'Doktor Schiwago' - 2. Buch - Die Ankunft bis Waldwehr

  • Nachdem die Reise überstanden ist, sind nicht nur die Umgebung, sondern auch die Gewonheiten der Menschen für Jurij fremd. Er muss sich an die neue Situation noch gewöhnen und lehnt sich mit seinen Äußerungen sehr weit aus dem Fenster, dessen ist er sich aber selbst bewusst.


    Zitat

    Eine Wissenschaft soll der Marxismus sein? ... Der Marxismus hat sich viel zu wenig selbst in der Hand, um eine Wissenschaft zu sein. Wissenschaften sind ausgeglichener. Marxismus und Objektivität? Ich kenne keine einzige geistige Strömung, die sich mehr in sich selbst verkriecht und weiter von den Fakten entfernt ist als der Marxismus. Jeder Mensch ist doch selbst bestrebt, sich an der Erfahrung zu prüfen, die Machtmenschen aber wenden sich mit aller Kraft von der Wahrheit ab, weil sie von dem Märchen ihrer eigenen Unfehlbarkeit überzeugt sind. Die Politik sagt mir nichts. Ich mag Menschen nichts, denen die Wahrheit gleichgülltig ist.


    Es ist erstaunlich, wie alle in Tonja sofort ihre Verwandschaft zu den Krügers sehen.


    Zitat

    Ich fürchte, wir werden hier mehr auffallen als in Moskau, von wo wir geflohen sind, um die Unauffälligkeit zu suchen.


    So ist es auch verständlich, dass die Mikulizyns alles andere als erfreut über die Neuankömmlinge sind. In Samdewjatow haben sie einen mächtigen Unterstützer, und das iist wohl auch auch der Grund, der die Mikulizyns überzeugt, die Schiwagos aufzunehmen.


    Dann trifft Schiwago Lara wieder und erfährt, das Strelnikow ihr Ehemann ist. Als Schiwago noch einmal auf dem Weg zu Lara war, wir er von Partisanen zwangsmobilisiert, weil der Feldscher der Abteilung gefallen war.


    Diese Gefangenschaft, die ja eher recht freizügig war, denn Fluchversuche wurden zwar vereitelt, aber nicht bestraft, zieht sich über mehrere Jahre hin. Immer noch wird gegen die Weißen gekämpft.

  • Oh weh, habe ich wirklich vergessen, etwas über diesen Abschnitt zu schreiben... :wow
    Wo ich doch schon durch den nächsten durch bin. Ich hatte mir eingebildet, ich hätte :gruebel



    Zitat

    Original von Karthause
    ...
    Es ist erstaunlich, wie alle in Tonja sofort ihre Verwandschaft zu den Krügers sehen.


    Ich denke auch, dass sie hier mehr auffallen werden, aber die bessere Versorgung der Familie wird sicher die zusätzliche Gefahr aufwiegen. Sie werden hier nicht verhungern oder erfrieren.


    Zitat

    So ist es auch verständlich, dass die Mikulizyns alles andere als erfreut über die Neuankömmlinge sind. In Samdewjatow haben sie einen mächtigen Unterstützer, und das iist wohl auch auch der Grund, der die Mikulizyns überzeugt, die Schiwagos aufzunehmen.


    Wer rückt schon gerne zusammen...
    Die Begrüßungsworte durch die Mikulizyns fand ich dann doch allerdings stark. Daraus spricht schon so etwas wie Angst, dass man durch die Ankunft der Schiwagos Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnte und teilen müsste oder Sympathien vermutet werden könnten, wo doch keine sind.


    Zitat

    Dann trifft Schiwago Lara wieder und erfährt, das Strelnikow ihr Ehemann ist. Als Schiwago noch einmal auf dem Weg zu Lara war, wir er von Partisanen zwangsmobilisiert, weil der Feldscher der Abteilung gefallen war.


    Diese Gefangenschaft, die ja eher recht freizügig war, denn Fluchversuche wurden zwar vereitelt, aber nicht bestraft, zieht sich über mehrere Jahre hin. Immer noch wird gegen die Weißen gekämpft.


    Die Zuständ bei den Partisanen sind alles andere als rosig, aber Jurij fügt sich, für mich bemerkenswert drein, mal abgesehen von missglückten Fluchtversuchen.

  • Die Ankunft


    Es häuft sich ja jetzt doch ein bisschen, Seite 298 zum Beispiel: „Der Marxismus zeigt zu wenig Selbstbeherrschung, um eine Wissenschaft zu sein.“ Das ist heftig. Ziemlich heftig. Nicht für mich, nebenbei bemerkt. Aber bei einigen anderen, da wäre ich mir denn doch nicht so sicher. Auch was er da noch sagt oder an anderen Stellen, meine Verneigung. Allerdings haben sich einige (oder viele) andere sich so ihre Gedanken gemacht. Wahrscheinlich weniger über Doktor Schiwago als vielmehr über Herrn Pasternak.


    Die Schiwagos haben jedenfalls zwei rettende Enge mehr oder weniger an ihrer Seite: Jurijs Bruder und Samdewjatov. Da mag einem wohl nicht allzu bange werden, auch wenn die bedrohlichen Schatten da sind. Man sieht ihnen die „besitzende Klasse“ vielleicht zu sehr, vor allen Dingen aber Tonja ihre Herkunft an.


    Seite 306: Ich hatte ja schon so meine Zweifel, aber ja, er ist da. Der kleine Sohn, meine ich. Ein braves Kind. Auf der beschwerlichen Reise hat man ihn überhaupt nicht ge- und bemerkt.


    Ein zweiter Moment zum Schmunzeln fand sich für mich auf Seite 313: Verwalter und Verwalterfrau. Oder umgekehrt, je nachdem. Er ist ein Mensch, der früher „Pirat“ geworden wäre. Und heute?: „Student“, „Lehrer“, „idealistischer Träumer“. Na, wenn das keine Weiterentwicklung ist... :-)


    Die Hinweise, wer Strelnikov wirklich ist, verdichten sich mehr und mehr.



    Warykino


    Einige Tagebuchaufzeichnungen Jurijs. Bauliche und gärtnerische sowie hausfrauliche Erfolge werden notiert. Die mich, gerade was Tonja anbelangt, nicht sonderlich überraschen. Eine meiner Großmütter, die „in Stellung“ bei einer Familie war, die zu dem gehörte, was man wohl als „Landadel“ bezeichnete, berichtete, dass die Frau des Hauses sehr genau zu wissen hatte, was wie zu funktionieren hatte. Schon, um die Dienerschaft besser beaufsichtigen zu können.
    Interessant fand ich die Lektüre, die sie sich vornehmen. Puschkin, gut, das erwartet man ja fast, aber auch Kleist (Seite 323). Dass Pasternak neben Goethe auch Kleist ins Russische übertrug, war mir zwar bekannt, ich meine, Kopelew hat (mich) darauf aufmerksam gemacht. Der von mir schon erwähnte Reinhard Lauer weist in seiner „Geschichte der russischen Literatur, Seite 798) darauf hin, dass es durchaus intertextuelle Bezüge besonders zu Kleist gebe. Was mir allerdings nicht so sonderlich weiterhilf, denn ich kenne Kleist nicht gut und vor allen Dingen vollständig genug, um da fündig zu werden. Ich mühe mich schon redlich genug, die Faust-Bezüge zu finden. Obwohl ich mir einbilde, diesbezüglich nicht ganz erfolglos zu sein.
    Seite 327 fällt mir der Name „Faust“ jedenfalls zum ersten Mal bewusst auf. „Werd ich zum Augenblicke sagen ...“, in gewisser Weise gilt das auch für Jurij, vielleicht nicht ganz so konsequent, nicht ganz so freiwillig wie bei Faust. Und auch, wenn er solche Sehnsucht nach dem einfachen, ländlichen Leben hat, aber diese Sehnsucht resultiert ja letztlich aus den „revolutionären Gegebenheiten", dem Krieg etc. Jurij ist aber doch auch ein Suchender. Sein Geist steht nicht still. Er hat Wünsche, er möchte eine gewisse Bedeutung haben, er wünscht, was er sich vielleicht nicht wünschen sollte. Und gibt Dinge von sich, die zwar richtig sind, die man aber in „unsicheren Zeiten“ besser nicht allzu laut sagt.


    Jurijs Worte (Seite 323) über Schwangere/Gebärdende sind nicht nur die eines Ehemannes oder eines Arztes, es sind auch die eines Dichters. Man merkt an seinen Worten, welch tiefen Respekt er vor Tonja ja.


    Es gibt einen Hinweis, dass Jurij Herzbeschwerden hat. Dazu die Aufregungen, der in Moskau erlittene Hunger, die harte, im Grunde ungewohnte körperliche Arbeit... Man möchte ihm raten, einen Arzt zu konsultieren und auf dessen Rat zu hören. Aber würde er das tun? Ich für meinen Teil habe jedenfalls nicht den Eindruck, dass er mit aller Macht, mit jeder Faser seines Körpers am Leben klebt. Er nimmt das hin, was ihm gegeben wird, mag es gut, mag es schlecht sein. Er nimmt es auch hin mit Freude oder mit Trauer. Und wenn es zu Ende ist … seine Worte gegenüber der Schwiegermutter (damals in spe, Seite 80 f.) galten nicht nur ihr, glaube ich.


    Seite 331 kam ich aber ins Grübeln: Tonja soll mehr Zeit für die Erziehung von „Jura“ haben. Hab ich etwas überlesen? Will sie ihren Mann erziehen? Heißt das Kind nicht mehr Sascha? Wurde der Vatername als „jetziger“ Vorname genommen? Druckfehler?


    Jurjatino, der Name klingt verdächtig nach Antipova. Und natürlich, in der kleinen Stadt wird man sich nicht aus dem Weg gehen können. Die Gespräche zwischen Jurij und Lara sind zwar nicht sonderlich überraschend, aber doch aufschlussreich. Laras Worte (Seite 345, 346) gehen in dieselbe Richtung wie die von Gordon etliche Seiten vorher. Sie lassen mich einigermaßen frustriert und auch ein bisschen wütend zurück. Mehr mag ich dazu nicht sagen.


    Jurij wird Tonja untreu. Und er wird „zwangsrekrutiert“. Nicht, dass ich damit sagen will, dass das in irgendeinem Zusammenhang steht. Oder doch?



    Auf der Großen Straße


    Das Urteil zur Ablehnung von „Doktor Schiwago“ lautete unter anderem auf „Verrat am Volk“. Das kann man sehr gut nachvollziehen bei vielen Worten, die nicht nur in diesem Kapitel zu lesen sind. Wie schon gesagt, es häuft sich jetzt doch. Vermutlich wiederspiegelt sich da auch die Gedankenlage Pasternaks, so dass die Zensoren gar so unrecht – aus ihrer Sicht natürlich – nicht hatten.


    @Für die, die den Film gesehen haben:
    Kommt dergleichen eigentlich auch im Film vor? Wird dort auch die Kritik deutlich, die Pasternak übt? Oder konzentriert es sich ausschließlich auf die Liebesgeschichte?


    Was in diesem Kapitel berichtet wird, ist interessant, keine Frage. Aber ich merke doch, wie sehr mir der geschichtliche Hintergrund fehlt. Einiges einzusortieren fällt mir nicht leicht, ich muss sehr aufpassen, um nicht durcheinander zukommen. Wobei natürlich nicht sonderlich förderlich ist, dass Begriffe wie „Kommissare“ allzu oft hie wie da verwendet wurden. Aber egal, wie das Hin und Her sich nun darstellte, für die Bevölkerung war die Situation schlimm, sehr schlimm. Sie war immer dafür da zu büßen, egal für was, egal für wen.



    Waldwehr


    Partisanenführer Liberij ist kokainsüchtig. Wieso überrascht mich das eigentlich nicht?


    Eigentlich schön, dass man manche Leute immer wieder trifft, diesmal (Seite 378) die im Vorigen als „schöne und üppige“ Frau bezeichnete Tjagunóva. Man ist doch immer gerne darüber informiert, wie es mit den Menschen weitergeht, die man kurz kennengelernt hat. Aber wäre es nicht der Fall, würde es ja im Grunde nur wiederspiegeln, was damals allzu oft die Regel war, Leute verschwanden und tauchten nie wieder auf.


    Erstaunlich finde ich trotz der klaren Worte, die Jurij immer wieder findet, wie sehr er doch den „Weißen“ seine Sympathien schenkt: „Fast alle kamen aus Familien, die ihm geistig nahestanden. Sie waren erzogen wie er und ihm verwandt in ihrer moralischen Haltung und ihren Vorstellungen.“ (Seite 381). Das klang auch schon einmal ganz anders.

  • Zitat

    Original von Lipperin
    @Für die, die den Film gesehen haben:
    Kommt dergleichen eigentlich auch im Film vor? Wird dort auch die Kritik deutlich, die Pasternak übt? Oder konzentriert es sich ausschließlich auf die Liebesgeschichte?


