezis und Kommentare bei Amazon erkennen können, dass dieses Buch umstritten ist. Alles andere hätte mich angesichts des Themas auch gewundert. Neben dem empörten Aufschrei einiger Ewiggestriger, bei denen sich die Verklärung der Wehrmacht mit relativ offenem Antisemitismus verbindet, gibt es durchaus diskutable Kritik an der Interpretationsweise der Autoren, über die ich mir Gedanken mache. Das halte ich für einen normalen wissenschaftlichen Vorgang. Allerdings hat nichts davon meine positive Einschätzung dieser Arbeit grundsätzlich erschüttert.


    Zitat

    Original von Moloko
    Bei diesen Abhörprotokollen stellt sich die Frage, wie ernst man sie nehmen sollte.


    Diese Frage stellen auch die Autoren, indem sie zur Debatte stellen, wie weit den Abgehörten bewusst war, dass sie belauscht wurden, und welche Konsequenzen dies für die abgehörten Gespräche in Bezug auf ihren Wahrheitsgehalt hätte. Dass jemand deshalb fälschlicherweise Kriegsverbrechen erfand und sich in Gefahr brachte, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden, scheint mir eine abenteuerliche Theorie.


    Die Autoren halten viele Aussagen für übertrieben, werten sie als Angeberei, was aber für die Intention des Buches nicht entscheidend ist, da es nicht darum geht, Kriegsverbrechen zu belegen, sondern den Geist, der solche Gräuel ermöglicht hat, zu thematisieren.


    Zitat

    Von vielen Seiten wird dieses Buch wegen seinen äußerst unwissenschaftlichen Schlussfolgerungen kritisiert. Man hat aus 150000 Seiten Aufzeichnungen die schlimmsten herausgefischt - Eine Best-Of sozusagen - und diese ohne jegliche Überprüfung übernommen und kommentiert. Ob es sich um Tatsachen handelt (die oftmals durchaus überprüfbar wären) oder ob es sich nur um Lügengeschichten bzw. Übertreibungen handelt, darauf gibt dieses Buch keine Antwort.


    Ich kann nicht beurteilen, ob wirklich nur die schlimmsten Aussagen herausgestellt wurden, da ich - wie vermutlich auch die meisten Kritiker - die 150000 Seiten nicht durchgelesen habe. Und wie sollte nach all den Jahren, die kaum einer der Abgehörten überlebt haben dürfte, eine Überprüfung möglich sein? Natürlich kann man die Protokolle als Zeitdokument deshalb in Bausch und Bogen ablehnen - aber welchem ideologischen Ansatz nützt das? Wie schon oben gesagt, ist es für die Aussage dieses Buches unwichtig, herauszufinden, ob Soldat XY einer Erschießung von Juden in Dünaburg persönlich beigewohnt hat oder nicht - sechs Millionen Juden sind der nationalsozialistischen Mordmaschinerie zum Opfer gefallen, daran gibt es keinen Zweifel, und das Buch versucht sozialpsychologisch zu ergründen, unter welchen Bedingungen dieses unfassbare Verbrechen möglich war. Mögliche Lügengeschichten und Übertreibungen ändern im Kern nichts am historisch nachweisbaren Grauen.


    Zitat

    Schlußendlich zeugt auch die Tatsache, dass es fast 50 Jahre gedauert hat, bis diese Protokolle überhaupt von Autoren aufgearbeitet wurden, obwohl es sich doch um hochbrisante Dokumente handeln sollte, nicht gerade von wirklicher, historischer Authentizität.


    Wie Beo ganz richtig schrieb, wurden diese Dokumente jahrzehntelang unter Verschluss gehalten. Sie wurden erst 1996 freigegeben und verstaubten selbst danach weiter in den Archiven, bis Sönke Neitzel mehr oder weniger durch Zufall 2001 darauf aufmerksam wurde und mit der Aufarbeitung begann. Da so ein Projekt Geldgeber und viel Zeit braucht, vergingen weitere Jahre bis zur Veröffentlichung erster Ergebnisse.


    LG harimau :wave


    Edith hat auf maikaefers Hinweis einen überflüssigen Vokal gelöscht. ;-)

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von harimau ()

  • Zitat

    Original von Moloko
    Dennoch hätte man sie beispielsweise in den Nürnberger Prozessen als Beweismaterial anbringen können, um die Wehrmacht als verbrecherische Organisation zu deklarieren. (was nicht geschehen ist)


    Ich zitiere den letzten Absatz des Buchtextes:


    "Der Aufwand hatte sich zweifelsohne gelohnt, und die Allierten wussten nur zu gut, dass sie ein sehr effizientes System der Human Intelligence aufgebaut hatten. Dies war im Übrigen auch der Grund dafür, die Akten nicht bei den Kriegsverbrecherprozessen zu verwenden. Die eigenen Methoden der Nachrichtengewinnung sollten auf gar keinen Fall bekannt werden."

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann