Autor: Thomas R. P. Mielke
Titel: Karl der Große. Der Roman seines Lebens
744 Seiten. Ursprünglich erschienen bei Schneekluth, 1992. Mir liegt vor eine Weltbild-Lizenzausgabe aus dem Jahr 2002
Klappentext:
Vom Ebro bis zur Elbe und von der Nordsee bis nach Süditalien erstreckte sich das Reich Karls des Großen. Er galt als das Idealbild eines Herrschers: König der Franken und erster römisch-deutscher Kaiser, Weichensteller der Geschichte und Wegbereiter für Europa.
Thomas R. P. Mielkes spannende und präzise Romanbiographie zeigt die vielschichtige Persönlichkeit Karls des Großen und zeichnet ein lebendiges Bild seiner Epoche
Über den Autor:
Thomas R. P. Mielke, 1940 als Sohn eines Pastors in Brasilien geboren und in Quedlinburg und Rostock aufgewachsen, zählt heute zu den erfolgreichsten Autoren historischer Romane (»Gilgamesch, König von Uruk«, »Orlando furioso«). Für seine Romanbiographie über Karl den Großen hat Mielke nicht nur die Quellen und die Literatur studiert, sondern auch zahlreich Reisen auf den Spuren des großen Herrschers in Europa und Kleinasien unternommen. Der Autor hat vier erwachsene Kinder und lebt in Berlin.
Eigene Meinung:
Es gibt Bücher, deren Lektüre vor allem deshalb Vergnügen bereitet, weil man sich beim Lesen schon darauf freut, dazu bei den Büchereulen etwas schreiben zu dürfen. Für mich begann diese Vorfreude auf Seite 130 mit der denkwürdigen Aussage von Pippins Halbbruder Bernhard:
Zitat»Die Moslemkrieger sind die besten Reiterkämpfer seit den Hunnen unter dem Dschingis-Khan und Attila-Etzel.«
Das steht da wirklich. Und ich gebe zu, ich habe nachgeschlagen. Weil ich einfach nicht fassen konnte, daß mir so etwas in einer, laut Klappentext, »präzisen Romanbiographie« ernsthaft präsentiert wird.
Es wird. Und der Rest ist leider Gottes nicht besser.
Aber der Reihe nach. Das Buch beginnt mit der Begegnung zwischen dem zwölfjährigen Karl und Papst Stephan in den Alpen. Warum Karl im Buch sechs Jahre älter ist als gemeinhin angenommen, wurde mir nicht ganz klar, kann aber vom Autor tatsächlich beabsichtigt sein, um das Vater-Sohn-Verhältnis zu verkomplizieren oder um Karl mit Tassilo gleichaltrig zu machen. Letzterer bildet im Buch so eine Art Running Gag, dessen Pointe sich mir leider ebenso wenig erschlossen hat wie so vieles andere.
Karls Verhältnis zur Mutter Bertrada ist eng, zum Vater Pippin, der das Verhältnis zu Bertrada erst spät legalisierte, gespannt, zu seinem Bruder Karlmann von Anfang an miserabel. Karl interessiert sich für alles, und im ersten Viertel des Romans klingt es stellenweise so, als hätte er eine großartige Ausbildung erhalten, inklusive Unterricht in Griechisch (!). Im weiteren Verlauf des Buchs vergißt er das aber offenbar komplett und kann an manchen Stellen kaum lesen und nicht schreiben – während sich ein paar Seiten weiter ganze Lexikonartikel aus seinem Mund ergießen. Karl kennt offenbar jede »Irminsul« in ganz Europa und kann aus dem Stegreif einen Typen namens Kosmas Indikopleustes zitieren, hat aber vier Jahre nach Regierungsantritt noch immer keine Ahnung, was eigentlich sein eigenes Unterschriftszeichen bedeutet. Und so weiter. Logische Zusammenhänge – oder überhaupt Zusammenhänge - sind nicht die Stärke des Autors.
Obwohl das Buch zu einem großen Teil aus Karls Perspektive geschrieben ist, bleibt die Motivation für seine Handlungen häufig völlig unklar. Er bewundert die Sachsen für ihren Freiheitsdrang, liebt die alte Sagenwelt der heidnischen Germanen, zeigt sich selten als besonders gläubig und mißtraut im Grunde den Kirchenfürsten einschließlich dem Papst. Trotzdem sagt er »Ich will den Gottesstaat« und hält gegen den Willen seiner Gefolgsleute bedingungslos zum Papst. - Wieso? Wen juckt's.
Als Bertrada die Ehe zwischen den Töchtern des Desiderius und den Pippin-Söhnen einfädelt, ist Karl von Anfang an dagegen. Trotzdem läßt er seine Mutter gewähren und spielt mit. -Wieso? Wen juckt's.
Auf seinen ersten Sachsenfeldzug schleppt Karl den altersschwachen Abt Sturmi mit. Niemand kann sich erklären wieso, und es wird auch nicht erklärt. Mitten im Wald fängt der Alte dann plötzlich an, von irgendwelchen Runen zu schwafeln, auf die Karl achten müsse. Und zwar über eine Seite lang. Wieso? Was bedeutet es? Warum wird darauf im gesamten Roman nicht mehr eingegangen? - Wen juckt's.
Das ganze Buch hindurch schaukelt sich eine Rivalität auf zwischen Karl und Tassilo von Baiern, bei der Tassilo regelmäßig Grund zu Hohngelächter am Karlshof gibt. Habe ich nicht so ganz verstanden, denn streckenweise ist Tassilo mit seinen Vorhaben erfolgreicher als Karl; selbst der Papst schwärmt von ihm. Trotzdem bildet Tassilo im Buch so eine Art Pausenclown, dessen bloße Erwähnung schon Anlaß zur Heiterkeit gibt und den niemand für voll nehmen kann. Bis Karl ihn dann abgesetzt hat. Da fängt er plötzlich an zu heulen und erklärt, Tassilo hätte einer der größten Herrscher Europas werden können. - Äh. WTF?
Historische Unrichtigkeiten gibt es en masse. Der (im Glossar ganz richtig als Geistlicher bezeichnete!) Adalhard ist im Roman Graf, Fergil-Virgilius, in Wahrheit schon seit Pippins Regierungszeit Bischof von Salzburg, hüpft als »Geometer« an Karls Hof herum und mutiert später zu »Vergil«, den längst verstorbenen Bischof Arbeo von Freising muß Karl wieder ausgegraben haben, damit er ihm Regensburg zeigen konnte; einige Seiten später steht plötzlich der korrekte Name Atto. Schon Karls Vater Pippin hat den (hochmittelalterlichen) Reichsapfel bei seinen Insignien, und es gibt gepanzerte Pferde, Helmbuschen und Wappen. Vor allem letztere scheinen es dem Autor angetan zu haben; heraldische Diskussionen entbrennen an den unmöglichsten Stellen: Auf Seite 299 nimmt Karl einen sechzehnjährigen Attentäter gefangen und fragt ihn gleich mal, ob der Bub denn auch ein Wappen habe. Hat er. »Ein kreuzweise gespaltenes Schild, das erste und vierte Feld gülden, mit dem Hirschgeweih meines Vaters im zweiten und dritten roten Feld, und oben ein güldener Halbmond.« - Das sind natürlich die wirklich wichtigen Fragen, die man einem Meuchelmörder stellt. Kein Wunder, daß sich, viele Seiten später, einer der Grafen während einer Diskussion über das diplomatische Verhältnis zu Byzanz beschwert: »Müßt ihr denn immer derart schwierige Probleme wälzen […] Viel schöner ist doch, daß Mönche aus dem Orient die edle Rosenblume bis zu uns gebracht haben ...«
Tja. Prioritäten.
Ein Facebook-Freund hat vermutet, es könnte sich um eine Satire handeln. Wäre immerhin eine Erklärung.
Am besten gefiel mir das Buch eigentlich zum Schluß hin, wenn Karl als verbitterter Greis durch Aachen geistert. Da lassen sich die wirren Gedankensprünge wenigstens mit Altersdemenz erklären.
Zu allem Überfluß kommen dem Autor gelegentlich seine Handlungsstränge durcheinander. Ein paar Beispiele:
Auf Seite 432 stirbt Karls Tochter Hildegard. Auf Seite 617 tanzt sie putzmunter am Königshof.
Auf Seite 178 erklärt Karl mühselig und ausführlich seinem stockbesoffenen Papa Pippin (der gerade Besuch von Harun ar-Rashid hat), Herzog Tassilo von Baiern habe eine Tochter des Langobardenkönigs, eine gewisse Luitberga, geheiratet. Etliche Jahre später, auf Seite 225 (Pippin ist inzwischen tot und Karl selbst König) arrangiert Karls Mama Bertrada dieselbe Ehe noch einmal: "Herzog Tassilo von Baiern soll die älteste Langobardenprinzessin namens Luitberga heiraten." - Ich hoffe, Tassilo war so höflich, Bertrada, wenn sie schon mal da war, zur Feier seines nächsten Hochzeitstages einzuladen.
Auf Seite 455 will Karl etwas über die Awaren wissen. Er bräuchte nur mal zurückzublättern bis Seite 405, da hat er nämlich schon mal eine Abordnung von ihnen empfangen, deren Anführer bei dieser Gelegenheit die (prophetischen?) Worte spricht: »Mag sein, daß ihr uns immer noch für Hunnen und die Abkömmlinge von Kublai Khan (sic!) und Attila versteht (sic!), aber wir wollen wirklich nichts anderes als Frieden mit dem großen, stolzen Reich in der Mitte von Europa.«
Der letzte Satz kann auch gleich als Beispiel dienen für den Sprachstil des Romans. Oder das hier: »Karl , der auch sonst immer gern geschwommen hatte [...]« (S.436). Der Text quillt zudem über von Wiederholungen. Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen, wie oft erwähnt wurde, daß Tassilo doch mit Luitberga verheiratet sei, Karl eine »Art Kutte aus zusammengenähten Stoffstreifen« trage und Düdo (der Attentäter von Seite 299, den man allein schon wegen seines dämlichen Namens nicht vergessen würde) das Amt eines »Feuergrafen« innehat. Dazu kommen diverse Rechtschreibfehler, Wortauslassungen, Sätze an falschen Stellen.
In Summe: das Buch ist mir ein Rätsel. Ein Betriebsunfall? Hat der Verlag aufs Lektorat verzichtet oder versehentlich statt des lektorierten das unlektorierte Manuskript in Druck gegeben? Aber die Lizenzausgabe von Weltbild ist erst 2002 erschienen; da hatte das Buch schon zehn Jahre auf dem Buckel. Konnte bis dahin wirklich niemand wenigstens Kublai und Dschingis Khan aus dem Text nehmen?
Ich vergebe vier Punkte, was auf meiner Skala bedeutet: streckenweise nur mit Mühe verständlich. Und möchte ausdrücklich hinzufügen: Würde ein »Self Publisher« es wagen, so etwas abzuliefern, würde man ihn bei Amazon zu recht verbal steinigen.
Hier handelt es sich allerdings um ein Verlagsprodukt, für das offenbar andere Regeln gelten. Denn wie ich mit Entsetzen festgestellt habe, ist genau dieses Buch bei Emons zum Karlsjahr 2014 neu herausgegeben worden. Ich habe in die Leseprobe geschaut und kann zumindest schon mal sagen, daß man sich bemüht hat, den Text sprachlich aufzuhübschen. Sollten auch alle inhaltlichen Mängel beseitigt worden sein, hätte ich allerdings urheberrechtliche Bedenken, den Roman noch unter dem Namen des Autors laufen zu lassen. Dann müßte der des Lektors mindestens als Co-Autor genannt werden.