    Die von mir weiter vorn erwähnte Szene, als Soldaren auf Demonstranten geschossen haben, war schon recht deutlich. Auch die Gegenüberstellung des Reichtums und der Armut blieb mir in Erinnerung. Das Geklüngel, als der versuchte Suicid von Laras Mutter vertuscht werden soll, damit Komarowskis Weste sauberbleibt. Die fanatische, aber irgendwie aus rechtschaffender, sauberer Seele kommende Begeisterung des jungen Pawel gegen die perfide Ausgebufftheit eines Komarowski.
    Später dann Jurijs und Laras sprechende Blicke, die sie tauschen, als Laras Tochter erzählt, was sie über den Zaren lernt, und wie gut es sei, dass der Verbrecher endlich tot sei. Das habe ich so verstanden, dass der Zar zwar - darin unterscheidet er sich wohl nicht maßgeblich von den anderen Herrschern dieser Zeit - einer Diktatur vorstand, ungerechtfertigte Urteile duldete und wenig von der Armut seines Volkes wusste, aber dass er die Hinrichtung auf die erfolgte Art dann doch nicht verdient habe. Also, dass das die Gedanken von Lara und Jurij waren, die Pasternak ihnen in den Kopf setzte. Ich meine sogar, mich zu erinnern, dass Jurij sagte, dass der Zar es halt nicht besser wusste. Aber ich bin mir da nicht sicher. Habe den Film zwar mehrmals gesehen, es ist aber natürlich nicht alles so genau hängen geblieben.
    Hilft dir das weiter oder habe ich deine Frage falsch verstanden?

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Zitat

    Original von Lipperin
    @Für die, die den Film gesehen haben:
    Kommt dergleichen eigentlich auch im Film vor? Wird dort auch die Kritik deutlich, die Pasternak übt? Oder konzentriert es sich ausschließlich auf die Liebesgeschichte?


    Ich habe den Film ja erst kürzlich gesehen. Der konzentriert sich vor allem auf die beiden Liebesgeschichten, auch nach Aussage des Regissers David Lean. Die politischen Implikationen des Buches wurden weitgehend bis vollständig weggelassen.


    Zitat

    original von maikaefer
    Ich meine sogar, mich zu erinnern, dass Jurij sagte, dass der Zar es halt nicht besser wusste.


    Das sagte er zu Laras Tochter, als die aus der Schule kam und gerade gelernt hatte, daß der Zar ein Feind des Volkes gewesen sei, und er (Jurij) irgendetwas darauf antworten mußte.


    Die einzig (in meiner Erinnerung) richtig politische Stelle kommt gegen Ende des Filmes, [sp]als Komarovski auseinandersetzt, weshalb Lara fliehen sollte, was zur Trennung Lara - Schiwago führt.[/sp]

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Die Ankunft


    Da mußte ich erst mal lächeln, als Tonja meinte, an Samdewjatovs Vatersnamen könnte man sich die Zunge brechen. Also ich persönlich finde „Jefimowitsch“ deutlicher leichter aussprechbar als „Samdewjatov“. Aber nun ja.


    So wie ich seinerzeit im „Stillen Don“ instinktiv dauernd nach pro-sowjetischen Stellen gesucht habe, geht es mir hier umgekehrt beim „Schiwago“. Und es beschleicht mich das Gefühl, daß solche so langsam vermehrt im Buch auftauchen. Z. B. Kapitel 4 (S. 308):
    Marxismus und Wissenschaft? Hierüber mit einem Menschen zu diskutieren, den man wenig kennt, wäre zum mindesten unklug. Wie dem auch sei: der Marxismus zeigt zuwenig Selbstbeherrschung um eine Wissenschaft zu sein. (...)
    Das ist natürlich ein Schlag ins Kontor...


    und wenn es bisher noch Zweifel gab, wer Strelnikov ist, am Ende dieses Großkapitels ist es Sonnenklar: Pawel Antipov, also der Mann Laras, ist Strelnikov.



    Zitat

    Original von Karthause
    Es ist erstaunlich, wie alle in Tonja sofort ihre Verwandschaft zu den Krügers sehen.


    Ja, das verwundert mich auch immer wieder. Anscheinend besteht eine große Familienähnlichkeit. Um so erstaunlicher, daß sie dann beschließen zu bleiben.



    Zitat

    Original von Clare
    Die Zuständ bei den Partisanen sind alles andere als rosig, aber Jurij fügt sich, für mich bemerkenswert drein, (...)


    Ja, das wundert mich auch immer wieder aufs Neue: wie leicht sich Schiwago, eigentlich die ganze Familie, in die neuen Umstände fügt. Das ist etwas, was mir bis zu einem gewissen Grade unglaubwürdig erscheinen will.



    Zitat

    Original von Lipperin
    Ein zweiter Moment zum Schmunzeln fand sich für mich auf Seite 313: Verwalter und Verwalterfrau. Oder umgekehrt, je nachdem. Er ist ein Mensch, der früher „Pirat“ geworden wäre. Und heute?: „Student“, „Lehrer“, „idealistischer Träumer“. Na, wenn das keine Weiterentwicklung ist...


    Na ja, und zweihundert Jahre früher wäre er dann wohl Jack Sparrow geworden. :chen („Der Fluch der Karibik“)



    Warykino


    Nun erfahren wir also mehr über die Gedankenwelt Schiwagos aus seinem Tagebuch. Relativ bald zu Beginn sind mir seine Gedanken, woher sie ihren Lebensunterhalt bestreiten, aufgefallen:


    Nur zu einem geringen Teil leben wir dank unserem Gemüse und unserer Kartoffeln von unserer Hände Arbeit. Alles übrige kommt aus einer anderen Quelle.
    Unsere Nutznießung der Erde ist ungesetzlich. Durch einen eigenmächtigen Eingriff haben wir sie der offiziellen Kontrolle des Staates entzogen ...


    Das „gesetzlich“ und „ungesetzlich“ ist in solchen Zeiten ja nicht unbedingt festgeschrieben, sondern eine Frage der gerade herrschenden Verhältnisse und der Auslegung. Was hätten sie sonst tun sollen? Freiwillig verhungern?


    Was mich hier wieder wundert ist, wie widerspruchslos sie sich in die Situation fügen. Vor kurzem noch im Herrenhaus gewohnt, geben sie sich jetzt ohne irgendwelche Umstände mit einer zunächst wohl halbverfallenen Gesindewohnung zufrieden. Und woher beherrschen sie eigentlich die notwendigen Handwerke, den Gemüseanbau und all die anderen Dinge, die sie zum Überleben brauchen? ich glaube kaum, daß Jurij oder Tonja früher mit solchem viel zu tun hatten - und auf einmal geht das alles?! An dem Punkt konnte mich Pasternak nicht so richtig überzeugen, das ist in meinen Augen eine Lücke im Plot. Oder habe ich etwas überlesen?


    Und dann kommt es hammerhart. Zum Nachdenken, meine ich.


    Kap. 14 (S. 353): ein Mensch, der nur noch als Vertreter eines bestimmten Typus angesehen werden kann, ist am Ende - verurteilt und verdammt!
    Und drei Absätze weiter:
    Es hat sich herausgestellt, daß die Führer der Revolution nichts auf der Welt so sehr lieben wie das Chaos und den dauernden gewaltsamen Wechsel. Sie fühlen sich da in ihrem Element ... (weiter den ganzen Absatz).


    Der Mensch wird geboren, um zu leben und nicht etwa, um sich auf das Leben vorzubereiten.
    Ein Satz mit für meine Meinung zeitloser Gültigkeit; heute mindestens so sehr wie damals.



    Zitat

    Original von Lipperin
    Die mich, gerade was Tonja anbelangt, nicht sonderlich überraschen. Eine meiner Großmütter, die „in Stellung“ bei einer Familie war, die zu dem gehörte, was man wohl als „Landadel“ bezeichnete, berichtete, dass die Frau des Hauses sehr genau zu wissen hatte, was wie zu funktionieren hatte. Schon, um die Dienerschaft besser beaufsichtigen zu können.


    Da hast du natürlich auch wieder recht, ist mir auch in anderen Büchern sinngemäß begegnet. Nur heißt das dann, daß sie es auch selbst tun kann?



    Zitat

    Original von Lipperin
    Und gibt Dinge von sich, die zwar richtig sind, die man aber in „unsicheren Zeiten“ besser nicht allzu laut sagt.


    Wir wir gerade durch die Enthüllungen über NSA lernen, sollte man solches wohl auch in angeblich „sicheren“ Zeiten wie den unseren nicht von sich geben. Die Gedanken mögen frei sein, die Meinungsfreiheit garantiert. Nur mit der Meinungsäußerungsfreiheit ist das so eine Sache geworden.



    Zitat

    Original von Lipperin
    Seite 331 kam ich aber ins Grübeln: Tonja soll mehr Zeit für die Erziehung von „Jura“ haben.


    Meine Ausgabe hat andere Seitenzahlen, ich habe die Stelle jetzt nicht gefunden. Allerdings wird der Sohn Schiwagos in seinem Tagebuch einmal mit „Schurotschka“ bezeichnet. (Kap. 5, 3. Absatz, bei mir S. 336).



    Zitat

    Original von Lipperin
    Jurij wird Tonja untreu. Und er wird „zwangsrekrutiert“. Nicht, dass ich damit sagen will, dass das in irgendeinem Zusammenhang steht. Oder doch?


    Einen kausalen Zusammenhang gibt es sicher nicht. Aber er hat die Entscheidung, Tonja zu beichten, verschoben - und gerät prompt in die Hände der Partisanen. Damit ist diese Beichte erst mal auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben.


    Und wieder wundert mich (oder wundert es mich schon nicht mehr?), wie ruhig und gelassen er das hinnimmt. Kein Aufbegehren, nichts.



    Zum Rest des Abschnitts, wenn ich ihn gelesen habe.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von SiCollier



    Ja, das wundert mich auch immer wieder aufs Neue: wie leicht sich Schiwago, eigentlich die ganze Familie, in die neuen Umstände fügt. Das ist etwas, was mir bis zu einem gewissen Grade unglaubwürdig erscheinen will.


    Mir eigentlich nicht. Einerseits meine ich herausgelesen zu haben, dass Jurij durchaus gläubig war, er also zwar einerseits seine (besonders gedankliche) Eigenständigkeit bewahrte, andererseits aber auch einen höheren Willen hätte akzeptieren können. Wie weit dieser hätte gehen können, darüber äußert er sich leider nicht. Das wäre der Punkt gewesen, der mich brennend interessiert hätte.
    Was hätten sie aber andererseits machen sollen? Sie werden mitbekommen haben, dass Auflehnung nichts brachte, eher noch größere Repressalien nach sich zog. Und wann hätten sie denn in Freiheit gelebt? Sie waren das Befolgen von Anordnungen ja gewohnt. Außerdem meine ich, dass Pasternak uns nicht alles erzählt. Ich glaube, er hat hauptsächlich für den russischen Leser geschrieben - so lange er am Roman schrieb -, er durfte vielleicht anderes Wissen und Nachvollziehen erwarten als das bei uns der Fall ist.



    Zitat

    Original von Lipperin
    Die mich, gerade was Tonja anbelangt, nicht sonderlich überraschen. Eine meiner Großmütter, die „in Stellung“ bei einer Familie war, die zu dem gehörte, was man wohl als „Landadel“ bezeichnete, berichtete, dass die Frau des Hauses sehr genau zu wissen hatte, was wie zu funktionieren hatte. Schon, um die Dienerschaft besser beaufsichtigen zu können.


    Zitat

    Da hast du natürlich auch wieder recht, ist mir auch in anderen Büchern sinngemäß begegnet. Nur heißt das dann, daß sie es auch selbst tun kann?


    Ja. Zumindest bei einigen Familien. Meine Großmutter berichtete oft und oft, wie sehr sich die jungen Damen davor ekelten, beispielsweise ein Huhn auszunehmen oder einen Fisch zu schuppen.



    Zitat

    Original von Lipperin
    Und gibt Dinge von sich, die zwar richtig sind, die man aber in „unsicheren Zeiten“ besser nicht allzu laut sagt.


    Zitat

    Wir wir gerade durch die Enthüllungen über NSA lernen, sollte man solches wohl auch in angeblich „sicheren“ Zeiten wie den unseren nicht von sich geben. Die Gedanken mögen frei sein, die Meinungsfreiheit garantiert. Nur mit der Meinungsäußerungsfreiheit ist das so eine Sache geworden.


    Na ja, aber unsereiner wird nicht gleich ins Lager geschickt oder mehr oder weniger standrechtlich erschossen. Ich hoffe ja mal, dass das auch so bleibt.



    Zitat

    Original von Lipperin
    Jurij wird Tonja untreu. Und er wird „zwangsrekrutiert“. Nicht, dass ich damit sagen will, dass das in irgendeinem Zusammenhang steht. Oder doch?


    Zitat

    Einen kausalen Zusammenhang gibt es sicher nicht. Aber er hat die Entscheidung, Tonja zu beichten, verschoben - und gerät prompt in die Hände der Partisanen. Damit ist diese Beichte erst mal auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben.


    Nun, wäre er nicht immer wieder in die Stadt geritten, hätte er nicht überlegen müssen, dass er vielleicht umkehren will, hätten ihn die Partisanen nicht dann mobilisiert, sondern vielleicht später, wäre es dann dieselbe Geschichte gewesen? Ach egal. :grin



    Edit gibt mir mehr als deutlich zu verstehen, dass ich die Zitiererei immer noch nicht gelernt habe ...

  • Zitat

    Original von Lipperin
    Außerdem meine ich, dass Pasternak uns nicht alles erzählt. Ich glaube, er hat hauptsächlich für den russischen Leser geschrieben - so lange er am Roman schrieb -, er durfte vielleicht anderes Wissen und Nachvollziehen erwarten als das bei uns der Fall ist.


    Das ist wohl wahr und dürfte auf viele Romane zutreffen, vor allem solche, die in einem System wie der ehemaligen UdSSR entstanden sind.



    Zitat

    Original von Lipperin
    Ja. Zumindest bei einigen Familien. Meine Großmutter berichtete oft und oft, wie sehr sich die jungen Damen davor ekelten, beispielsweise ein Huhn auszunehmen oder einen Fisch zu schuppen.


    Nicht nur „junge Damen“. Meine Mutter stammt von einem Bauernhof in der Rhön. Aber wenn es ans Schlachten ging, war sie weit und breit nirgends zu sehen (wenn ich den Erzählungen glauben darf).



    Zitat

    Original von Lipperin
    Na ja, aber unsereiner wird nicht gleich ins Lager geschickt oder mehr oder weniger standrechtlich erschossen. Ich hoffe ja mal, dass das auch so bleibt.


    Stimmt. Daß Letzteres so bleibt, denke ich schon. Aber bei Ersterem bin ich mir auf Grund der aktuellen Entwicklungen in der westlichen Welt nicht mehr so sicher, wie ich es einmal war.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von SiCollier


    Nicht nur „junge Damen“. Meine Mutter stammt von einem Bauernhof in der Rhön. Aber wenn es ans Schlachten ging, war sie weit und breit nirgends zu sehen (wenn ich den Erzählungen glauben darf).


    Da hab ich mit Deiner Mutter etwas gemeinsam. :grin Was habe ich das gehasst! Und das Federrupfen... :-(


    Was ich noch bemerkt haben wollte: Die jungen Damen mussten diese Tätigkeiten nicht beherrschen, sondern "nur" können und gelernt haben sie es eben in der Praxis. Ich möchte auch gar nicht wissen, wie viel bei Tonja und ihren Helfern anfangs nicht geklappt hat.



    Zitat

    Original von Lipperin
    Na ja, aber unsereiner wird nicht gleich ins Lager geschickt oder mehr oder weniger standrechtlich erschossen. Ich hoffe ja mal, dass das auch so bleibt.


    Stimmt. Daß Letzteres so bleibt, denke ich schon. Aber bei Ersterem bin ich mir auf Grund der aktuellen Entwicklungen in der westlichen Welt nicht mehr so sicher, wie ich es einmal war.


    :yikes

  • @ Lipperin


    Deine Reaktion ist mir schon klar, aber bei den ganzen Enthüllungen die letzten Monate, wie sehr wir überwacht werden, wie wenig von den Geheimdiensten (staatliche Stellen!) Gesetze beachtet werden - zu welch anderem Schluß kann man da kommen?


    Ich sehe mir derzeit die Serie "Continuum" an. Die (düstere) Zukunft, wie sie dort beschrieben wird, nimmt derzeit ihren Anfang. Eine Serie, in der nicht klar ist, wer die Guten und wer die Bösen sind. Denn die "Bösen" verfolgen Ziele wie persönliche Freiheit - gegen einen allesüberwachenden Staat und Konzerne.


    Wenn ich die Serie fertig habe, schreibe ich vielleicht eine Rezi hier im Forum.
    .

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Auf der Großen Straße


    Der restliche Teil dieses Abschnitts ist in meinem Kopf jetzt zu einer Einheit verschmolzen. Hier in diesem Kapitel steckt auch nur ein Zettel, nämlich gegen Ende von Kapitel 6 (S. 381):
    Man kann nicht gewaltsam eine staatliche Ordnung gründen, wie man Zaunpfähle einrammt. Das eben war der Fehler, den die Jakobiner mit ihrer Diktatur begingen und der zum Sturz Robbespierres führte.
    Wohl wahr. Nur wenn man sich die Geschichte so ansieht, hat sich daran seither nicht viel geändert.



    Zitat

    Original von Lipperin
    Das Urteil zur Ablehnung von „Doktor Schiwago“ lautete unter anderem auf „Verrat am Volk“. Das kann man sehr gut nachvollziehen bei vielen Worten, die nicht nur in diesem Kapitel zu lesen sind. Wie schon gesagt, es häuft sich jetzt doch. Vermutlich wiederspiegelt sich da auch die Gedankenlage Pasternaks, so dass die Zensoren gar so unrecht – aus ihrer Sicht natürlich – nicht hatten.


    Ja, das scheint mir auch so. Im Verlauf dieses Leseabschnitts sind mir zunehmend Stellen aufgefallen, die den Offiziellen wohl auch aufgefallen sein dürften, denen allerdings eher ungünstig.



    Zitat

    Original von Lipperin
    Aber egal, wie das Hin und Her sich nun darstellte, für die Bevölkerung war die Situation schlimm, sehr schlimm. Sie war immer dafür da zu büßen, egal für was, egal für wen.


    Das ist eine Frage, die ich mir beim Lesen immer wieder gestellt habe: wie verhält man sich eigentlich, wenn alle paar Wochen die Herrschaft, hier Rot oder Weiß, wechselt? Im einen Dorf rekrutieren die Roten, im nächsten die Weißen. Die Suppe auslöffeln müssen dann aber die Zwangsrekrutierten, wenn die anderen gewinnen. In so einer Situation kann man eigentlich immer alles nur falsch machen.



    Waldwehr


    Kap. 4, S 394, kommt dann doch die Herkunft Schiwagos zum Vorschein:
    Fast alle kamen aus Familien, die ihm geistig nahestanden. Sie waren erzogen wie er und ihm verwandt in ihrer moralischen Haltung und ihren Vorstellungen.


    Im 4. Kapitel habe ich etwas gestutzt, als da vom „90. Psalm“ die Rede war. Ich kenne den als den 91. Ein Blick in den Anhang meiner Bibel zeigt, daß beides richtig ist: im Buch wird die griechische Zählung, in der Bibel (Einheitsübersetzung) die hebräische verwendet. Aber interessant, daß ausgerechnet dieser „Schutzpsalm“ erwähnt wird.


    Aber dann, Kapitel 5(S. 399):
    Umgestaltung des Daseins! So können nur Menschen reden, die vielleicht allerlei in ihrem Leben gesehen haben, die aber kein einziges Mal das Leben wirklich begriffen, den Geist des Lebens, seine Seele empfunden haben. Für sie ist das Dasein nur roher Stoff, der durch nichts veredelt wird und leblos daliegt, um die von ihnen bearbeitet zu werden.
    Sowie etwas weiter im Kapitel 9 (S. 413):
    Die Unmenschlichkeit dieser Leute galt als ein wahres Wunder an Klassenbewußtsein; ihre Barbarei hielt man für ein Musterbeispiel proletarischer Unerschütterlichkeit und revolutionärer Gesinnung.
    Das dürfte auf die meisten (wenn nicht alle) ideologisch Verblendeten, egal welcher Richtung, zutreffen.


    Im gleichen Kapitel weiter äußert Jurij dann recht ausführlich seine Gedanken zur Revolution. Das werden wohl manche seinerzeit so gesehen haben, nur äußern durfte man es tunlichst nicht.


    Am Ende des Abschnitts wieder eine dieser häufigen Begegnungen und Verquickungen der Figuren.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Zitat

    Original von LipperinEigentlich schön, dass man manche Leute immer wieder trifft, diesmal (Seite 378) die im Vorigen als „schöne und üppige“ Frau bezeichnete Tjagunóva.


    Wobei ich für mich feststellen muss, dass das permanente Wieder-Aufeinander-Treffen von im Prinzip so wenigen Personen bei mir einen eher gekünstelten Eindruck hinterläßt. In einem so großen Land ist das doch reichlich unwahrscheinlich...

  • Die Tagebuchaufzeichnungen Schiwagos gefallen mir, sie bringen mir etwas mehr Leben in die Person, die mir sonst wie eine in eine historische Szenerie gestellte Marionette vorkommt.


    Eine Stelle, die ich mir markiert habe:


    "Was hindert mich, zu arbeiten, zu heilen und zu schreiben? Ich denke, nicht die Entbehrungen und das Wanderleben, nicht die Unsicherheit und die häufigen Veränderungen, sondern der heutzutage dominierende Geist der tönenden Phrase, der solche Verbreitung gefunden hat, diese: Morgenröte der Zukunft, Aufbau der neuen Welt, Fackel der Menschheit. Wenn man das hört, denkt man zunächst, welche Breite der Phantasie, welcher Reichtum!
    In Wirklichkeit ist das so hochtrabend infolge von Unfähigkeit."


    Das erinnerte mich plötzlich so ungemein an die unsägliche Phrasendrescherei im Staatsbürgerkunde-Unterricht...

  • Zitat

    Original von Hallorin
    Das erinnerte mich plötzlich so ungemein an die unsägliche Phrasendrescherei im Staatsbürgerkunde-Unterricht...


    Kann ich mir vorstellen.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")